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sven1421

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15

Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:33

Episode 15: Enthüllungen im Nebel

Der morgendliche Nebel über der Londoner City schien sich nur sehr langsam zu lichten. Immer wieder krochen dicht über dem Erdboden einzelne Nebelschwaden vorüber und versperrten einem so die Sicht. Dennoch war es einem Hafenarbeiter in den frühen Morgenstunden scheinbar gelungen, vom Ufer her einen leblos dahintreibenden Frauenkörper auf dem sonst so ruhigen Wasser der Themse zu entdecken. Blitzschnell war er zur nächsten Telefonzelle geeilt und hatte den Notruf gewählt, so daß es an besagter Stelle des Flußufers schon nach einer halben Stunde nur so wimmelte von Polizei, Rettungsdienst, Tauchern, Journalie und Schaulustigen.

Binnen weniger Minuten war das menschliche Treibgut ans Ufer befördert und dort durch den Amtsarzt der Tod festgestellt worden. Der Todeszeitpunkt wurde vom dem dazugerufenen Gerichtsmediziner auf den Vorabend im Eilverfahren so zwischen 18 und 22 Uhr festgelegt, genauer ließe sich das erst nach der Obduktion der Toten feststellen. Ebensowenig konnte bei der scheinbar Ertrunkenen ein Fremdverschulden von vornherein völlig ausgeschlossen werden - auch wenn dem ersten Anschein nach alles auf einen Freitod hindeutete. Die Kleidung der jungen Frau, die von den Polizisten bereits gründlich durchsucht worden war, ließ keinerlei Rückschluß auf die Identität der Toten zu. Der einzige Anhaltspunkt, den es bei ihr gab, war jener zerknüllte Brief, den sie immer noch krampfhaft in ihrer Hand hielt. Leider war die Schrift darauf durch die mehrstündige Einwirkung des Themsewassers fast bis zur kompletten Unleserlichkeit verlaufen. Hier schien nun das Können des Labors im Yard gefragt zu sein, dessen Mitarbeiter in ähnlich aussichtslosen Fällen schon wahre Zauberkunststücke vollbracht hatten.

Jener bisher so wenig ergiebige Stand der Dinge wurde in diesem Augenblick auch dem ein wenig abseits auf einer Anhöhe stehenden und etwas verächtlich auf das bunte, ameisenähnliche Treiben seiner Leute herabschauenden Chefinspektor Wannabe mitgeteilt. Nach etwa zwei Minuten unterbrach Wannabe kopfschüttelnd mit einem Fingerschnipsen den Bericht seines Gegenüber: "Moment mal! Alles deutet also erstmal auf Selbstmord hin? Und da haben sie nichts Besseres zu tun, als mich frühmorgens um 6 Uhr aus dem Bett zu läuten? Was hab ich denn mit einer vermutlich völlig unbekannten Verrückten zu tun, die ihrem unspektakulären Leben aus freien Stücken ein Ende setzt? Das nächste Mal rufen Sie mich nur, wenn es sich um einen großen Kriminalfall handelt, verstanden?! Schließlich hab ich genug um die Ohren mit diesem Spirelli und seinen Leuten! Ich empfehle mich!" Damit machte er auf dem Hacken kehrt und lief eiligen Schrittes zu seinem bereitstehenden Wagen zurück, wo Crawler bereits auf ihn wartete.

Wannabe instruierte seinen Mitarbeiter, sofort Svensson anzurufen und herbeizubeordern. Die Tote von der Themse werde ab sofort sein neuer Fall. Wannabe sah in diesem - seiner Meinung nach geradezu raffinierten - Schachzug die Möglichkeit, praktischerweise zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen hätte er diesen lästigen kleinen Fall von seinem Tisch, und zum anderen wäre Svensson mit seinen stets achso gründlichen Ermittlungen zu sehr beschäftigt, um ihm bei seinen Ermittlungen bezüglich Spirelli und seinen dunklen Machenschaften in die Quere zu kommen. Wenn es ihm nämlich gelang, Spirelli quasi im Alleingang die Beteiligung an großangelegter Prostituation Minderjähriger und am Mädchenhandel nachzuweisen, dann konnte das seiner weiteren Karriere äußerst förderlich sein. Und diesen Ruhm wollte er natürlich auf keinen Fall teilen, schon gar nicht mit so einem abgewrackten Fastruheständler wie diesem Svensson.

In diesem Moment läutete Wannabes Handy. Er fischte das Telefon aus der Jackentasche, warf einen raschen Blick auf das Display und verdrehte dann nur kurz die Augen, während er schulterzuckend und noch einmal tief durchatmend den Anruf per Knopfdruck entgegennahm und das Telefon dann an sein Ohr führte. Offensichtlich verfügte seine sehr lautstarke Gesprächspartnerin am anderen Ende über einen ziemlich ergiebigen Redefluß, denn Wannabe kam während ihrer kurzen Luftholpausen nur recht abgehackt zu Wort: "Ja ... ja, Liebes ... nein ... hab ich ... hab ich nicht ... ja ... nein ... ich verspreche Dir ... ja ... nein ... ja, pünktlich um 19 Uhr ... ich weiß ... mach ich ... nein ... vergeß ich nicht ... nein ... auf keinen Fall ... ja ... bis heute abend ... ok, Schatz ... Ciao!" Mit einem weiteren Knopfdruck beendete Wannabe mit hochrotem Kopf und einem leichten Taubheitsgefühl im rechten Ohr das Gespräch. Für einen Moment schloß er ganz fest die Augen und ballte dabei die Fäuste in seinen Jackentaschen, wie er es häufig zu tun pflegte, wenn ihn etwas oder jemand komplett aus der Fassung brachte. So entging ihm glücklicherweise auch gleichzeitig Crawlers breites Grinsen. Er, der von Wannabe selbst schon so oft grundlos verbal zusammengestaucht worden war, ergötzte sich daran zu sehen, daß sein Chef in der Tochter Freakadellys offensichtlich eine - gerade in diesem Punkt - recht ebenbürtige Partnerin gefunden hatte.

Eine Dreiviertelstunde verging. Wannabe wartete immer noch - von einem Fuß auf den andern trampelnd, mit der bereits achten Zigarette im Mund - darauf, daß Svensson ihn endlich ablösen kam. Langsam wurde er ungehalten - ein Charakterzug, der sich des eh etwas cholerisch veranlagten Beamten in letzter Zeit leider recht häufig bemächtigte. Und so schnauzte er Crawler einmal mehr grundlos von der Seite her an: "Wo bleibt denn dieser halbsenile Opa mit seinem Klapperrad nur wieder? Ich steh mir hier sinnlos die Beine in den Bauch, während im Büro die richtige Arbeit auf mich wartet! Außerdem friere ich bei diesem ewigfeuchten Mistwetter, ich werd mir noch einen Schnupfen ...". Weiter kam der Chefinspektor in seinem Satz nicht, stattdessen stieß er wie zur Untermalung einen extralauten Nieser aus, dessen Rückstände er sogleich mit dem Ärmel seines Anzugs hinwegzuwischen suchte. Ein wenig irritiert schaute er dann nach rechts, von wo plötzlich aus dem Nebel eine Stimme an sein Ohr drang: "Na, eine Erkältung im Anzug, Wannabe?! Tja, wie warnen doch gleich nochmal die EU-Gesundheitsminister auf der Packung ihrer sich rasch in Rauch auflösenden Teerstengelchen: Rauchen gefährdet die Gesundheit! In diesem Sinne: Wohl bekomms und Gute Besserung! ... Sorry, daß ich jetzt erst auftauche, aber bei dem 'Opa' gings nicht schneller. Mann wird halt auch nicht jünger, aber wem erzähl ich das?! Sie haben da auch schon ein paar graue Haare bekommen, seit sie mit der - wie man so hört - recht eigensinnigen Tochter des Chefs ... Aber lassen wir den Smalltalk! ... Also, was haben wir denn hier?"

Mit den letzten Worten betrat Inspektor Svensson - wie aus dem Nichts auftauchend - aus dem Nebel heraus den Schauplatz. Wannabe warf seinen Glimmstengel wütend zu Boden und erstattete dann recht widerwillig seinen Bericht an den ungeliebten Inspektor: "Tote Frau mit bislang ungeklärter Identität, um die 20 Jahre alt. Todesursache vermutlich Selbstmord durch Ertrinken, Todeszeitpunkt gestern abend zwischen sechs und zehn. Alles, was wir haben, ist ein schlecht erhaltener Brief in ihrer linken Hand, der zur weiteren Untersuchung bereits auf dem Weg in unser Labor ist ... So, das wars! Ihr Fall! Ich bin dann mal weg!" Damit setzte er sich ins Auto und schlug eilends die Tür hinter sich zu. Ein Wink in Richtung Crawler genügte, und der rote Jaguar entschwand mit quietschenden Reifen von der Absperrung am Fundort der Leiche.

Svensson sah dem Wagen noch einen Moment kopfschüttelnd hinterher: "Daß dieser Wannabe es immer so eilig haben muß. Langsam kommt man doch auch ans Ziel. Und dazu noch die ewige Qualmerei. Naja, ich glaub, der lernt das nie. Das sind dann halt die Typen, die irgendwann mit 50 Jahren an einem Herzinfarkt sterben. Wie dem auch sei, ich bin weder ein Freund der Wannabeschen Lebensweise noch einer seiner Art der Tatortfernbesichtigung. Ich hab lieber alle Beobachtungen und Ergebnisse aus erster Hand". Damit bewegte er sich schnurstracks auf die Tote zu, deren Leichnam inzwischen mit einem weißen Tuch bedeckt worden war. Den Beamten, der die Leiche bewachte, begrüßte Svensson sogleich gewohnt freundlich mit Handschlag: "Guten Tag, Sergeant. Ich bin Inspektor Lukas Svensson". Der Sergeant war ein wenig überrascht über die freundliche Geste des ihm doch völlig fremden Inspektors. Es brauchte daher bei ihm eine Sekunde des Sich-Sammelns, bevor er lächelnd erwidern konnte: "Angenehm, Sir! Ich bin Sergeant Phillip Young von der Wasserschutzpolizei. Meine Leute haben die Tote aus dem Wasser geborgen". Svensson deutete mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf das Leichentuch: "Darf ich sie mal sehen?!" Sergeant Young nickte eifrig. Der Inspektor ging neben dem Leichnam leicht in die Knie und hob dann behutsam auf der Kopfseite eine Ecke des weißen Tuches ein wenig in die Höhe. Doch schon einen Augenblick später ließ er mit einem Ausdruck des Entsetzens im Gesicht das Tuch wieder fallen: "Oh mein Gott, die junge Frau kenne ich doch! Entschuldigen Sie mich bitte! Ich muß sofort in mein Büro zurück. Veranlassen Sie bitte umgehend die Abholung der Leiche in die Gerichtsmedizinische Abteilung des Yard! Die genauen Personendaten teile ich den Leuten vor Ort dann telefonisch mit, wenn ich sie aus meinen Aufzeichnungen herausgesucht hab. Vielen Dank, Phillip! Ich darf doch Phillip sagen, oder?! Ich bin der Lukas!" Wieder nickte der junge Sergeant eifrig, wenn auch erneut sichtlich überrascht vom so überaus rasch angebotenen Du. Tja, aber so war der Inspektor nun mal. Und schon eine Minute später rief ihm Svensson gemächlich vorbeiradelnd zu: "Na dann, alles Gute und auf Wiedersehen, Phillip!" ...

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:34

Episode 16: Unter Zugzwang

Schleichend kroch die Dunkelheit durch die Straßen Londons. Ein warmes Lüftchen trieb sie unaufhaltsam vom Inneren der City aus in die Vororte. Svensson war eigentlich schon mit dem Rad auf dem Rückweg vom Büro nach Hause, wo Yelena sicher sehnsüchtig auf ihn wartete. Und dennoch sah er sich heute zu einem Umweg veranlaßt, der ihn in eine ihm vertraute Gegend zurückführte. Vor dem imposanten Anwesen in der Al-Meida-Street hielt er an, lehnte sein Rad gegen den Zaun, wo er es mit seinen Handschellen anschloß und atmete dann noch einmal ganz tief ein und aus. Schließlich drückte er ein wenig zögerlich auf den Klingelknopf neben der goldenen Hausnummer 88. Der Inspektor war sich bewußt, daß dieser Besuch nötig war und dennoch hatte er ihn seit heute vormittag vor sich hergeschoben. Im Haus blieb alles dunkel. Vielleicht war ja gar niemand da. Ja, das mußte es wohl sein. Na gut, er konnte ja auch morgen vormittag noch einmal vorbeischauen. Gerade, als er auf dem Hacken kehrt machen wollte, ging ein Licht im Hausflur an, und die Haustür wurde aufgeschlossen.

In einen Morgenmantel gehüllt erschien eine Sekunde später Cathrin Napolitani im Lichtkegel der Eingangsbeleuchtung. Ihre Augen mußten sich erst an die Helligkeit gewöhnen. Und so trat sie blinzelnd langsam auf dem Gartenweg hinaus, der zum gußeisernen Tor führte. Einen Augenblick später erkannte sie, wer da vor ihrer Tür stand und zu so nachtschlafender Zeit Einlaß begehrte. Sie schaute ein wenig irritiert, schüttelte kaum merklich den Kopf und brauchte dann noch einige Sekunden, bevor sie schließlich etwas sagen konnte: "Guten Abend, Herr Inspektor! Sie sind doch derjenige, der mir die Nachricht vom Tod meines Mannes überbracht hat, richtig?!" Svensson schüttelte mit ernster Miene sein Haupt: "Nicht ganz!" Cathrin war sichtlich überrascht: "Wie, nicht ganz? Ach, Sie sind wohl inzwischen befördert worden, zum Chefinspektor oder so?!" Nochmals wackelte Svenssons Kopf deutlich hin und her: "Nein, Misses Napolitani, die Beförderungen kassieren bei uns im Yard andere. Aber ich bin nicht der, der Ihnen die Nachricht vom Tode Ihres Mannes überbracht hat ... sondern von seiner Ermordung!" Sein Ton wurde dabei fester. Cathrin beunruhigte dieser Tonfall sichtlich. Ein wenig eingeschüchtert bat den Beamten zu sich ins Haus.

Im Flur angekommen legte Svensson auf Cathrins Bitte ohne ein weiteres Wort seinen Mantel ab. Die Hausherrin führte ihren Gast weiter ins Wohnzimmer, wo sie auf der Couch platznahmen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fragte Cathrin schließlich vorsichtig: "Ihr Name war Svensson, richtig?!" Das leichte Kopfnicken des Inspektors ließ sie wieder ein wenig Mut fassen: "Möchten Sie etwas zu trinken? Dank meinem verstorbenen Mann verfügt die Hausbar immer noch so über ziemlich alles, was man sich denken kann". Svenssons Blick klebte auf Cathrins Gesicht, als wolle er so in ihren Kopf eindringen, um ihre Gedanken zu lesen. Schließlich nickte er erneut und meinte: "Ja, gern! Aber bitte nichts Alkoholisches. Davon vertrag ich immer so wenig, und außerdem bin ich ja dienstlich hier. Aber gegen eine Tasse Schwarztee hätte ich nichts einzuwenden. Mit Milch, wenn das geht?" Cathrin war bereits aufgesprungen und auf dem Weg in Richtung Küche, wobei sie im Gehen erwiderte: "Aber natürlich geht das. Dauert auch nur eine Minute". Daß aus der einen Minute schließlich fast 5 Minuten wurden, war dem Inspektor ganz recht. Für das, was er Cathrin jetzt zu sagen hatte, brauchte er noch ein wenig mentale Vorbereitung. Gleichzeitig zog er einen Zettel aus der Brusttasche seines Oberhemds, den er zuvor im Büro sorgfältig zusammengefaltet und dort verstaut hatte.

Schließlich kehrte Cathrin mit einem Tablett aus der Küche zurück, auf dem zwei Tassen, zwei separate Kännchen mit Tee und Milch sowie ein Schälchen mit Würfelzuckerstücken stand. All dies plazierte sie sogleich mit vorgebeugtem Oberkörper auf dem kleinen Tischchen vor der Couch im Zugriffsbereich des Inspektors. Leicht hätte dieser dabei einen Blick in ihr üppiges Decolte erhaschen können, aber seine Augen starrten weiterhin nur nach Cathrins Gesichtszügen. Die Gastgeberin setzte sich wieder, goß sich und dem Inspektor Tee ein, tat einen Schuß Milch in den seinen, während sie ihren völlig schwarz beließ ... schwarz wie die Nacht. Nur zwei Stück Würfelzucker gönnte sie sich zur Versüßung. Svensson war da nach deutlich weniger Süße zumute. Sein Geschmack war eher, wenn es auch ein wenig bitter sein mochte, ganz unverfälscht weiß auf schwarz ... oder schwarz auf weiß.

Und so faßte er sich denn nach einem ersten Schluck aus seiner Tasse auch endlich ein Herz und sprach: "Misses Napolitani, der Grund warum ich Sie zu so später Stunde aufsuche, ist kein angenehmer. Aber es wird auch nicht leichter, wenn wir hier nur abwarten und Tee trinken. Es geht um Sie und um Ihre Freundin Jane ..." In diesem Moment öffnete sich unter leisem Quietschen die Wohnzimmertür und eine junge Frau trat in einen deutlich zu großen Männerschlafanzug gekleidet mit verschlafenem Blick ins Zimmer. Gähnend sagte sie: "Hab ich da eben meinen Namen gehört? Was gibts denn, Kate? Und wer ist denn da bei Dir?" Die letztere Frage beantwortete Svensson sogleich selbst, indem er sich erhob und - eine Verbeugung andeutend - seinen eingeübten Spruch aufsagte: "Guten Abend! Svensson ... Inspektor Lukas Svensson, Scotland Yard!" Schlaftrunken auf die Couch zutaumelnd winkte Jane ab: "Ach ja, na klar. Der freundliche ältere Herr mit dem schwedischen Namen und dem so unglaublich faszinierenden Vornamen. Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug, aber ich hab schon tief und fest geschlafen". Svensson entschuldigte gern - der Anblick eines weiblichen Wesens, das sich in einen Männerpyjama hüllte, faszinierte ihn schließlich auch jedes Mal aufs Neue bei seiner Yelena.

Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht und verschwand dann ebenso schnell wieder, wie es gekommen war. Dann räusperte sich der Inspektor und nahm seine begonnene Ansprache wieder auf: "Also, wie ich schon sagte, es geht bei meinem dienstlichen Besuch um sie Beide. Es sind jetzt fast genau 4 Jahre vergangen, seit ich Ihnen, Misses Napolitani, die Nachricht von der grausamen Ermordung Ihres Gatten überbrachte. In diesen Jahren habe ich erst offiziell, später als ich von dem Fall abgezogen worden war, auch inoffiziell in alle möglichen Richtungen ermittelt. Ich habe Sie, Cathrin, und ihren Mann Steven genaustens unter die Lupe genommen. Und natürlich auch Sie, Jane!" Janes Gesicht erstarrte unmittelbar, als es in diesem Moment von Svenssons eisigem durchdringenden Blick gestreift wurde. Erschrocken sah sie zu Cathrin hinüber und die zu ihr. Und der Inspektor musterte Beide genaustens, jede mit einem seiner geschulten Augen.

Schließlich meinte er: "Ich muß zugeben, ich hatte schon nach einigen Tagen vor allem sie Beide in Verdacht, Steven Napolitani umgebracht zu haben. Mir fehlte aber noch ein Motiv. Auf das mögliche Motiv hat mich dann heute Mittag ein Anruf aus Manchester gebracht. Eine Mitstudentin von Jane hat sich nach ihrem vierjährigen Auslandsstudium an der Uni zurückgemeldet, dabei zufällig auch von meinen damaligen Ermittlungen bezüglich Jane erfahren und sich als ihre ehemals beste Freundin an etwas erinnert. Ich habe am Telefon etwa eine halbe Stunde mit Nicole Watson - so heißt die junge Dame - angeregt geplaudert. Und sie teilte mir mit, daß Jane kurz vor Nicoles Abreise beim Tanzen einen älteren Mann kennengelernt habe und von dem außer ihr aber anscheinend niemand etwas wußte. Sie beschrieb mir den Mann sehr genau, und das haute mich gelinde gesagt vom Hocker. Über die Uni faxte ich ihr, um sicherzugehen, noch rasch ein Foto von Steven. Und siehe da, Ihr unbekannter Lover - Jane - und Ihr Ehemann - Cathrin - sind tatsächlich mit einem Male ein und dieselbe Person. Zufall? Ok, bis dahin vielleicht. Aber es war mir dann schon ein wenig zuviel des Guten, daß sie Beide unmittelbar nach Stevens so schrecklichem Ableben eine Wohngemeinschaft bilden - noch dazu eine, die wohl über die Grenzen der normalen WG weit hinaus geht. Es sei denn, wir lebten noch am Ende der sechziger oder Anfang der siebziger Jahre. Tja, und nach dem aufschlußreichen Anruf hab ich dann noch einmal den ganzen Nachmittag und frühen Abend lang genaustens alle Akten und Notizen von damals durchforstet, denn was mir nun in meiner Beweiskette noch fehlte, war nur ein einziger Hinweis, der sie Beide zur Tatzeit mit dem Tatort in Verbindung bringt. Et voila ..." Damit entfaltete er demonstrativ die zusammengelegte Notiz in seiner Hand, um - einem Vertreter der Anklage gleich - zum Schlußplädoyer anzusetzen.

Für Cathrin war das alles zuviel. Sie brach in diesem Moment förmlich in sich zusammen, wobei ihr Kopf laut schluchzend und weinend in Janes Schoß fiel. Deren Gesicht teilte augenblicklich die Tränen ihrer Geliebten, während sie mit zitternder Stimme ausrief: "Ja, wir Zwei sind ein Paar. Und wir haben uns nur gefunden, weil uns das Schicksal miteinander verbunden hat. Stevie oder Steven, dieser gemeine Hund, hat uns Beide monatelang belogen und miteinander betrogen. Und dann grinste er uns mitten ins Gesicht und wollte, daß wir alle drei zusammenwohnen, damit er ständig zwei gefügige Betthasen um sich hat, die ihm neben all dem erwarteten Spaß in der Kiste auch noch seine dreckige Wäsche und den Haushalt besorgen. Der Mann, den jede von uns auf ihre Art über alles liebte, entpuppte sich plötzlich und ohne Vorwarnung als gefühlloses Dreckschwein mit einem absurden, krankhaften Kopfkino. Damit hat er unseren unschuldigen und vertrauensvollen Seelen einen geradezu tödlichen Stich versetzt, der jede von uns im gleichen Moment mitten ins Herz traf. Können Sie eigentlich nachempfinden, wie das ist, wenn man mit einem Male alles verliert, was man liebt? Sicher nicht. Und ich hoffe für Sie, daß sie es auch nie erfahren müssen. Denn das ist, als ob man in ein bodenloses Loch fällt - um einen her nur eisige Kälte und völlige Dunkelheit. Und in diesem Loch haben wir Beide - Cathrin und ich - uns ganz fest aneinandergeklammert und im freien Fall einen gemeinsamen Entschluß gefaßt ..." Am Rande dieses Geständnisses brach nun auch Jane komplett in sich zusammen und ließ ihren Kopf auf das Haupt der Freundin sinken.

Wieder quietschte die Wohnzimmertür - wieder trat jemand, sich mit verschlafenem Blick die Augen reibend, ins Wohnzimmer. Es war ein kleiner Junge, Svensson schätzte ihn auf Anhieb auf drei bis vier Jahre alt. Seine krausen Locken und der Schein des Flurlichts verliehen ihm sofort etwas Engelhaftes. Er sah sich blinzelnd um und lief dann sofort - noch ein wenig wacklig auf den Beinen - auf die beiden Frauen zu, die immer noch als schier untrennbares Knäul ineinander verschlungen wild schluchzend auf der Couch lagen. Behutsam streichelte er mit seinen beiden kleinen Händchen über die Köpfe der Frauen. Dann sagte er leise: "Mami, Tante Katie, warum weint Ihr denn? War der Onkel nicht lieb zu Euch?" Traurig schaute er in Richtung des Inspektors und fügte hinzu: "Onkel, Du mußt doch lieb sein zu meiner Mami und zu Tante Katie! Wer bist Du denn überhaupt, Onkel? Bist Du viellicht mein Papi?"
Nein, Inspektor Svensson war sich sicher, daß er ganz gewiß nicht der leibliche Vater dieses bezaubernden, kleinen Kerls war. Zum ersten hatte er nie auch nur annähernd ein intimes Verhältnis zu dessen Mutter gehabt, zum zweiten kam eine anonyme Samenspende für ihn nie infrage, und zum dritten konnte man sofort und auf Anhieb erkennen, wem der kleine Kerl wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein schien. Vor ihm stand die unschuldige Kleinkindversion von Steven Napolitani, jenem Toten aus dem Zug.

Svensson hatte bei dem herzzerreißenden Anblick des Jungen und der beiden Frauen nun selbst mit den Tränen zu kämpfen. Er strich dem kleinen Lockenkopf sacht über die Stirn und erwiderte dann leise: "Nein, mein Junge, ich bin nicht Dein Papi. Ich bin der Onkel Lukas. Und ich hab mit Deiner Mami und Deiner Tante etwas ganz Wichtiges zu bereden gehabt. Aber jetzt bin ich auch schon fast fertig. Nur noch eine kleine Geschichte vorlesen muß ich Tante Katie und der Mutti, eine Erwachsenengeschichte". Der Kleine guckte ein wenig skeptisch, dann schmunzelte er: "Onkel Lukas?! Das ist ja komisch. Weißt Du was, ich heiße so ähnlich wie Du. Ich bin nämlich der Luke. und ich bin schon so alt ..." Mit diesen Worten streckte er drei seiner Fingerchen ganz hoch in die Luft. Dann fragte er den Inspektor: "Onkel Lukas, hat Deine Geschichte denn auch ein gutes Ende wie in Mamis Märchen?" Svensson war nun vollends gerührt. Er wischte sich einmal kurz mit dem Hemdsärmel die Tränchen aus seinen Augen, dann holte er tief Luft und erwiderte: "Das erfährst Du später von Deiner Mami, Luke. Und nun geh mal schön weiterschlafen, während wir Erwachsenen uns noch kurz zuende unterhalten, ok?!" Der Junge nickte, dann drückte er den beiden Frauen jeweils einen sanften Kuß auf die Stirn und reichte Svensson zum Abschied die Hand, bevor er wieder still und artig in sein Bettchen verschwand.

Der Inspektor stand auf und schloß die Tür hinter ihm. Dann kehrte er hinter die Couch zurück, wobei er sich auf dem Bärenfell vorm Kamin aufstellte und seine Notiz erneut entfaltete: "Ich habe hier die alles entscheidende Aussage des Zugbegleiters von damals, von jenem Nachmittag, als Steven Napolitani gewaltsam zu Tode kam. Der Kernsatz dieser Aussage lautet ..." Für einen Augenblick verstummte all das Schluchzen und Weinen der beiden zusammengekauerten Frauen. Sie erhoben langsam ihre Häupter und hielten sich engumschlungen, während Svensson fortfuhr: "Die Aussage lautet also wortwörtlich: 'Ich sah nichts Auffälliges. Gar nichts ...'" Damit zerknüllte der Inspektor seinen Zettel und warf ihn achtlos auf die bereitgelegten Holzscheite im kalten Aschebett des Kamins. Verdutzt sahen sich die beiden Frauen in die Augen. Das war alles? Das war die ganze Aussage? Was um alles in der Welt sollte denn das bitteschön aussagen? Svensson trat ein paar Schitte an die Couch heran und streckte den beiden Damen die Hand entgegen: "So, das wars. Ich hab mich ganz offensichtlich all die Jahre getäuscht und wollte mich einfach bei Ihnen entschuldigen - für den falschen Verdacht und die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen damit verursacht habe". Dann verabschiedete er sich sehr rasch und ließ sich wortlos von den zwei Frauen noch bis zum Tor begleiten, von wo aus er auf seinem Fahrrad ungewohnt schnell davonfuhr.

Noch eine Weile schauten ihm Jane und Cathrin nach, bevor es sie trotz des warmen Abendlufthauchs ein wenig fröstelte und sie sich - immer noch Arm in Arm - wieder ins Wohnzimmer begaben. Jane war die Erste, die ihre Fassung wiedererlangte. Sie schaute noch einmal nach ihrem schlafenden Sohn, dann beschloß sie, für Cathrin und sich das Kaminfeuer noch einmal zu entfachen. An Schlaf war für die Beiden nach all der Aufregung eh nicht mehr zu denken. Als Jane jedoch zurück ins Wohnzimmer kam, stand Cathrin mit fragenden Blick vorm Kamin und hielt ihr Svenssons zerknüllten Notizzettel entgegen, den sie dabei zwischen ihren zitternden Händen immer wieder sorgsam glattstrich. Jane nahm das Blatt an sich und las dann halblaut nocheinmal den vollständigen letzten Satz in der Aussage des Zugbegleiters vor: "Ich sah nichts Auffälliges. Gar nichts ... Außer ZWEI FRAUEN AM ZUG." ...

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:34

Episode 17: Kursänderungen

Am nächsten Morgen meldete sich die Sonne mit ihrem strahlendsten Lächeln zum Tagdienst zurück. Es schien fast so, als hätte sie all den finsteren, grauen Regenwolken heute extra einen Tag frei gegeben. Nur ein paar kleine, niedliche Schäfchenwolken ließen sich am leuchtendblauen Himmel andächtig hin und her treiben von einem mild wehenden Lüftchen, welches gleichzeitig dafür Sorge trug, daß es Mensch und Natur nicht zu heiß wurde unter den Wärme verströmenden Strahlen jener goldigen Gestalt mit ihrem himmlischen Körper. Die Vögel in der Luft revanchierten sich für diesen wundervollen Tagesbeginn mit einem virtuosen, perfekt aufeinander abgestimmten Singkonzert, zu dem die Zweige an den Bäumen sich scheinbar langsam im Takt wiegten. Wenn es einem nun noch gelang, den Lärm der Großstadt für einen Moment aus seinem Kopf auszublenden und sich stattdessen ganz auf das gerade im Radio gespielte "Morning Has Broken" von Cat Stevens einzulassen, geriet man nahezu unweigerlich in eine feierlich-euphorische Stimmung, die einen förmlich dazu trieb, seinem Schöpfer, der auch der Erschaffer dieser ganzen faszinierenden Welt war, aufs Innigste Dank zu sagen.

Und so faltete denn auch Inspektor Svensson am offenen Fenster seines Büros in einem Augenblick der Andacht und des staunenden Schweigens seine Hände ineinander und schickte leise für sich ein kleines Dankgebet gen Himmel: "Herr, Dir verdanke ich meine Geburt und mein Leben. Dir verdanke ich mein Kind und die Frau an meiner Seite sowie all die lieben Menschen, die mir nahestehen. Dir allein ist es zu danken, daß ich jeden Morgen meine Augen erneut aufschlagen und am Abend mein müdes Haupt in sicherer Obhut wieder zur Ruhe legen kann. Du hast all das geschaffen, was mich glücklich macht. Du hilfst mir aber auch, mit dem umzugehen, was mich traurig und wütend macht. Du gibst mir Gelassenheit und Ruhe. Und Du schärfst immer wieder meinen Sinn nach Gerechtigkeit und schenkst mir die Erkenntnis dessen, was richtig und was falsch ist. Und so laß mich auch an diesem Tag nicht nach meinem menschlichen Ermessen, sondern vor allem nach Deinem göttlichen Willen fragen und handeln, damit mein Tagwerk Deiner würdig sei. Amen!" Eine Sekunde lang senkte Lukas Svensson ehrfürchtig sein Haupt, dann erhob er seinen Blick noch einmal tief ein- und ausatmend und schloß das Fenster wieder.

Im gleichen Augenblick, da er das Fenster verschloß, öffnete sich eine Tür - die Tür seines Büros. Es war Crawler, der eine Sekunde später - wieder einmal ohne anzuklopfen - in sein Büro stolzierte. Statt eines höflichen Guten Morgens meinte er nur kurz: "Sie sollen in einer halben Stunde beim Boss erscheinen zum morgendlichen Rapport. Es gibt ein paar wichtige Neuigkeiten, die Ihre Anwesenheit unbedingt erforderlich machen. Unbedingte Pünktlichkeit setzt der Chef natürlich voraus! Und jetzt muß ich Chefinspektor Wannabe rasch noch einen Espresso aus der Kantine besorgen, er wartet nämlich ebenfalls gar nicht gern!" Und damit hatte er auch schon wieder auf dem Hacken kehrt gemacht und die Bürotür hinter sich geräuschvoll ins Schloß fallen lassen. Svensson lächelte nur milde, schüttelte dabei innerlich den Kopf und sprach aus Ermangelung einer anderen Gesprächspartners zu sich selbst: "Jawohl, Inspektor Crawler, Sir! Ach übrigens: Ihnen auch einen wundervollen Guten Tag und einen ruhigen Dienst! Hat mich sehr gefreut, Sie zu sehen, beehren Sie mich doch recht bald einmal wieder. Nein, nicht nötig, daß Sie mir einen Capuccino aus der Kantine mitbringen, ich kenn ja den Weg auch allein, aber danke der Nachfrage. Wie gehts Ihnen eigentlich so. Also mir geht es prächtig. Ein herrlicher Tag ist das, und den lasse ich mir auch von keinem kaputtmachen, keine Sorge ..."

Damit begab sich Svensson an seinen Schreibtisch, setzte sich in seinen Bürosessel und ließ aus gegebenem Anlaß noch einmal den vergangenen Tag vor seinem geistigen Auge Revue passieren, der doch so einiges an Spannung, Dramatik und vor allem an überraschenden Momenten für ihn bereitgehalten hatte. Dabei hatte auch der gestrige Tag ganz zauberhaft begonnen. Er war neben der Frau aufgewacht, mit der er seit nunmehr vier Jahren sein Leben und seit etwa zwei Jahren auch eine gemeinsame Wohnung teilte. Und wenn alles gut ging, dann würde er schon in wenigen Tagen auch sein zukünftiges Leben und seinen Familiennamen mit ihr teilen - Yelena Svensson, geborene Zladkaja. Zladkaja - übersetzt: die Süße. Ein Name, der bei ihr Programm zu sein schien. Sie versüßte mit jedem neuen Tag sein ganzes Leben, sie war der Stoff, aus dem seine Träume waren. Und sie war nicht nur eine Frau - nein, sie war seine Frau, schon jetzt, schon lange, und in kurzer Zeit auch Schwarz auf Weiß auf dem Papier.

Aber Svensson ertappte sich dabei, daß er mit seinen Gedanken abschweifte vom eigentlichen Grund seiner Gedankenreise, wie er es eigentlich stets tat, wenn er erst einmal von seiner Yelena ins Schwärmen geriet. Zurück zum gestrigen Morgen. Da war dann dieser Anruf gewesen, der ihn ans Themseufer beordert hatte, zu der Leiche einer jungen Frau - einer jungen Frau um die Zwanzig, der Svensson schon einmal begegnet war, vor etwa zwei Jahren bei einer großangelegten Drogenrazzia im Hause Spirelli. Die ganze Aktion hatte damals nichts gebracht. Wie zu erwarten war, hatte Spirelli sicher auch irgendwo einen Informanten bei der Polizei, der ihn rechtzeitig warnte. Nur ein kleines, verstört wirkendes Mädchen hatten sie im Haus Spirellis vorgefunden, das halbnackt auf dem Tisch herumtanzte - Francesca Scampi, die Tochter eines hochverschuldeten ehemaligen Obst- und Gemüseverkäufers, dessen Frau vor einem Jahr nach einer mißlungen Operation am Herzen verstorben war. Leider war Francesca schon 18 Jahre, so daß man Spirelli nicht einmal für ihre "Tanzdarbietung" vor all den geifernden alten Geldsäcken, die ihr dabei mit eklig-lüsternem Blick zusahen, zur Rechenschaft ziehen konnte.

Svensson hatte die Kleine damals mit zu sich ins Revier genommen, ihr zu essen und zu trinken gegeben und sie in eine warme Decke gehüllt. Dann hatten sie sich beide zwei Stunden lang intensiv miteinander unterhalten. Was sie sagte war nicht viel, dafür schien sie zuviel Angst zu haben - vielleicht weniger um sich selbst als vielmehr um das, was Spirelli ihrem Vater antun hätte können. Dennoch hatten ihr Gesichtausdruck und ihr Körper ihm damals viel mehr verraten, als ihr wohl bewußt gewesen war. Er hatte gleich die schwarzen Ränder unter ihren verklärt blickenden Augen registriert, das Zittern ihrer - die ganze Zeit über ineiander verhakten - Hände und die zahlreichen feinen Einstiche an Armen und Beinen. Das alles sagte ihm, daß sie seit geraumer Zeit an der Nadel hängen mußte - ein Umstand, mit dem sie Spirelli wohl gefügiger und abhängiger von sich gemacht hatte, und gleichzeitig das - in ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit in den gefühllosen Krallen dieses eiskalten Verbrechers - einzige Mittel, den schrecklichen Dingen, die er ihr immer wieder antat, für einige Augenblicke zu entkommmen. Als sie sich dann schließlich von ihm verabschiedet und sich dabei tausendmal bei ihm bedankt hatte, überreichte er ihr seine Visitenkarte mit der Bitte, ihn anzurufen, wannimmer sie Hilfe oder einfach jemanden zu sprechen brauche. Schon damals wußte er, daß sie dieses Angebot wohl nie wahrnehmen würde, allein schon aus Angst vor den möglichen Konsequenzen.

Aber Svensson schweifte schon wieder ab. Er war also gestern nach der Tatortbesichtigung auf einem kleinen unvermeidlichen Umweg ins Yard zurückgeradelt und hatte sich gleich selbst die Akte Francesca Scampi aus dem Archiv abgeholt. Dann gab er die Personendaten an die Gerichtsmedizin weiter, die daraufhin mit der Leichenschau begann. Das Ergebnis war für den nächsten Tag - also heute - zu erwarten. Dann kam die Mittagspause. Allerhöchste Zeit, wie der Magen des Inspektors schon einige Zeit grummelnd zu bedenken gab. Svensson hatte bereits den Mantel überm Arm und war auf dem Weg nach draußen in den Park, als sein Telefon klingelte. Jeder andere hätte einfach so getan, als ob er das nicht mehr gehört habe, aber Svensson nicht. Er hängte den Mantel zurück an den Haken und nahm den Hörer ab. Die Anrufende war Nicole Watson - jene Mitstudentin, die mit neuen Erkenntnissen im Fall Napolitani aufwarten konnte. Erkenntnisse, die den Gedanken an eine Mittagspause mit einem Schlag hinwegfegten, ebenso wie die sanfte Hoffnung auf einen pünktlichen Feierabend. Tja, und dann hatte der Inspektor halt das geliebte Archiv - praktisch seine zweite berufliche Heimat - noch einmal bemüht und sich all die alten Akten des Falles Napolitani kommen lassen. Der Berg auf seinem Schreibtisch wuchs und wurde mit akribischer Sorgfalt von Svensson abgearbeitet, bis er bei Anbruch der Dämmerung eben über jene beiläufige Notiz mit der Aussage des Zugbegleiters stolperte, die alle bisherigen Indizien und Erkenntnisse als letztes fehlendes Puzzleteil scheinbar zu einem nunmehr kompletten Bild des Tathergangs verschmelzen ließ. Wieder hatte sich Svensson aufs Rad geschwungen, um so kurz vor seinem wohlverdienten Ruhestand auch diesen Fall noch zu einem Abschluß zu bringen ... mit der Festnahme der beiden Täterinnen. Eine Festnahme, die sicher viel Staub aufgewirbelt und ihm zweifellos öffentliches Ansehen, vielleicht sogar eine längst überfällige Beförderung, eingebracht hätte - dessen war er sich sicher. Alles schien so klar und erfolgversprechend - und dann kam alles auf einen Schlag ganz anders.

Ein kleiner lockiger Junge trat in Svenssons so fest gefaßten Plan zum krönenden Abschluß des Mordfalls Napolitani. Ein kleines unschuldiges Kind, das seine Mutter liebte und brauchte, jetzt wo es schon ohne Vater aufwachsen mußte - so wie seine Lisa damals ihre Mutter gebraucht hatte, als die Beziehung Svenssons zu ihr in die Brüche gegangen war. Wie konnte er diesem kleinen Jungen, der ihm mit der gleichen berührenden Wärme in die Augen strahlte wie die Sonne vorhin in sein Fenster und der ihn sofort liebevoll "Onkel Lukas" genannt hatte, nun auch noch die Mama fortnehmen. Und in diesem Moment am gestrigen Abend hatte der Inspektor ganz für sich allein aus dem Grunde seines Herzens heraus einen folgenschweren Entschluß gefaßt, der sein bisheriges Leben mit allen Ansichten von Recht und Unrecht für immer auf den Kopf stellte. Nein, er würde diesen Fall nicht lösen, nicht so! Er würde die beiden Frauen, die die Tat zweifellos in einer Ausnahmesituation begangen hatten, nicht der Staatsanwaltschaft ans Messer liefern. Und während er noch innerlich mit sich um diesen Entschluß gerungen hatte, da war ihm eine Begegnung in den Sinn gekommen, die er zwei Jahre zuvor gehabt hatte, und die ihn seitdem einfach nicht mehr losließ ...

Damals waren der inzwischen zum Chefinspektor aufgestiegene Wannabe und sein Gehilfe Crawler ganz nah an der Verhaftung von Spirellis ärgstem Widersacher Makkaroni dran gewesen. Sie hatten von seinen Verstrickungen in Waffen- und Drogengeschäfte in den Staaten Wind bekommen und auch Kenntnisse über einige Kontakte zu dortigen Terrorzellen. Das hatte nun seinerzeit auch die US-Behörden auf den Plan gerufen, die sogleich einen ihrer fähigsten Antiterrorspezialisten aus L.A. an die Themse entsandten. Svensson mußte auch heute noch schmunzeln, wenn er nur an seinen Namen dachte. Nicht nur, daß dieser interessante Zeitgenosse mit seiner ereignisreichen und leidvollen Vergangenheit den gleichen Vornamen hatte wie sein befreundeter Autowerkstattbesitzer Jack. Nein, sein Nachname war es vor allem, was ihn jedes Mal grinsen ließ, denn in Svenssons deutscher Muttersprache war er die Übersetzung für das englische Farmer, und wie ein plumper, unwissender Landwirt, der nur von der eintönigen Arbeit im Stall und auf dem Feld Ahnung hatte, wirkte er nun wirklich nicht, auch wenn er immer wieder erfolgreich gegen die schlimmsten Terrorschurken ins Feld zog und ihre "Stallungen" erstürmte und gründlich ausmistete. Mit diesem imposanten Mann hatte Svensson wochenlang bis zur Ergreifung und Überstellung Makkaronis so manchen gemütlichen Abend angeregt plaudernd in seiner Eckkneipe "My Redemption" verbracht, und eines Abends waren sie auch über seine Einstellung zu Recht, Unrecht, Gerechtigkeit und Gesetzestreue ins Gespräch gekommen. Irgendwann hatte Svenssons Gegenüber dabei dann zu fortgeschrittener Stunde voller Entschlossenheit in seiner Stimme zu ihm gesagt: "Weißt Du was, Lukas, mein Freund. Ich habe in all den Jahren in meinen unzähligen Einsätzen immer nur getan, was nötig war, um unschuldige Leben zu beschützen und zu retten. Man hat mich doch immer wieder gerufen, in der festen Erwartung, daß ich die mir gestellte scheinbar unmögliche Aufgabe erfolgreich zuende bringe. Und das hab ich dann auch getan. Und da es dabei manchmal unumgänglich war, gegen bestehende Gesetze zu verstoßen, habe ich auch das getan. Ich mußte mich schließlich dem Gegner ein Stück weit anpassen, wenn ich erfolgreich sein wollte, denn keiner dieser Verbrecher fragt auch nur eine Sekunde nach Recht und Gesetz. Für sie zählt nur eins: ihr unheilbringendes Ziel zu erreichen. Und das zu verhindern, das war und ist nunmal meine - nein unsere - Aufgabe, Lukas. Die Aufgabe all derer, die dazu angetreten sind, den Menschen zu dienen und sie zu beschützen. Wir stehen dabei natürlich nicht über dem Gesetz, Lukas, das nicht. Und ich übernehme auch gern die Verantwortung für alles, was ich je getan habe, vor Gott und meinem Volk. Sollen sie doch - als die, für die ich all das gemacht hab - am Ende darüber entscheiden, ob ich recht gehandelt habe oder nicht. Eines aber ist sicher: Ich bereue keine einzige meiner Entscheidungen, nicht eine - denn ich habe stets nur versucht, das zu tun, was in der jeweils gegebenen Situation als richtig und notwendig erschien" ...

An diese Worte hatte Svensson gestern abend bei seinem Besuch bei Cathrin und Jane denken müssen. Sie hatten ihn seine ganze sorgsam geplante, flammende Rede, mit der er die beiden Frauen des Mordes zu überführen entschlossen gewesen war, zusammen mit der zerknüllten Aussagenotiz auf den kalten Aschehaufen des längst ausgebrannten Kamins werfen lassen. Und wenn es nach ihm ging, so sollte Beides dort auf ewig ruhen ... Svennson schreckte auf.
Sein Telefon klingelte. Er nahm ab und hatte die Gerichtsmedizin am Ohr. Der Chefpathologe teilte ihm das Ergebnis der Untersuchung der sterblichen Überreste von Francesa Scampi mit. Es handelte sich nach eingehender Untersuchung glasklar um Selbsttötung ohne jede Spur eines Fremdverschuldens. Auch diese Akte konnte nun also geschlossen werden, auch wenn Svensson nur allzu gern noch ermittelt hätte, was die junge Frau zu der schrecklichen Tat getrieben hatte. Dabei fiel ihm nun auch das Tagebuch wieder ein, welches immer noch in seiner Schreibtischschublade ruhte. Jenes Büchlein, dem Francesca in den vergangenen mehr als vier Jahren, den letzten ihres jungen Lebens, all ihre geheimen Ängste und Gedanken anvertraut hatte - kurzum all das, was sie den Menschen um sich herum nicht anzuvertrauen gewagt hatte. Er hatte es gestern gefunden - und damit kam er nun noch einmal auf den zuvor erwähnten "unumgänglichen Umweg" zwischen Francescas Fundort und seiner Arbeitsstätte zurück. Denn wenn auch gleich er zu diesem Zeitpunkt den Nachnamen des Mädchens vergessen hatte und all ihre Personendaten, so konnte er sich doch noch ziemlich genau daran erinnern, wohin er sie damals nach der Befragung im Yard nach Hause fahren lassen hatte. Und so hatte der Inspektor schweren Herzens dann auch seiner bitteren Pflicht genüge getan und dem am Boden zerstörten Vater die Nachricht vom Tode seiner Tochter überbracht. Und während Alberto Scampi lauthals weinend auf dem Sofa sitzend um sein Kind trauerte, hatte der Inspektor sich im Zimmer Francescas umgeschaut und dabei in jener abgedunkelten Gruft, die sie scheinbar selbst aus ihrem einst so farbenfrohen Kinderreich erschaffen hatte, unter dem zerwühlten Kopfkissen auch ihren einzig verbliebenen, geheimsten Schatz entdeckt - ein dickes schwarzes Buch randvoll mit Francescas handschriftlichen Aufzeichnungen - und auf der vorletzten Seite jäh beendet mit nur drei fett geschriebenen Sätzen in großen schwarzen Druckbuchstaben: "Dies ist mein letzter Tag auf dieser schrecklichen Welt! Wein nicht um mich, Papa! Alles wird gut, denn ich bin ab jetzt bei Mama!"
Der Inspektor hatte Alberto Scampi diesen Eintrag gezeigt. Und der erschütterte Vater hatte sich dafür mit tränenschwerer Stimme bedankt und nur kurz genickt auf die Frage Svenssons, ob er das Büchlein mitnehmen dürfe, worauf es zuerst in seiner Mateltasche und später in seinem Schreibtisch verschwand. Von dort wollte es Svensson nun grad ans Tageslicht zurückholen, als er bei einem flüchtigen Blick zur Uhr erneut aufschrak.

Tief in all seine Gedanken versunken, hatte er gar nicht bemerkt, daß die dreißig Minuten bis zu seinem Termin bei Freakadelly fast um waren. Hastig verließ er das Büro und fuhr mit dem Fahrstuhl ganz nach oben. Im Vorzimmer des Büros mit der Nummer 2009 vermißte der Inspektor zunächst einmal Freakadellys stets freundliche Chefsekretärin Claudia, aber dann erinnerte er sich, daß sein Freund George unten an der Rezeption ihm gestern beim Verlassen des Gebäudes ja noch erzählt hatte, die Sekretärin des Chefs habe eine böse Erkältung mit Husten, Schnupfen und einem schrecklichen Brummschädel erwischt, welche sie wohl einige Zeit außer Gefecht setzen und daran hindern würde, ihrer geliebten schreibenden Tätigkeit bei Freakadelly nachzugehen. So betrat Svensson schließlich nach kurzem Anklopfen das eigentliche Chefbüro, wo er schon sehnlichst erwartet wurde. Und das nicht nur von Chief Superintendent Freakadelly höchstpersönlich, sondern auch von Chefinspektor Wannabe und seinem Kaffeeholer Crawler, die ihn bei seinem Eintreten kaum eines Blickes würdigten. Svensson begrüßte die drei Herren freundlich, obgleich er - wie erwartet - nur vom Boss selbst überhaupt eine Antwort bekam. Dann setzte er sich auf den letzten freien Stuhl. Wannabe räusperte sich kurz und meinte schlicht: "Nun, da ja alle da sind, können wir dann wohl auch loslegen! Zeit ist schließlich kostbar in unserem Beruf, nicht wahr?! ... Also: Gestern abend gegen 22 Uhr verschaffte sich jemand gewaltsam durch das Niederschlagen der beiden Wachen am Haupttor Zugang zum Anwesen von Salvatore Spirelli. Der Hausherr, der gerade von einem Konzertbesuch in der Royal Albert Hall zurückgekehrt war, wurde daraufhin von dem Eingedrungen im Moment des Aussteigens aus seinem schwarzen Rolce Royce kaltblütig erschossen, mit sage und schreibe sechs gezielten Schüssen aus einer mitgeführten Walther PPK - einer Selbstladepistole deutscher Herkunft. Von den sechs Schüssen war bereits der zweite sofort tödlich. Der Täter wurde von den Bediensteten des Herrn Spirelli noch am Tatort festgenommen. Es handelt sich bei ihm um den italienischen Migranten ... Crawler ... Hey, Crawler, schlafen Sie? Wie war noch gleich der Name des Täters?" Crawler, der sich in seiner kurzen Unaufmerksamkeit peinlich ertappt fühlte, kramte aufgeregt in seiner Hosentasche und förderte dann freudestrahlend eine zerknüllte Notiz zutage, von der er sofort eifrig mit feierlicher Stimme abzulesen begann: "Alberto Scampi, 47 Jahre, arbeitslos ..." Svensson fiel dem Strahlemann ins Wort: "Scampi? Alberto Scampi?! Aber das ist der Vater der kleinen Francesca, deren Leiche wir gestern früh aus der Themse geholt haben ..."

Hier meldete sich nun Wannabe in die Unterhaltung zurück: "Ja, das ist ja alles gut und schön, Svensson. Dann schicken Sie bitte die vollständigen Akten des Falles nachher gleich in das Büro von Inspektor Crawler, der sie dann für mich durchsieht". Crawler nickte eifrig, auch wenn Wannabe gar nicht daran gedacht hatte, ihn in dieser Angelegenheit überhaupt auch nur nach seiner Meinung zu fragen. Schließlich hatte Crawler als sein Untergebener eh zu tun, was sein Vorgesetzter verlangte. Und so fuhr er ohne Umschweife in seiner Selbstdarstellung fort: "Aber nun zurück zu meinem Fall. Der Wagen, in dem Spirelli starb, steht jedenfalls seit heute morgen in der Garage der Kriminaltechnik hier im Yard. Und da wir heute Freitag haben, wird es vor Montag früh auch keine Untersuchung geben. Somit erwarte ich auch erst am Dienstagmorgen die abschließenden Ergebnisse. Und für Dienstagnachmittag hab ich schon mal eine Pressekonferenz einberufen, bei der ich den Fall Spirelli in der Öffentlichkeit noch einmal neu aufrollen werde - und damit auch den, meiner Meinung nach mit Spirelli und seinen dunklen Geschäften eng im Zusammenhang stehenden - bisher ungelösten Mordfall des ... Crawler, wie hieß dieser Bänker damals nochmal? Der mit den 24 Messerstichen im Zugabteil?" Crawler zückte erneut den Notizzettel und verkündete stolz: "Napolitani! Steven Napolitani, Sir!" Wannabe nickte zufrieden: "Ja, genau Napolitani! Denn jetzt, wo Spirelli tot ist und keinem mehr Furcht einflößen kann, werden vielleicht einige Leute, die damals etwas gesehen oder gewußt und bis dato geschwiegen haben, reden. Da bin ich mir ziemlich sicher. Bestimmt finden sich durch meinen Fernsehaufruf ein paar neue Zeugen, die endlich Licht ins Dunkel dieser blutigen Schweinerei bringen. Und dann werde ich auch diesen Fall lösen - der immer noch als dunkler Fleck auf meiner sonst so hundertprozentigen Fahndungserfolgsgeschichte klebt - und auf der Karriereleiter eine weitere Stufe erklimmen, so wahr ich Wannabe heiße!"

Freakadelly sah zu Svensson herüber, der plötzlich ganz still und zusammengesunken mit kalten Schweißperlen auf der Stirn in seinem Stuhl kauerte. Er goß dem Inspektor rasch ein Glas Wasser ein und überreichte es ihm besorgt mit den Worten: "Ist Ihnen nicht gut, Inspektor?! Trinken Sie mal was. Und dann sollten Sie sich die letzten paar Tage vor ihrer Pensionierung und ihrer Eheschließung vielleicht doch frei nehmen. Überstunden zum Abbummeln haben sich bei Ihnen eh genug angesammelt". Svensson erholte sich langsam wieder von dem Schock, den Wannabes Ausführungen in ihm ausgelöst hatten. Ja, mittlerweile konnte er dieser ungeahnten Entwicklung sogar etwas Positives abgewinnen. Zuerst hatte er ja einfach nur befürchtet, auf den Fernsehaufruf könne sich jene Nicole Watson nun auch bei Wannabe melden und ihre Aussage wiederholen. Selbst Wannabe würde dann unweigerlich auf Jane stoßen und irgendwann wohl oder übel eins und eins zusammenzählen. Aber diesen Gedanken hatte Svensson inzwischen beiseite geschoben. Nein, es war noch mehr! In seinem Hirn hatte er in den letzten Sekunden einen richtigen Plan ausgearbeitet, der - geschickt ausgeführt - Cathrin und Jane mitsamt dem kleinen Luke weiterhin unbehelligt ließ und der Spirelli - wie von Wannabe und Freakadelly von Anfang an beabsichtigt - postum auch für diesen Mord ans Messer liefern würde. Ja, genau: Ans MESSER! ... Und je länger der Inspektor darüber nachdachte, desto gerechter erschien ihm diese Lösung. Schließlich war Spirelli zum einen zeitlebens ein skrupelloser Mistkerl gewesen. Zum zweiten war er tot, so daß ein Mord mehr oder weniger auf seinem Schuldenkonto für ihn eh nicht mehr ins Gewicht fiel. Und - zu guter Letzt - wurde damit auf gewisse Weise nachträglich auch der "Mord" an Francesca Scampi gerichtet, auch wenn es dem Gesetz nach streng genommen kein direkter Mord gewesen war. Und in diesem Bewußtsein konnte nun auch Svensson ruhigen Gewissens mit den Worten eines sehr guten Freundes von sich sagen: "Ich bereue meine Entscheidung nicht - denn ich habe nur das versucht zu tun, was in der gegebenen Situation als richtig und notwendig erschien".

Dankend nahm Svensson das gewährte Dienstfrei in Anspruch, schüttelte dem Chief Superintendent noch einmal die Hand und verließ dann - während ihm Wannabe und Crawler verdutzt zuschauten - schweigend festen Schrittes das Büro seines Bosses. Er stieg in den Fahrstuhl und fuhr hinab in sein Büro, wo er sogleich Francescas Tagebuch aus der Schublade holte und den Rest des Arbeitstages damit verbrachte, darin zu lesen. Kurz vor Feierabend kramte er seine wenigen persönlichen aus dem Schreibisch in eine seit längerem bereitstehende Pappschachtel zusammen und legte vor dem Verschließen noch das Tagebuch obenauf. Er würde es in den nächsten Tagen persönlich zu Alberto Scampi ins Gefängnis bringen, wo jener momentan in Untersuchungshaft saß. Svensson fand, daß der Vater ein Recht hatte, es zu lesen. Dann schnappte der Inspektor sich seinen Mantel, klemmte die Pappschachtel unter den Arm und verließ - nach einem langen sehnsuchtsvollen Blick zurück - für immer sein Büro, in dem er die letzten 14 Jahre wohl knapp die Hälfte seiner Zeit verbracht hatte. Eigentlich zog es ihn ja sofort zu seiner Yelena nach Hause, aber es gab da wiedermal noch eine Sache, die unbedingt erledigt werden mußte. Und so radelte Svensson erneut mit ruhigem Tritt in die Pedalen in der genauen Gegenrichtung seines eigentlichen Nachhausewegs ... hinein in die einsetzende Dämmerung ...

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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sven1421

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18

Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:35

Episode 18: Verdunkelungen und Lichtmomente

Der Vollmond schien hell am sternenklaren Abendhimmel und tauchte damit die ganze Landschaft in ein geradezu gespenstisches Licht, so auch jenes riesige Anwesen in der Al-Meida-Street 88. Auf einem Seerosenblatt im Teiche des beachtlichen Vorgartens gab in jenem Zwielicht allein ein einsamer Frosch sein monoton-einsilbiges Konzert. Irgendwann hatte sich dann irgendwo in der Nachbarschaft ein zweiter Frosch als Duettpartner hinzugesellt, worauf beide emsig im Wechsel um die Wette quakten. Und schließlich stimmte auch noch ein streunender Hund mitten auf der Straße seine geheulte Liebesarie an den Mond an. So wenig die einzelnen Gesänge sicher auch miteinander harmonierten, hatte es in seiner Gesamtheit doch etwas Herzergreifendes, wie der Inspektor beim Anschließen seines Fahrrades an der Grundstückumzäunung feststellte. Zumal jene Sinfonie natürlicher Klänge Balsam für Ohr und Seele des scheidenden Beamten waren, nachdem ihm bei seinem Zwischenstop in der - auch um die fortgeschrittene Stunde noch sehr betriebsamen - Autowerkstatt seines Freundes Jack Holmes ganz andere Laute entgegengeschlagen waren. Dennoch war Svensson um jenen spontanen Besuch nicht umher gekommen, brauchte er doch für die Ausführung seines Planes - was den endgültigen Abschluß des Falles Napolitani betraf - unbedingt einen zuverlässigen Helfer.

Daß er dabei sofort auf Jack Holmes kam, war nicht verwunderlich. Neben den gelegentlichen Fahrradreparaturen verband die Zwei eine langjährige Freundschaft, die aus der Zeit herrührte, als jener fleißige und nun so rechtschaffende Mister Holmes noch "Black Jack" genannt wurde - und das gleich aus zweierlei Gründen: Zum einen, weil seine geschickten Hände bereits damals eigentlich immer ölverschmiert waren, zum anderen aber auch, weil in den einschlägigen verräucherten Lokalhinterzimmern beim illegalen Poker nach Mitternacht niemand eine Chance gegen die Fingerfertigkeit dieses ausgebufften Falschspielers hatte. Jack hatte schon damals von seiner eigenen kleinen Werkstatt geträumt, und so zockte er Abend für Abend eifrig, um sich nach und nach das Geld dafür zusammen zu verdienen. Eines Tages war es soweit - es sollte sein letzter Abend und sein letztes Spiel werden. Und doch ahnte "Black Jack" noch nicht einmal annähernd, wie dicht er davorstand, daß sich dieser Vorsatz auf ganz andere Weise erfüllte, als er es sich in seinen kühnen Träumen ausgemalt hatte.

Alles schien wie sonst, Jack hatte eine seiner vermeindlichen Glückssträhnen, die er allerdings wie gewohnt wieder einmal mehr den - mit seinem Spezialring an rechten Mittelfinger - vor Beginn des Spiels unauffällig angebrachten winzigen Lochmarkierungen an den Kartenseitenkanten verdankte, als den allseits so begehrten und doch normalerweise so rar angesiedelten Küssen Fortunas. Wie dem auch sei: In seiner Hand hielt er nun jedenfalls einen satten Royal Flush, während sein Gegenspieler - ein Nordire mit einem stark vernarbten Gesicht, welches laut seinen Angaben aus seiner früheren Untergrundtätigkeit in den Reihen der IRA stammte - "nur" einen Straight Flush hatte, wie Jack unschwer mit geübtem Auge den hauchfeinen löchrigen Punktierungen an dessen Karten entnahm. Das Narbengesicht setzte dabei siegesgewiß sein strahlendes Pokerface auf und erhöhte seinen Einsatz auf 4000 Pfund. Das war genau die Summe, die "Black Jack" noch zum Kauf seiner kleinen Autowerkstatt fehlte, also zog er mit und wollte sehen. Was er dann sah, war allerdings nur das, was er eh schon wußte. Grinsend präsentierte er dem sprachlosen Gegner sein Siegesblatt und griff dann nach dem 8000 Pfund schweren "Jack-Pot".

Doch zu früh gefreut. Das Narbengesicht entdeckte im hellen Spot des grell leuchtenden Oberlichts plötzlich in seiner Verzweiflung die Löcherchen in seinen abgelegten Karten. Er sprang auf und zog einen Revolver aus dem Hosenbund, den er blitzschnell entsicherte, um dann damit mit einem zugedrückten Auge punktgenau auf Jacks Herz zu zielen. In dessen Kopf verschwand von einer Sekunde zur anderen der euphorische Gedanke an die eigene Werkstatt und machte Platz für die angstvolle Erwartung seines nun scheinbar unabwendlichen Lebensendes. "Black Jack" stand noch immer starr vor Schreck, da vernahm er auch schon ein lautes, pfeifendes Geräusch. Doch was da pfeilschnell durch die Luft flog, war keineswegs das erwartete kleinkalibrige Geschoß aus der immer noch auf ihn gerichteten Revolvermündung. Dieses Geschoß hatte ein sehr viel größeres Kaliber, auch wenn es von seiner äußeren Form her einer Patrone schon ein wenig ähnelte. Es war der Helm eines englischen Bobbys, eines Streifenpolizisten, der da durch den Raum zischte und bei seinem Auftreffen dem Narbengesicht die Waffe aus der Hand schlug. Ein Schuß löste sich in diesem Moment zwar doch, aber er landete zunächst an der Deckenleuchte und dann als Querschläger im Oberschenkel jenes kleinen, unscheinbaren und dennoch so mutigen Sergeants namens Lukas Svensson, der zuvor seine Kopfbedeckung allen Dienstvorschriften zum Trotz als Wurfgeschoß mißbraucht und "Black Jack" damit zweifellos das Leben gerettet hatte. Und das alles, obwohl Svensson nur zufällig auf seinem nächtlichen Streifengang in dem Lokal eingekehrt war und sich dann auf der Suche nach der Toilette kurz einmal verlaufen hatte.

Was nach dem Schuß passierte, ging dann alles recht schnell. Der Vernarbte hatte überstürzt das Weite gesucht, Sergeant Svensson war zu Boden gegangen und durch die Wucht des Schußes für einen Augenblick bewußtlos gewesen - und "Black Jack" hatte erst den Pot in seinen Hosentaschen verschwinden lassen und dann Polizei und Rettungsdienst alarmiert. In den kommenden Tagen und Wochen besuchte er seinen Lebensretter immer wieder im Krankenhaus, wo sich rasch eine richtige Männerfreundschaft entwickelte, die all die Jahre überdauerte. Und obwohl sich Jack Holmes stets sicher war, daß der geübte Blick des Streifenpolizisten damals vor seinem beherzten Eingreifen auch das viele Geld auf dem Tisch registriert haben mußte, hatte Svensson nie auch nur ein Wort über dessen Verbleib verloren. Selbst als Jack sich ein paar Wochen nach dem Vorfall von einem angeblichen Lottogewinn seine Werkstatt kaufte, hatte Svensson nur geschmunzelt und gemeint: "Sie sind und bleiben halt ein Glückspilz, Sie mit Ihren flinken Händen!"

Ja, Svensson mußte auch jetzt ein wenig schmunzeln, während er noch immer in Gedanken an damals das Tor zum Anwesen von Cathrin und Jane öffnete. Einen Augenblick später jedoch konzentrierten sich Jacks Gedanken wieder ganz auf seinen Plan, dessen Gelingen ganz und gar von seiner exakten Ausführung bis ins kleinste Detail abhing. Punkt Eins war erledigt: Jack war eingeweiht und hatte erwartungsgemäß eingewilligt mitzumachen. Mehr noch: Er hatte gesagt, daß es ihm eine Ehre sei, sich bei seinem Freund - dem Inspektor - so endlich einmal für die damalige Rettung seines Lebens angemessen revanchieren zu können. Und so waren die Beiden nun in anderthalb Stunden vorm Eingang zum Yard verabredet.

Und damit war es Zeit für Punkt Zwei ... Der Inspektor hatte inzwischen den Gartenweg hinter sich gelassen und drückte nun den Klingelknopf am Eingang der Villa. Cathrin, die ihm einmal mehr im Morgenmantel öffnete, schaute auch diesmal nicht weniger verdutzt auf den späten Besucher als die beiden vorigen Male. Sie bat Svensson herein, wobei er auf ihr Angebot abzulegen nur meinte, das sei nicht nötig, denn er habe es eilig und bliebe auch gar nicht lang. Im Wohnzimmer traf er dann auf Jane, die im Pyjama vorm Kamin hockte und das Feuer schürte. Auch sie war zuerst ein wenig verblüfft über das erneute Erscheinen des Inspektors, aber dann lächelte sie ihn an und erzählte ihm voller Freude, wie sehr er den kleinen Luke bei seinem letzten Besuch doch beeindruckt habe. Der junge Mann erzähle seitdem andauernd von jenem netten Onkel, dessen Name dem seinen so ähnlich sei. Und dann fragte sie den Inspektor ganz ohne weitere Umschweife frei heraus, ob er nicht in vier Wochen der Taufpate ihres Sohns werden wolle. Einen besseren Bewerber für diese Aufgabe gäbe es in ihren Augen einfach nicht, zumal er ja durch seinen ersten Besuch damals eh schon quasi der Namensgeber des aufgeweckten Jungen geworden sei.

Svensson war so überrascht über diesen Vorschlag, daß er sein eigentliches Anliegen für einen Moment völlig vergaß. Er legte seinen Regenmantel nun doch ab und erzählte sogleich begeistert, was ihm seine Mutter von seiner eigenen Taufe überliefert hatte. Bei der Auswahl seines Taufspruchs hielt der Pfarrer sich damals nämlich einfach an seinen Namen und an sein Geburtsdatum - den 12. Februar. Und so hatte der Geistliche seine Bibel aufgeschlagen und dem kleinen Lukas jenen Spruch aus dem Lukasevangelium Kapitel 12 Vers 2 mit auf den Lebensweg gegeben, der ihm fortan als Leitmotiv für sein privates und berufliches Streben diente: "Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird". Stets hatte er in all den Jahren als Polizeibeamter versucht, das Verborgene aufzudecken - koste es, was es wolle. Nur bei seinem letzten Fall war ihm der Preis dann plötzlich einfach zu hoch gewesen ...

Jane bemerkte, daß die Erinnerungen des Inspektors in der Gegenwart angekommen waren und in eine bedrohliche Richtung steuerten, was Cathrin und sie anging. Doch auch Svensson wurde das bewußt, und er kehrte rasch wieder zu dem Bericht von seiner Taufe zurück: "Meine Mutter jedenfalls wollte mir bei meiner Geburt noch einen zweiten Vornamen geben, der dann auch mein Rufname geworden wäre: Georg ... Sie meinte damals zu meinem Vater, Georg Lukas hätte so etwas Besonderes an sich, als könnte daraus einst ein bedeutender Mensch erwachsen. Aber mein Vater hat diesen Vorschlag einfach von vornherein verworfen. Er meinte schlicht und ergreifend, ein Vorname sei genug, und Lukas habe schließlich schon mein Uropa geheißen, der anno 1871 als hochdekorierter Offizier aufseiten der deutschen Truppen ruhmreich gegen die Franzosen ins Feld zog ... Und damit war die Namensdiskussion ein für allemal vom Tisch" ...

Svensson hatte seine Ausführungen gerade beendet, als aus einem der Schlafzimmer im Obergeschoß der Villa ein zartes, weinendes Stimmchen an sein Ohr drang. Offensichtlich hatte ein Albtraum Janes Sohn geweckt, und der rief nun im Dunkeln verzweifelt nach seiner Mama. Jane entschuldigte sich für einen Moment: "Tut mir leid! Ich weiß auch nicht, was er hat. Es ist wohl wieder dieser schlimme Traum, der ihn schon seit Tagen immer wieder heimsucht. Da steht plötzlich dieser große Mann vor ihm, der statt eines Kopfes nur einen schrecklich großen, schwarzen Helm trägt und mit düsterer Stimme schweratmend zu ihm sagt: 'Ich bin Dein Vati, Luke!' Und dann wacht der Junge jedesmal schweißgebadet auf". Mit diesen Worten verschwand sie schnellen Schrittes aus dem Wohnzimmer und begab sich hinauf zu Luke ...

Der Inspektor sah nun den Moment gekommen, Phase Zwei seines Plans einzuleiten. Er trat ganz dicht an Cathrin heran und flüsterte: "Hören Sie, Kate. Ich hab nicht viel Zeit! Jane muß das hier nicht mitbekommen, sie hat - glaube ich - im Moment genug um die Ohren mit ihrem kleinen Sohnemann. Aber was ich vorhabe, duldet keinen Aufschub mehr und benötigt vor allem ihr Vertrauen und ihre Mithilfe. Sind Sie dazu bereit?" Cathrin zögerte. Noch immer verstand sie nicht, was den Inspektor dazu bewegt hatte, Jane und sie trotz seines offensichtlichen Wissens um ihre gemeinsame Täterschaft nicht auffliegen zu lassen. Aber letztlich hatte sie auch nichts zu verlieren. Er wußte doch eh alles. Was blieb ihr also weiter übrig, als ihm zu vertrauen und zu hoffen, daß er sie Beide am Ende nicht doch noch ins Gefängnis bringen würde. Und so nickte sie ihm schließlich zaghaft zu. Svensson nahm behutsam ihre Hand und fuhr dann mit seinen Ausführungen fort: "Cathrin, in meiner Dienststelle will man den Fall ihres Mannes noch einmal neu aufrollen. Dabei wird man dann gewiß auf dieselben neuen belastenden Indizien gegen Jane und Sie treffen, die auch ich herausgefunden habe. Das gilt es zu verhindern. Wir müssen der Polizei einen anderen Täter liefern - und dieser tote skrupellose Mafiosi Spirelli wäre dafür ideal. Allein, es gibt praktisch nichts, was seine Person in ausreichendem Maße mit dem Mord an ihrem Mann in Verbindung bringt. Es sei denn, wir würden ..." Cathrin klebte voller Spannung an den Lippen Svenssons, der kurz nach hinten schaute, ob Jane nicht etwa schon zurückkehren würde, und dann ergänzte: "... wir würden in seinem Wagen, der zur Untersuchung im Yard steht, die Tatwaffen finden - jene beiden Küchenmesser von damals. Kate, ich weiß es natürlich nicht hundertprozentig, aber ich hoffe, daß mich meine Menschenkenntnis auch diesmal nicht trübt ... Sie haben die beiden Messer doch damals nicht einfach weggeworfen, oder?! Sie haben sie doch noch, irgendwo hier auf dem Grundstück oder in der Nähe, oder? Sagen Sie mir bitte, daß ich mich da nicht irre!"

Flehend schaute der Inspektor zu Cathrin hinüber, die einen Augenblick später zu seiner Erleichterung erneut vorsichtig nickte und ihm dann zögernd entgegenhauchte: "Ja, ich hab sie noch! Ich hatte Angst, daß - wenn ich sie irgendwo entsorge - sie irgendwer finden würde, und uns die Messer sozusagen zuletzt selbst ans Messer liefern könnten ..." Dann lief sie ohne ein weiteres Wort weinend aus dem Haus in den Garten, wo sie sogleich am Rande des Teichs mit bloßen Händen ein Loch in die Erde grub, aus dem sie einige Sekunden später eine Plastiktüte mit zwei blutverkrusteten Schälmessern ans Licht der Vollmondnacht beförderte. Svensson, der ihr lautlos gefolgt war und ihr die ganze Zeit bei ihrer nächtlichen "Gartenarbeit" über die Schulter geschaut hatte, nahm ihr die verpackten Tatwerkzeuge sogleich aus der Hand und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden. Er lief noch einmal zurück ins Wohnzimmer, wo er eilig seinen Regenmantel schnappte, und verabschiedete sich dann an der Haustür mit einem beruhigenden Schulterklopfen von der gerade ins Haus zurückkehrenden Cathrin mit den Worten: "Alles wird gut! Vertrauen Sie mir! Ich meld mich, wenn alles geklappt hat! ... Und liebe Grüße an Jane! Ich nehme das Angebot für die Taufpatenschaft sehr gern an! Gute Nacht!"

Innerhalb nur einer dreiviertel Stunde langte Svensson samt seinem Drahtesel vorm Eingang des Yard an - neue Bestzeit! Und obwohl er eigentlich erst in einer Viertelstunde hier mit Jack verabredet war, sah er ihn schon von weitem auf einer Bank in der Nähe sitzen und warten. Svensson schloß sein Fahrrad kurzerhand an der Bank an, begrüßte Jack freundlich und sagte dann kurz: "Nicht wundern! Einfach mitspielen!" Blitzschnell ergriff er daraufhin Jack an beiden Armen und ließ ohne Zögern an dessen Handgelenken sein zweites Paar Handschellen klicken. Jack war irritiert, damit hatte er jetzt nicht gerechnet. Der Inspektor erspähte inzwischen im Halbdunkel auf eine kleine - auf der Bank abgestellte - Hebammentasche. Dann sah er Jack fragend an: "Da ist das Werkzeug drin?!" Jack nickte kurz, und schon nahm Svensson die Tasche in seine rechte und Jacks Kragen in seine linke Hand. Dann trieb er den Freund ein wenig unsanft dem Wärterhäuschen am Eingang von New Scotland Yard entgegen.

Yusuf, der heute wie geplant Nachtschicht hatte, kam den Beiden hinter der Schranke bereits entgegen. Auch er war sichtlich überrascht. Was wollte der Inspektor denn so spät noch hier, noch dazu mit einem Festgenommenen? Um Aufklärung bemüht, sprach er Svensson an: "Ey, Inspektor! Was machst Du denn so spät noch hier und wer is der Typ da bei Dir?" Und mit einem Blick auf die Tasche in Svenssons Hand ergänzte er: "Is der Gynäkollege, oder wie?" Svensson schmunzelte ihn an: "Das ist nur ein kleiner durchgeknallter Spinner. Aber was solls? Er soll eine Aussage machen, und die nehm ich jetzt auf, eh er mir morgen wieder entwischt ist, weiß Du?!" Yusuf gab sich verstehend: "Alles klar, Chef! Das is voll korrekt, daß Du auch so spät noch volle Kanne im Dienst bist!" Damit streckte er dem Inspektor die erhobene Hand entgegen, und Svensson gab ihm Fünf - worauf Yusuf die Schranke öffnete und die beiden Männer freudestrahlend passieren ließ.

Der Hof des Yard war gut beleuchtet, schließlich wurde hier ja auch nachts gearbeitet. Aber es gab halt dennoch ein paar Ecken und Wege, die von der nahezu kompletten Ausleuchtung verschont blieben. Svensson kannte sie von seinen eigenen Nachtdiensten nur zu gut und wußte, sie für sich und sein Vorhaben zu nutzen. Und so offnete er Jacks Handschellen wieder und schlich dann mit ihm gemeinsam in gebückter Haltung im Schutze der Dunkelheit in Richtung der Garage der Kriminaltechnik. An deren verschlossener Hintertür konnte Jack gleich das erste Mal sein lang nicht mehr angewandtes Können demonstrieren. Er warf nur einen kurzen Blick auf das Türschloß, angelte dann treffsicher den passenden Dietrich aus der mitgeführten Hebammentasche, und öffnete in Sekundenbruchteilen das so sichere Sicherheitsschloß. Drin waren sie schon mal. Jack entnahm seiner Hebammentasche eine Taschenlampe und schaltete sie ein. In ihrem Lichtkegel war der auffällige Rolce Royce Spirellis schnell ausgemacht und dank Jacks Sachverstand ebenso rasch dessen Kofferraum geöffnet. Svensson zog indes zwei Gummihandschuhe aus seiner Manteltasche und die Tüte mit den blutigen Schälmessern aus der Hosentasche hervor. Er stülpte sich die Gummihandschuh über und holte dann die Messer aus ihrer Plastikumhüllung. Nun zog er sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischte damit gründlichst beide Messer ab, wobei er besonderes Augenmerk auf die Griffe legte. Fingerabdrücke konnte er bei dieser Aktion absolut nicht gebrauchen - weder seine eigenen, noch die von Cathrin oder Jane. Schließlich steckte er sein Taschentuch wieder in die Hose zurück und legte die beiden Messer - ein wenig versteckt und dennoch gut zu finden - in der hintersten Ecke des Kofferraums ab.

In diesem Moment vernahmen Svensson und Jack ein Geräusch. Beide Männer hielten den Atem an. Jack schaltete die Taschenlampe aus, und beide gingen ruckartig in Deckung. Was war das? Ein Wachmann auf seinem Rundgang? Ein Mitarbeiter, der etwas vergessen hatte? Oder hatte man sie etwa entdeckt? Mit zittrigen Händen schaltete Jack die Lampe wieder ein und leuchtete vorsichtig jeden Zentimeter der großen Garagenhalle aus. Irgendwann entdeckten sie die Quelle des Geräusches ... es war eine Ratte, die vermutlich durch die nur angelehnte Tür von draußen hereingehuscht war und nun - ängstlicher als die beiden Männer zusammen - im blendenden Lichtschein zügig den Rückweg antrat. Svensson und Jack waren erleichtert. Auch für sie war es nun höchste Zeit zum Rückzug. Und so schloß der Inspektor vorsichtig die Kofferraumklappe wieder, die Jack anschließend ebenso fachmännisch wieder verschloß wie beim Hinausgehen die Tür des Garagengebäudes. Gebückt schlichen sie zurück über den Hof, von wo sie sich ohne Umwege schleunigst in Richtung Ausgang aufmachten. Yusuf verabschiedete die beiden Männer grinsend: "Ey Alder, schönen Abend noch! Und Du mit der komischen Babydoktortasche da, Du legst Dich besser nicht mehr mit Inspektor Lukas an, sonst kriegst Du mächtig Ärger mit Yusuf, ich schwör!"

An der Sitzbank, wo Svensson sein Fahrrad ebenso rasch von den Handschellen befreite, wie er es vorhin im Hof des Yard mit Jack getan hatte, verabschiedete sich nun auch der Inspektor gebührend von seinem Mitverschwörer Jack. Er dankte ihm mit Tränen in den Augen für seinen illegalen und nicht ganz ungefährlichen Einsatz und umarmte ihn dann noch einmal ganz fest, bevor sich die Wege der Zwei wieder trennten. Der Weg des Inspektors führte nun endlich nach Hause zu seiner Yelena. Und ihm fiel dabei ein riesengroßer Stein vom Herzen, denn sein Plan schien hundertprozentig geklappt zu haben. Lediglich Wannebe mußte jetzt noch aus dem dezent platzierten Hinweis die richtigen Schlüsse ziehen, aber das sollte wohl selbst jemand wie er hinbekommen. Erleichtert wollte er sich mit seinem Taschentuch die schweißnasse Stirn wischen, aber zu seinem Entsetzen war es nicht in seiner Hosentasche. Hatte er es etwa neben dem Wagen Spirellis verloren? Das konnte er sich irgendwie nicht vorstellen! Er war sicher, es wieder ordentlich eingesteckt zu haben. Und irgendwo auf dem Rückweg? Egal, er konnte nicht noch einmal zurück, ohne daß es unnötiges Aufsehen erregen würde. Er konnte einfach nur beten und hoffen, daß das Tuch nicht in falsche Hände geriet. Und so lenkte er sich von all den düsteren Gedanken ab, indem er nur umso schneller in die Pedalen trat.

Gegen Mitternacht erreichte er endlich die gemeinsame Wohnung, wo Yelena schon sehnsüchtig auf ihn wartete und ihn nach einem innigen Kuß gleich mit einer Überraschung empfing. Im Flur stand nämlich ein Paket für ihn. Und während Yelena es ihm aufgeregt entgegenhielt, sagte sie: "Aus Amerika, Los Angelas, von ein gewisser Jack ..." Svensson nickte und strahlte dabei übers ganze Gesicht: "Ah, dann weiß ich schon! Ich hab ihn vor ein paar Tagen angerufen und ihn gefragt, ob er zu unserer Hochzeit vorbeikommt. Leider ist er dienstlich verhindert. Die haben da schon wieder mal so eine extrem ernstzunehmende Terrorwarnung! Aber er hat mir versprochen, mir ein Geschenk zu schicken ... Das ist es dann wohl! Mal sehen ..." Mit diesen Worten riß der Inspektor dem Paket die packpapierne Hülle vom Leib und entnahm den Flurschränkchen einen Brieföffner, mit dem er gekonnt das Klebeband auf der Oberseite durchtrennte und diese dann zu beiden Seiten hochklappte. Dann beförderte er erwartungsvoll den Inhalt des Pakets zutage: Ein kleines Schmuckkästchen und einen Brief". Svensson entfaltete das Paier und las laut vor: "Lieber Lukas! Entschuldige, daß ich nicht selbst zu Deiner Hochzeit kommen kann. Dabei hätte ich Deine bezaubernde Frau gern einmal selbst kennengelernt, wo Du mir bei unseren Telefonaten in den vergangenen Jahren immer soviel von ihr vorgeschwärmt hast. Aber Du weißt ja selbst, wie unser Job ist. Für Privatleben und Freunde bleibt da meist recht wenig Zeit. Nichts desto trotz hab ich Dir - oder besser Euch beiden - aus gegebenem Anlaß gern eine Kleinigkeit schenken wollen. Etwas, was Du sicher gut gebrauchen kannst, Herr Inspektor a.D., und Deine Yelena vielleicht sogar noch viel mehr zu schätzen weiß. Auf den ersten Blick ist es nur ein einfacher silberner Armreif, aber dahinter verbirgt sich eins dieser kleinen technischen Wunderwerke unserer Zeit. Das Schmuckstück enthält nämlich einen Minipeilsender, über den Dich Deine Frau auf eventuellen außerehelichen Einsätzen dann immer und überall ausfindig machen kann, übers Internet oder Handy. Und da ich ja weiß, daß Yelena in diesen Dingen deutlich bewanderter ist als Du, kannst Du ihr nun praktisch keine einzige Minute mehr entkommen. Meinen Glückwunsch, Lukas! Und viel Glück für Deine Ehe! Dein Freund Jack!"

Svensson schüttelte den Kopf und sprach dann zu sich selbst: "Ach Jack! Schade, daß Du nicht hier sein kannst, ich hätt Dich so gern mal wieder gesehen und mit Dir geplaudert". Und mit einem Seufzer fügte er hinzu: "Naja, da kann man nichts machen! Wenn er doch mal Lust und Zeit hat, mich zu besuchen, dann kann er mich ja jetzt jederzeit über das Netz orten". Und damit entnahm er dem beigefügten Kästchen den beschriebenen Armreif und legte ihn sich an. Er wollte ihn gerade voller Stolz Yelena vorführen, als das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Svensson war schon im Losstürmen begriffen, aber Yelena winkte lächelnd ab: "Laß nur, ich gehen schon dran!" So verschwand sie fürs Erste im Wohnzimmer, wo Svensson sie den Hörer abnehmen und sagen hörte: "Ja, hier Anschluß Svensson und Zladkaja, aber bald schon Svensson und Svensson. Wer sein da?" Einige Augenblicke wartete Yelena scheinbar auf eine Antwort, dann fragte sie nochmals: "Hallo, wer sein denn da zu nachtschlafendes Zeit?" Jetzt vernahm Svensson im Flur ein leises, fremdländisch anmutendes Gebrabbel, das offenbar dem Telefonhörer entstammte und schon nach wenigen Momenten wieder abrupt endete. Yelena stellte das Mobilteil ruckartig auf die Ladestation zurück und kehrte ein wenig abwesend wirkend in den Flur zurück. Svennson schaute sie einen Augenblick an, wie sie so mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern dastand und einfach nur vor sich hin starrte, dann fragte er: "Was ist denn Liebes? Was Schlimmes?" Yelena hob kurz den Kopf und schaute ihren Lukas dabei ein wenig entgeistert an: "Was? Wie? ... Nein, ach, nichts! Nur falsches verbunden!" Irgendwie nahm ihr Svensson das nicht so recht ab, dafür wirkte sie einfach mit einem Male zu verändert. Aber andererseits hatten sie keine Geheimnisse voreinander, also hätte sie ihm sicher schon gesagt, wenn es etwas Ernstes gewesen wäre. Vielleicht war es ja wirklich nur jemand, der sich verwählt hatte, und ihre plötzliche Stimmungsänderung hing mit etwas ganz anderem zusammen - beispielsweise mit den Aufregungen der immer näherrückenden Hochzeit.

Und genau das schien tatsächlich der Grund zu sein, denn einen Augenblick später kam ihm Yelena schulterzuckend mit einem ganzen Stapel Formulare entgegengelaufen. Sie verdrehte kurz die Augen und meinte dann: "Svens Sohn Lukas, können Du das alles ausfüllern für uns? Ich stehen mit Rechts-Schreibung und Gramatik noch immer auf - wie Du doch immer sagen - Kriegerfüße??" Svensson lächelte: "Kriegsfuß, mein Schatz, Kriegsfuß!" Yelena nickte eifrig: "Ja, richtig - Kriegsfuß! - Aber ich wollen das ändern bald. Ich haben mich angemeldet für Sprachkurs in Abendschule, von nächste Woche ab. Bald ich werden alles besser sprechen können und keinen Fehler machen mehr! Versprochen! So wahr ich Dich lieben ohne Ende!" Damit ließ sie all die Formulare einfach auf den Fußboden segeln und hüpfte dann ihrem Lukas um den Hals. Eine halbe Stunde später lagen sie zusammen engumschlungen in ihrem Bett, und Lukas flüsterte ihr zärtlich ins Ohr: "So ganz ohne Fehler ist aber dann eigentlich auch schade! In ein paar Deiner süßen Fehlerchen hab ich mich nämlich inzwischen schon fast genauso sehr verliebt wie in den zauberhaften Akzent und ... in Dich!" Und damit verschmolz sein Mund mit dem ihren für einen schier endlosen Moment in einem leidenschaftlichen Kuß, der zudem in einem äußerst intensiven Spiel der Zungen gipfelte. Als sich ihre Lippen endlich wieder voneinander loszureißen wagten, hauchte Yelena erschöpft: "Was Du denn genau meinen damit, Liebes Gutes?" Und Svensson mußte gar nicht lange nachdenken, um ein passendes Beispiel zu finden für einen besonders süßen kleinen Fehler in ihrer Aussprache: "Also, am meisten mag ich, wenn Du sexy sagen möchtest, und am Ende kommt dabei nach allem Üben doch immer nur eines raus ... nämlich: saxi!" Das Lachen, in das Yelena daraufhin ausbrach, wirkte ansteckend auf Lukas. Und so kicherten sie beide minutenlang um die Wette, während ihre Hände einander gleichzeitig streichelnd liebkosten. Und später - schon im Halbschlaf bemerkte Yelena in Lukas Armen versunken schließlich noch einmal ganz leise: "Oh, wie schön! Bald ich sein verheiratet mit saxiest Mann auf ganzes Erden, mein Svens Sohn Lukas! Ich Dich lieben!" Und ihr Lukas murmelte zufrieden zurück: "Ich Dich auch!" ...

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sven1421

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19

Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:36

Episode 19: Endstation Gefängnis

Unter dem zarten, hellen Läuten eines Glöckchens öffnete sich geräuschvoll die Fahrstuhltür und gab nach dem Heraustreten die Sicht frei auf den langen, vom künstlichen Neonlicht hell erleuchteten Flur mit dem roten Teppich und den zahlreichen Türen rechts und links des schmalen Ganges. Fast gleichzeitig trat aus jeder der neun Türen je eine schick zurechtgemachte Dame mit einem kleinen Blumenstrauß heraus, wobei der scheidende Inspektor in der Dame in der ersten - dem Fahrstuhl gegenüberliegenden Bürotür - sofort die attraktive junge Sekretärin Sabrina wiedererkannte, die ihm einmal mit seinem widerspenstigen Organiser weitergeholfen hatte, als der damals eine Nachricht von dem aufgeblasenen Wannabe einfach nicht preisgeben wollte. Er trat einen Schritt auf sie zu und sie auf ihn, und dann überreichte sie ihm mit einem kleinen verstohlenen Tränchen im Auge ihren Blumenstrauß mit den Worten: "Lieber Inspektor Svensson! Dieser kleine Empfang hier war meine spontane Idee. Über all die Jahre waren sie einer der wenigen Beamten hier im Yard, der uns als einfachen und unscheinbaren Vorzimmerdamen immer mit Höflichkeit, Freundlichkeit und Achtung gegenübergetreten ist. Nie kam ein abwertendes oder gar böses Wort über ihre Lippen. Im Gegenteil: Wo sie nur konnten, haben Sie uns geholfen und uns Arbeiten abgenommen. Jede von uns kam wohl mehr als einmal in den Genuß, von Ihnen in der Cafeteria vorgelassen zu werden, wenn wir - oder besser gesagt unsere Chefs - es mal wieder extrem eilig hatten und uns daher nur wenige Minuten für einen Kaffee zwischendurch blieb. Und hin und wieder haben Sie uns dann sogar einen Kaffee spendiert und mit uns geplaudert, wobei man stets spürte, daß sie sich wirklich für unsere kleinen Sorgen und Probleme interessierten. Bei Ihnen konnte man sich auch mal all seinen angestauten Frust von der Seele reden, ohne daß man fürchten mußte, Sie würden es anschließend gleich brühwarm unseren Chefs weitererzählen. Langer Rede, kurzer Sinn: An ihrem letzten Tag hier in diesen heiligen Hallen wollten wir uns alle einmal mit einem kleinen Blumengruß bei Ihnen bedanken. Das Yard wird verliert mit Ihrem Fortgang einen großen Teil seiner eh in unserer heutigen Zeit schon so selten anzutreffenden menschlichen Wärme. Und das finden wir alle sehr, sehr schade. Wir für unseren Teil werden Sie jedenfalls alle schrecklich vermissen!"

Svensson war gerührt. Er bedankte sich vielmals, und während er nun bedächtigen Schrittes wie ein Filmstar würdevoll den roten Teppich abschritt und händeschüttelnd auch die anderen acht Blumensträuße in Empfang nahm, kullerte auch ihm so manche verstohlene Abschiedsträne aus seinen Augen. Er versuchte schließlich am Ende des Ganges angelangt, vor der Tür mit der Nummer 2009 seinen Tränenfluß einzudämmen, indem er die Augen schloß, während er gerade seinen letzten Blumengruß aus den Händen der wiedergenesenen Chefsekretärin Claudia entgegennahm, die sich momentan nur noch die Nase schnaubte, weil auch sie inzwischen von jenem feierlichen Augenblick überwältigt worden war. Und während sie sich noch die Tränchen aus den Augenwinkeln rieb, glaubte der Inspektor mit seinen immer noch geschlossenen Augen nun ganz hollywoodlike sogar das Blitzlichtgewitter der Paparazzi um sich herum zu vernehmen. Er öffnete die Augen wieder und entdeckte sofort, woher das mißinterpretierte Geräusch in Wirklichkeit kam. Die vermeindliche Fotokamera war vielmehr eine der Neonröhren der Deckenbeleuchtung, die äußerst geräuschvoll wild vor sich herflackerte. Jeder andere Mitarbeiter hätte in dieser Situation wohl umgehend den Hausmeister aus seinem Kellerbau geklingelt, aber nicht Inspektor Svensson, für den zuallererst immer noch der Grundsatz galt: Selbst ist der Mann! Und so ließ er sich von der erstaunten Claudia einen Stuhl aus dem Vorzimmer geben, erklomm ihn ohne Zögern und drehte den flackernden Störenfried ein paar Mal vorsichtig hin und her, bis er schließlich das aufmüpfige Blinken wieder einstellte, womit auf dem Flur wieder völlige Ruhe einkehrte - bis auf das leichste Schluchzen und vorsichtige Schnäuzen der anwesenden Damen und des einzelnen anwesenden Herren, der sich nach einer letzten tiefen Verbeugung vor seinen weiblichen "Fans" nun mitsamt dem geliehenen Stuhl ins Vozimmer Freakadellys begab. Claudia schloß die Tür hinter ihm und sich, beseitigte noch einmal ihre Tränchen und klopfte dann beherzt gegen die Tür ihres Chefs. Sie öffnete sie und ließ Svensson auf seinem allerletzten amtlichen Gang als Inspektor von Scotland Yard passieren.

Freakadelly erhob sich von seinem Platz, reichte Svensson freundlich die Hand und begann dann mit seiner Abschiedsansprache: "Sehr geehrter Inspektor Svensson, nun ist also der Zeitpunkt gekommen, da sich ihre Wege und die Wege des Yard für immer trennen. Eine lange Wegstrecke waren diese beiden Wege dieselben. Oft war die Straße steinig, besonders dann, wenn es galt, extrem schwierige und sehr grausame Verbrechen zu klären. Und nicht immer waren Sie und ich auf diesem Weg einer Meinung über Richtung, Gangart und Tempo. Aber dennoch schätzte und schätze ich Sie als einen Kriminalisten mit Herz, einen der alten Schule. Und zu so jemandem gehört seine Eigenart und seine damit verbundene Streitbarkeit nunmal dazu. Alles in allem können das Yard und ich uns jedoch geehrt fühlen, jemanden wie Sie all die Jahre in unseren Reihen gehabt zu haben. Und nun gönnen wir Ihnen von ganzem Herzen Ihren wohlverdienten Ruhestand, der noch dazu auch privat einen ganz neuen Lebensabschnitt für Sie eröffnen wird. Was kann man sich noch mehr wünschen als so einen rundum glückverheißenden Lebensabend?! Also, kurzum, ich wünsche Ihnen alles Glück der Welt, auch wenn wir hier größtenteils Ihren Abschied mit einem lachenden und einem weinenden Auge sehen!" Damit erhob sich der Chief Superintendent erneut, trat vor seinem Schreibtisch zur Rechten Svenssons und verbeugte sich ehrfürchtig vor seinem Untergebenen. Svensson reichte ihm die rechte Hand zum Handschlag, während er ihm mit der linken ganz leicht auf die Schulter klopfte: "Danke, Herr Chief Superintendent!" Der inzwischen wieder aufrechtstehende Freakadelly schüttelte den Kopf: "Nennen Sie mich einfach Harold, oder noch besser Harry, so nennen mich meine Freunde. Und nicht einmal mein Schwiegersohn darf mich so nennen!" Damit zwinkerte er Svensson recht eindeutig zweideutig zu. Und der blinzelte zurück und meinte: "Ja, einer jener wenigen Mitarbeiter, die meinen Abgang wohl mit zwei lachenden Augen sehen, nicht wahr?! Aber das ist nicht weiter wild. Es sei ihm gegönnt. Mit seiner ganzen hochnäsigen Art, die ihm niemals wirkliche Freunde verschaffen wird, ist er eh schon bestraft genug". Und der Chief Superintendent setzte sogar noch eins obendrauf mit seiner Bemerkung: "Naja, und mit meiner ziemlich verzogenen Tochter hat er es auch nicht gerade leicht getroffen. Die schlägt irgendwie ganz und gar nach ihrer Mutter". Nch dieser Aussage biß er sich selbst auf die Lippe und schaute sich ruckartig nach dem Bild seiner Gattin auf seinem Schreibtisch um, so als hätte dies alles gehört und könne es nun jederzeit seinem fleischlichen Ebenbild ausplaudern. Doch schon im nächsten Moment mußte er über sich selbst schmunzeln. Welch ein Humbug! Auch wenn die Ohren seiner Angetrauten erfahrungsgemäß alles hörten, vor den ehrwürdigen Mauern des Yard mußten selbst sie halt machen.

Freakadelly bot Svensson daraufhin als Abschiedstrunk noch einen Scotch an, aber der winkte nur ab: "Nein, ich will den ganzen Abschied nicht noch unnötig in die Länge ziehen. Das macht es mir nicht leichter. Außerdem wartet meine angehende Frau schon zuhause auf mich, und ich hab zuvor noch eine Verabredung im Keller und ins Gefängnis muß ich auch noch ..." Freakadelly erstartte mit einem Male mit offenem Mund zur Salzsäule. Aber Svensson grinste nur: "Nein, nicht als Insasse, nur als Besucher! Aber wenn Sie möchten, verehrtester Harry, sind Sie herzlich eingeladen, wenn meine Freunde für mich übermorgen abend eine Art Junggesellenabschiedsparty in meiner Stammkneipe 'My Redemption' schmeißen". Der Chief Superintendent begann, sich wieder aus der kurzzeitigen Erstarrung zu lösen und nickte begeistert: "So entkomm ich meiner gestrengen Nora zuhause mal für ein paar Stunden. Das Angebot nehm ich gern an". Svensson hatte derweil begonnen, in seinen Manteltaschen zu kramen, aus denen er nun Dienstausweis und Waffe herauszog, ebenso wie seine Handschellen - jenes Paar, das er nicht als Fahrradschloß zu mißbrauchen pflegte - sowie seinen ungeliebten Organiser. Freakadelly nahm die Sachen entgegen und verstaute sie sogleich in seiner Schreibtischschublade. Nur den Organiser gab er Svensson zurück. Und als der nur mit den Schultern zuckte, meinte Freakadelly zur Erklärung: "Es ist uns eine liebe Tradition geworden, daß wir diese Dinger unseren Beamten bei ihrem Ausscheiden als Geschenk überlassen, zusammen mit ... " Und damit zog er noch einmal seine Schublade heraus und kramte etwas hervor: "... dieser Goldenen Uhr, in die ihr Name und ihre Dienstzeit eingraviert sind. Meinen Glückwunsch!" Svensson bedankte sich höflich, schüttelte Freakadelly nochmals kräftig die Hand und öffnete den Deckel der Taschenuhr, aus der ihm daraufhin sofort die Melodie "Üb immer Treu und Redlichkeit" entgegenklang. Der Inspektor erschrak: "Oh, schon wieder 15 Uhr. Jetzt müßte ich aber ..." Freakadelly winkte ab und drückte Svensson noch einmal auf seinen Stuhl zurück, worauf er den Fernseher neben dem Schrebtisch einschaltete: "Ich glaube, den Moment für die große Stunde ihres 'liebsten' Kollegen Wannabe haben Sie schon noch, oder?!" Svensson war heute so angenehm feierlich zumute, daß er sogar bereit war, auch noch das über sich ergehen zu lassen. Und außerdem wollte er ja schließlich auch wissen, ob seine gefährliche nächtliche Aktion in Sachen Mordfall Napolitani den gewünschten Erfolg zeigte ...

Es dauerte ein wenig, bis sich bei dem alten TV Gerät Freakadellys Bild und Ton einfanden, aber dann erschien auch schon wie auf ein Stichwort Wannabes grinsendes Honigpferdgesicht auf der Mattscheibe und drohte sie sogleich zu sprengen, während es aus dem Lautsprecher herausgrölte: "Meine Damen und Herren von der Presse! Danke für Ihr zahlreiches Erscheinen! Ich bin Charles Wannabe, meines Zeichens Chefinspektor bei Scotland Yard und mache sie nun mit den neusten Erkenntnissen im Mordfall des als der 'Pate von London' berüchtigten und in den Abendstunden des vergangenen Donnerstag vor seiner Villa mit sechs Pistolenschüssen hingerichteten Salvatore Spirelli bekannt. Doch zuvor habe ich noch eine damit verbundene sensationelle Wendung im Mordfall
des vor vier Jahren ebenfalls grausam ermordeten Bankangestellten Steven Napolitani zu verkünden. Bei der Durchsuchung des Rolce Royce des verstorbenen Mister Spirelli entdeckten unsere Kriminaltechniker in den gestrigen Morgenstunden zufällig zwei blutverschmierte handelsübliche Schälmesser, die sich im Verlauf der weiteren Untersuchungen eindeutig als die bis dato verschollenen Tatwaffen im damaligen Mordfall handelt. Damit wird der von mir von Anfang an gehegte Verdacht zur Gewißheit, daß Spirelli und seine Leute hinter der Ermordung von Steven Napolitani stecken. Die Beweisstücke wurden umgehend der Staatsanwaltschaft überstellt, die in den nächsten Tagen postum Anklage gegen Salvatore Spirelli erheben wird wegen Mordes beziehungsweise Anstiftung zum Mord an Steven Napolitani ..." Svensson erhob sich von seinem Stuhl. Er hatte genug gesehen, und den Rest dieser Ein-Mann-Show ließ er jetzt Freakadelly ganz für sich allein genießen. Noch einmal reichte er seinem Ex-Chef die Hand und dann verließ er auf leisen Sohlen dessen Büro.

Im Vorzimmer verabschiedete er sich noch einmal von Claudia und bat sie, sich in seinem Namen auch noch einmal ganz herzlich bei all ihren Kolleginnen für die gelungene Überraschung vorhin zu bedanken. Dann überreichte er ihr die Goldene Uhr als kleine Aufmerksamkeit mit den Worten: "Ich bin ja noch nicht tot und auch nicht senil und weiß noch, wie ich heiße. Behalten Sie sie und mich in guter Erinnerung!" Damit ließ er Claudia sprachlos stehen und trat hinaus in den Flur. Gegenüber dem Fahrstuhl machte er noch einmal kurz halt, klopfte kurz an die Tür und hielt der heraustretenden Sabrina seinen Organiser mit den Worten entgegen: "Wenn einer weiß, wie man das Dings zweckvoll benutzt, dann Sie, liebes Fräulein! Und danke nochmal für die wundervolle Verabschiedung!" Damit überreichte er ihr den Organiser, schüttelte ihr noch einmal die Hand, drehte sich um und drückte den Fahrstuhlknopf.
Wenige Sekunden später öffnete sich unter sanftem Glockenklang die Aufzugtür, und Svensson ließ sich ein allerletztes Mal zu den Klängen von "Time To Say Goodbye" liften. Wer hoch steigt, der kann tief fallen - und noch tiefer fahren - in Svenssons Fall sogar bis in den Keller. Hier angekommen begab sich Svensson schnellen Schrittes zu der Tür mit der Aufschrift Archiv, wo auf sein beherztes Klopfen eine schrille Stimme "Herein" rief. Carla O'Brien hatte ihn schon sehnsüchtig erwartet. Sie fiel ihm sogleich um den Hals und meinte dann, während sie ihren Oberkörper noch rasch aus ihrer Anzugjacke befreite: "Ok, Lukas, laß es uns noch einmal tun, ein allerletztes Mal. Komm! Noch einmal, bevor Du für immer gehst!" Auch Svensson entledigte sich noch rasch seines Mantels und nahm dann erwartungsvoll auf einem der bereitstehenden Bürodrehstühle Platz. Dabei sah er Carla fragend in die Augen: "Hast Du denn auch an alles gedacht?" Carla nickte, und während sie mit einer Hand noch den obersten Knopf ihrer rosa Bluse öffnete, wies ihre andere Hand lässig auf den mit Akten überladenen Thresen: "Das ist doch eh alles, was wir dazu brauchen oder?!" Svensson strahlte: "Ja, da hast Du Recht! Ok, laß uns anfangen ..."

Und damit nahm Carla die oberste Akte zur Hand, öffnete ihren Deckel und las dann laut und deutlich vor: "Name: Steven Arturo Napolitani, Spitzname: Stevie, Wohnhaft: London, Al-Meida-Street 88, Geboren: 13.01.1969 in Neapel, Gestorben: 19.08.2005 in London, Nähe Hampstead. Staatsangehörigkeit: Großbrittanien, Familienstand: Verheiratet, Beruf: Leitender Angestellter bei der Londoner Privatbank "Clever & Rich", Größe: 1,88 Meter, Haare: Dunkelbraun, Augenfarbe: Graublau, Ehemann von Cathrin Napolitani". Und Inspektor Svensson ergänzte aus dem Gedächtnis heraus: "Besondere Merkmale: Waschbrettbauch, ein absoluter Perfektionist mit großen Knopfaugen, trug am liebsten Maßanzüge und überschätzte sich und seine Attraktivität für andere damit am Ende maßlos". Dann ließ er sich die Akte reichen und verlas den Rest der Angaben: "Er lernte seine spätere Frau Cathrin Jackson am 30.08.1987 auf einem Collegeabschlußball kennen, wo er sie auf dem Nachhauseweg auch das erste Mal küßte. Verlobung der Beiden war am 08.02.1988 und ihre Hochzeit am 08.08.1988. Er wurde am 19.08.2005 gegen 15.45 Uhr ermordet ... wahrscheinlich durch Salvatore Spirelli und dessen Hintermänner, wie sich gerade eben herausgestellt hat".

Carla nickte: "Ja, ich hab die Pressekonferenz Wannabes auch grad im Radio mitverfolgen können". Svensson schloß die Akte mit den Worten: "Die Beisetzung seiner sterbliche Überreste fand am 24.08.2005 hier in London im Kreise der Familie und Freunde statt. Ich war selbst dabei". Carla hatte inzwischen die Akte wieder an sich genommen und wollte sie gerade beiseite legen, als sie erstaunt innehielt: "Hey, Lukas, hier fehlt ja ein Blatt. Die Seite 24, laut Inhaltsverzeichnis die Aussage eines gewissen Zugbegleiters". Svensson fühlte sich ertappt, schloß seine Augen und tat rasch so, als würde er nachdenken: "Das hab ich, glaub ich, noch im Kopf. Der Zugbegleiter sagte damals dem Sinn nach nur: 'Ich sah nichts Auffälliges. Gar nichts ...'. Das war es, wenn ich mich recht entsinne". Carla schüttelte ungläubig den Kopf: "Das ist in all den Jahren, die wir dieses kleine Ritual hier nach Beendigung eines Falles nun schon pflegen, noch nie vorgekommen, daß bei Deiner peniblen Genauigkeit, was Deine Akten und Notizen betrifft, einmal ein Zettel - geschweige denn gleich ein ganzes Aktenblatt - weggekommen ist". Svensson öffnete seine Augen wieder und meinte schulterzuckend: "Man wird eben alt. Darum trete ich ja jetzt auch ab, bevor mir am Ende gar noch eine Leiche abhanden kommt!" Carla lächelte und schlug ihm die inzwischen geschlossene Akte sanft auf den Kopf: "Du unverbesserlicher alter Spinner!"

Danach legte sie die Akte "Steven Napolitani" gesondert von all den anderen auf eines jener kleinen Wägelchen hinter ihrem Thresen, von dem aus sie dann von einem Praktikanten nach oben in die verschiedenen Büros transportiert wurden. Carla seufzte laut: "Ach, es ist eine Schande! Jetzt geht die Akte wieder hoch zu diesem aufgeblasenen Wannabe, damit er sie dann erfolgreich abschließen kann. Und sicher wird er dadurch auch wieder einen gehörigen Sprung auf der Karrieretreppe machen. Man munkelt ja schon lange, daß er als Chef für diese neu zu bildende Antiterroreinheit des Yard CI7 im Gespräch ist. Und nun, da er diesen medienwirksamen Fall gelöst hat, wird er es wohl auch werden. Nur die Guten, die gehn aufgrund ihrer Anständigkeit und Bescheidenheit immer leer aus". Dabei schaute sie ein wenig traurig auf Svensson.

Dann zückte sie die nächste Akte vom Stapel und begann aus ihrem Inneren vorzulesen: "Name: Francesca Scampi, Wohnort: London, Caruso Road 66, Geboren: 04.07.1989 in London, Gestorben: 12.08.2009 in London, Staatsangehörigkeit: Großbrittanien, Familienstand: Ledig, Beruf: Schulabgängerin, Größe: 1,52 Meter, Haare: Lang und Blond, Augenfarbe: Blau, Tochter von Alberto Scampi". Und wieder ergänzte Svensson, indem er sich die Akte herüberreichen ließ: "Sie war seit dem Abend des 12.08.2005 frisch verliebt in einen zwei Jahre älteren Mitschüler namens Marco Giotti. Am 20.08.2005 wurde sie als Minderjährige brutalstens vergewaltigt von Salvatore Spirelli in dessen Villa. Dieser machte sie 7 Tage später auf einer Privatfeier in seiner Villa auch heroinabhängig und zwang sie danach immer und immer wieder zur Prostitution. Am 26.07.2007 nahm ich sie im Rahmen einer erfolglosen Drogenrazzia im Hause Spirelli fest und vernahm sie. Am 12.08.2009 stellte man bei ihr im Rahmen einer Routineuntersuchung den HIV-Virus fest, worauf sie sich in der scheinbaren Aussichtslosigkeit ihrer Lage noch am Abend desselben Tages gegen 20 Uhr durch einen Sprung von der Tower Bridge in die Themse das Leben nahm!" Er schloß die Akte und ergänzte: "Und am 15.08.2009 fand in Anwesenheit nur zweier Personen - der jenes Marco Giotti und meiner Wenigkeit - ihre Beisetzung statt. Traurig, oder?! Vor allem, daß ihr Vater Alberto Scampi nicht teilnehmen durfte ..."

Und Carla kannte auch den Grund dafür: "Ja, weil jener Alberto Scampi nur einen Tag nach dem Freitod seiner einzigen Tochter, gegen 22.15 Uhr jenen Salvatore Spirelli erschoß, der das unschuldige Leben von Francesca zerstört und damit auch ihren Tod zu verantworten hat. Wenn auch vielleicht nicht vor dem Gesetz, dann doch vor seinem Gewissen, falls jemand wie Spirelli sich überhaupt jemals in seinem Leben den Luxus geleistet hat, ein solches zu besitzen". Svensson übergab Carla die Akte wieder. Und auch hier fiuel ihr beim nochmaligen Durchblättern ein Widerspruch auf: "Hier steht unter Anlagen auch ein Tagebuch der Verstorbenen. Das liegt der Akte aber nicht bei, Lukas?!" Svensson nickte, während er sich gleichzeitig von seinem Platz erhob und nach seinem Mantel griff: "Das stimmt, ich hab das Tagebuch hier am Mann. Und jetzt ist es höchste Zeit, daß ich es dem Menschen übergebe, der am meisten Recht hat, zu erfahren, was Francesca darin aufgeschrieben hat". Mit diesem Worten nahm er Carla noch einmal in die Arme und hauchte ihr ins Ohr: "Dein kleines schrilles Stimmchen wird mir fehlen, aber ich verspreche, daß ich mich mal ab und zu auf einen Kaffee bei Dir sehen lasse". Carla lächelte: "Das will ich auch schwer hoffen, Deine lieben Kollegen lassen sich nämlich nie und nimmer hier unten blicken. Die haben viel zu viel Schiß, daß sie bei mir ihre ach so teuren Gucchis und Armanis dreckig machen". Svensson grinste sie noch einmal verständnisvoll an, dann war er auch schon auf dem Weg nach draußen.

Übers Treppenhaus lief er gemächlichen Schrittes die Stufen hinauf zur Rezeption im Foyer, wo er sich per Handschlag von seinem Freund George verabschiedete mit den Worten: "Na dann bis übermorgen!". Und Yusuf hinter seinem Schlagbaum rief er im Vorbeiradeln zu: "Ey, Yusuf ... übermorgen abend Lokal-Termin. Wenn Du nicht kommst, bist Du nicht mehr mein Buddy, guckst Du!" Und Yusuf strahlte übers ganze Gesicht und rief ihm nach: "Voll krasse Sache, Alder! Da bin ich konkret mit dabei!"

Anderthalb Stunden später stand zum zweiten Mal an diesem Nachmittag vor einem langen, vom künstlichen Neonlicht erleuchteten Flur mit zahlreichen Türen rechts und links des schmalen Ganges. Doch hier gab es keinen roten Teppich, nur kalten grauen Steinboden, und die Türen waren vergittert. Die Tür, die sich am Beginn jenes Ganges eben gerade vor Svensson öffnete, bestand ebenfalls aus lauter dicken, miteinander fest verschweißten Gitterstäben. Und es war auch kein zartes Glöckchen, das akustisch vom Öffnen der Tür kündete, sondern ein schriller, lauter Sirenenton. Fahrstühle gab es hier erst gar keine, wozu auch. Hier konnte man nicht großartig nach oben aufsteigen. Und wer hinter diesen Gittertüren sein vorübergehendes Domizil bezogen hatte, der brauchte auch nicht mehr nach unten - der war nämlich meistens schon längst ganz unten angekommen. Noch eine weitere Gittertür trennte Svensson nun von jenem Zellengang, in dem die Untersuchungshäftlinge untergebracht waren. Hier, im Niemandsland der beiden Gittertüren - von denen eine wieder nach draußen in die Freiheit führte, die andere aber nach drinnen in die zeitlich festgelegte Einsamkeit einer kleinen Gefängniszelle - eingeschlossen, gab es zur Rechten und zur Linken zusätzlich je einen kleinen Raum: In dem einen saßen Teile der Wachmannschaften, der andere war für Häftlinge und ihre Besucher gedacht.

Freundlich stellte sich Svensson dem Wachmann am Schalter des Wachraumes vor und schilderte ihm sein Anliegen. Der Beamte ließ sich seinen Ausweis aushändigen, wobei es für Lukas Svensson völlig ungewohnt war, sich mit seinem Personalausweis zu identifizieren statt mit seinem Dienstausweis. Dann schaute der Uniformierte den Gast eindringlich an und schüttelte mehrfach deutlich seinen Kopf hin und her: "Mister Svensson, dem Untersuchungsgefangenen Alberto Scampi - Häftlingsnummer: 240172 - ist es nicht gestattet, Besuch zu empfangen. Das ist eine Anweisung von ganz oben! Tut mir leid! Und nun muß ich Sie bitten, diesen Sicherheitsbereich umgehend wieder zu verlassen, Sir!" Svensson schaute kurz auf die Schulterstücke und das Namensschild an der Uniform seines Gesprächspartners, dann erwiderte er: "Hören Sie, Sergeant Higgins, so einfach gehe ich hier sicher nicht weg! Sie haben doch da ein Telefon vor sich! Verbinden Sie mich bitte mit Direktor Simmons!" Der Sergeant war ein wenig verblüfft, daß dieser Zivilist den Namen des Gefängnisdirektors kannte, aber er tat dennoch sofort, was Svensson wünschte und stellte die Verbindung her. Es dauerte nur eine Minute, und schon hatte Lukas Svensson eine Ausnahmegenehmigung für den Besuch Alberto Scampis. Schließlich kannte Direktor Simmons den ehemaligen Inspektor nur allzu gut. Er war schließlich stets einer jener eifrigen Verbrecherjäger gewesen, die dafür sorgten, daß sein gastliches Haus in den meisten Fällen randvoll mit meist unfreiwilligen Gästen ausgebucht war. Sergeant Higgins begleitete Lukas Svensson in den Besucherraum, wohin er anschließend auch den Untersuchungshäftling mit der Nummer 240172 auf direktem Weg aus seiner Zelle brachte.

Svensson schaute sich kurz um. Der Besucherraum war eine kleine ehemalige Zelle, in deren Mitte man einfach einen Tisch und zwei Campingstühle gestellt hatte. Lukas nahm kurz Platz, erhob sich bei Scampis Eintreten aber sofort wieder und reichte ihm zur Begrüßung die Hand. Dann setzten sich beide, und Lukas Svensson eröffnete die Unterhaltung: "Wie geht es Ihnen, Mister Scampi?" Scampi fuhr sich einmal flüchtig durch die kurzgeschorenen Haare, dann erwiderte er: "Wie soll es mir schon gehen, Herr Inspektor?! Ich hab meine Tochter verloren, nicht erst am Tage ihres Todes. Nein, schon Jahre zuvor. Ich hab meinen Job als Vater nicht gemacht, ich hab sie nicht beschützt, als dieses Schwein sie brutal und menschenverachtend mißbraucht hat. Dieses Tier hat sie von seinen verdammten Drogen abhängig gemacht und sie von jedem x-beliebigen alten Mistkerl schänden lassen, der ihm dafür einen Hunderter bezahlt hat. Und einer von diesen reichen, perversen Drecksäcken hat sie dann auch noch mit diesem ekelhaften Virus infiziert, der ihr den sicheren Tod gebracht hätte. Einen schrecklichen, qualvollen Tod - einen, der genauso schlimm war wie ihr ganzes Leben in den letzten vier Jahren. Und ich bin Schuld, ich ganz allein! Ich hab sie diesem Schwein mitten in die Arme getrieben, nur wegen der verdammten Schulden! Dieses elende Geld hat meiner Frau auch nicht das Leben retten können. Und meine kleine, unschuldige Tochter hab ich deswegen auch verloren. Wie sollte sie mir das auch jemals verzeihen, daß ich damals nur wegen einer Waffe an der Stirn einfach so da saß, während sie im Nebenraum, quasi vor meinen Augen ..." Scampi begann zu schluchzen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Svensson erhob sich ein wenig von seinem Stuhl und streichelte seinem sichtlich gebrochenen Gegenüber sanft mitfühlend übers Haar. Dann sagte er: "Ich habe hier etwas ... Sie wissen schon, Francescas Tagebuch, das sollten Sie unbedingt lesen, bevor Sie an ihrem eigenen Schuldbewußtsein hier noch völlig zugrunde gehen". Er schaute dabei fragend zu Sergeant Higgins hinüber, der die ganze Zeit mucksmäuschenstill als Aufsichtsperson im Türrahmen des Besucherraums gestanden hatte. Erst als dieser freundlich nickte, zog er das besagte Tagebuch aus seiner Manteltasche und legte es vor Scampi auf den Tisch. Alberto Scampi wischte die Tränen beiseite und nahm das Buch an sich. Dann dankte er seinem Besucher für dessen mutmachende Worte. Und Svensson ergänzte, während er sich mit festem, innig verbundenen Händedruck von Scampi verabschiedete: "Lesen Sie es! Und lesen Sie es ganz! Besonders die letzten Seiten! Dann werden Sie erkennen, daß ihre Tochter Ihnen am Ende längst vergeben hatte! Und das sollten Sie auch tun: Sich selbst vergeben! Und beim Richter werde ich ein gutes Wort für Sie einlegen, damit Sie für Ihre in meinen Augen durchaus nachvollziehbare Tat mildernde Umstände und eine möglichst niedrige Haftstrafe erhalten. Und dann nutzen Sie Ihre Zeit hier, um mit der Welt und sich selbst wieder ins Reine zu kommen, damit Sie - wenn Sie wieder frei sind - ihr Leben noch einmal ganz neu beginnen können. Dem Andenken Ihrer bezaubernden Tochter und vor allem sich selbst zuliebe!"

Lukas Svensson und Alberto Scampi verließen gleichzeitig den Besucherraum. Und während Svensson vor dem Gefängnistor wieder ins Freie trat, schloß sich hinter Scampi die Zellentür. Alberto Scampi nahm auf seiner Schlafliege Platz und schlug sogleich erwartungsvoll den Deckel von Francescas Tagebuchs auf, wobei ein lose eingelegtes Foto auf den Zellenbogen segelte. Scampi hob es auf und drehte es um. In diesem Moment schossen ihm die Tränen wieder in die Augen. Das Bild zeigte das Grab seiner kleinen Francesca, über und über reich geschmückt mit Blumen und zwei Kränzen. Svensson hatte es vor knapp einer einer Stunde selbst fotografiert, nachdem er neben den beiden Kränzen von sich und Francescas Freund Marco auch noch zusätzlich all die Blumensträuße plaziert hatte, die er erst kurz zuvor noch selbst von den Sekretärinnen des Yard erhielt.

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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sven1421

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20

Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:37

Episode 20: Doppelter Feier-Abend

Ein weiterer Tag neigte sich seinem Ende zu. Die Londoner Innenstadt hatte bereits damit begonnen, sich ihr dunkles Abendkleid überzustreifen, dessen glitzernde Applikationen all die bunten Lichter und Leuchtreklamen bildeten, die die Themsemetropole auch nach Anbruch der Dunkelheit bis tief hinein in die Nacht weithin sichtbar hell erstrahlen ließen. Drei Querstraßen von Scotland Yard entfernt - gegenüber einem alten Lichtspielhaus, in dem an diesem Abend gerade mal wieder der Klassiker "James Bond 007 - Liebesgrüße aus Moskau" gezeigt wurde - schrieb über der Eingangstür einer kleinen Eckkneipe eine dieser bunten Leuchttafeln in roten Neonbuchstaben ihr "MY REDEMPION" an die sonst so kahle Betonwand, deren Putz an zahlreichen Stellen bereits abgebröckelt war. Auf einer der drei Stufen, die von der Straße aus zu jener Lokalität hinaufführten, stand ein junger Mann in einem chicken dunklen Anzug mit rotem Seidenhemd und weißer Krawatte. Er hatte ehrwürdig die Hände vor dem Bauch verschränkt und trug im Gesicht trotz der fortgeschrittenen Tageszeit eine verspiegelte, schwarze Sonnenbrille, wobei er zusätzlich sein Haupt gesenkt hielt, als wolle er damit sicherstellen, daß niemand der zahlreichen vorübergehenden Passanten jenen kleinen roten Teppichfetzen stahl, der hier vom Lokaleingang über die abgewetzten Treppenstufen und den Bürgersteig hinweg bis zur Bordsteinkante ausgelag.

Erst als langsam und gefühlvoll ein schwarzer Rolce Royce heranbrauste und direkt am Ende des Teppichs anhielt, hob der Mann in Schwarz vorsichtig grinsend seinen Kopf. In diesem Moment öffnete sich auch schon die Fahrertür des Luxuswagens und ein ebenfalls komplett in Schwarz gekleideter Herr mit einer Chauffeursmütze auf dem Kopf sprang heraus. Er blinzelte dem Sonnenbebrillten kurz zu, lief dann eilends zur gegenüberliegenden Seite des Autos und öffnete dort die hintere Tür, wobei er einen tiefen Knicks machte und mit feierlicher Stimme verkündete: "Sir, darf ich bitten!" Nun, so höflich bitten ließ sich der Insasse des Luxusschlittens nicht zweimal, und so kam aus dem dunklen Wageninneren kurze Zeit später niemand anders hervor als Inspektor a.D. Lukas Svensson höchstpersönlich. Auch er verbeugte sich nun einmal tief vor seinem Fahrer und sagte dann schmunzelnd zu ihm: "Danke, George, es war alles zu meiner vollsten Zufriedenheit. Der Luxuswagen steht morgen früh wieder da, wo er hingehört - in der Kriminaltechnik, geschrubbt und gewienert und bereit zur Rückgabe an die Witwe Spirellis. Verstanden?! Und im Gegenzug dafür gebe Ihnen den Rest des Abends frei, Sie dürfen mit mir meine Pensionierung und meine bevorstehende Hochzeit feiern!" George konnte sich nun sein Lachen nicht mehr verkneifen. Er schloß Svensson kurzerhand in die Arme und meinte dann: "Mach ich sehr gern, Lukas, mein Freund!" Und schon schritten beide nebeneinander auf den Eingang des Lokals zu. Svensson registrierte dabei sofort den roten Teppich unter seinen Füßen, und schaute George fragend an, so daß dieser sich umgehend zu einer kurzen Erklärung genötigt sah: "Nun, das ist eine Leihgabe von unserem Hausmeister. Er hatte eben noch ein Stück übrig, das damals beim Verlegen in den Fluren der Chefetagen des Yard nicht benötigt wurde. Und da meinte er, wenn Du ihm schon die Reperaturarbeiten an den Leuchtstoffröhren abnehmen würdest, dann könne er sich so wenigsten ein bißchen revanchieren! So, und nun aber nix wie rein ins Vergnügen!"

In diesem Moment wurden die zwei in ihrem Versuch, über die Treppe das Lokal zu betreten, vor dem Eingang von der ausgefahrenen Rechten jenes mysteriösen Mannes mit der Sonnenbrille jäh gestoppt. Der grinsende Typ, der Svensson sofort irgendwie bekannt vorkam, knurrte mit tiefer Baßstimme: "Ey, Ihr kummt hier net rein! Erst will ich Parole von Euch!" Spätestens jetzt hatte der Mann hinter der Spiegelbrille trotz seiner Verkleidung seine wahre Identität preisgegeben, und Lukas entgegnete lachend: "Mach sofort den scheiße Weg frei, Yusuf! Läßt Du uns rein oder kriegst Du krass Ärger, ich schwör!" Yusuf nahm die Sonnenbrille ab und lockerte gleichzeitig den engen Knoten seiner Krawatte, während er übers ganze Gesicht strahlend ausrief: "Ok, Alder, laß ich mal gelten! Aber sag mal, wie soll ich eigentlich jetzt zu Dir sagen: Sir Svensson oder Sir Lukas oder Ex-Inspektor ..." Plötzlich schlug er sich mit der flachen Hand an die Stirn und beantwortete dann seine eben gestellte Frage einfach gleich selber: "Alder, ich habs. Ich nenn Dich ab jetzt voll konkret ... Expektor ... Verstehst Du: Ex und Inspektor macht zusammen Expektor! Krasse Sache, ey!" Und während Yusuf sich und seinen Vorschlag draußen vor der Tür noch ein wenig selbst feierte, begaben sich George und Lukas schon mal ins Innere der Kneipe.

In dem kleinen Lokal war es schon ziemlich voll. Lukas staunte nicht schlecht. Tatsächlich entdeckte er rundum nur vertraute Gesichter. Schon beachtlich, mit wie vielen Leuten er über die Jahre seiner Dienstzeit in Kontakt gekommen war und wie viele davon er an diesem Abend als gute Bekannte, wenn nicht gar als Freunde, hier begrüßen durfte. An einem Tisch entdeckte er, in angeregter Unterhaltung vertieft, Dick Smith und Frank Gumble von der Londoner Transportpolizei, die seinerzeit an den Tatortermittlungen im Mordfall Napolitani beteiligt gewesen waren. Er ging kurz zu ihnen herüber, begrüßte sie herzlich und wünschte ihnen einen vergnüglichen Abend. Einen Augenblick war George zur Stelle und nahm Svensson den Mantel ab, um ihn dann zum Garderobenständer zu bringen. Und Lukas ging währenddessen schon einmal zur Bar vor, wo er auf einem Hocker Platz nahm, um sich zur Feier des Tages ein Bier zu bestellen. Aber George, der sich in diesem Augenblick wieder zu ihm gesellte, winkte nur ab: "Bier gibts später, jetzt erstmal zur Doppelfeier des Tages Champagner für alle zum Anstoßen".

Aus einer dunklen Ecke der Kneipe tönte es daraufhin: "Ja, und der geht auf mich!" Der Mann, der dies ausgerufen hatte und der nun langsam aus dem Halbdunkel ans Licht kam, war kein anderer als Chief Superintendent Harold Freakadelly höchstpersönlich. Er trat auf Svensson zu, schüttelte ihm kräftig beide Hände und sagte dann: "Herzlich Willkommen! Ihnen, lieber Lukas, sowie uns allen, einen schönen Abend!" Tosender Beifall setzte ein und hielt nahezu eine Minute an. Svensson bedankte sich bei Freakadelly, und dann verteilte einer der Ober die Gläser mit dem spritzigen Inhalt. Die versammelte Gemeinschaft prostete Lukas Svensson zu und stimmte gleichzeitig das Lied "For He's A Jolly Good Fellow" an. Svensson war sichtlich gerührt. Und so leerte er all seinen sonstigen festen Prinzipien zum Trotz sein Glas in nur einem einzigen Schluck. Anschließend nahm er sich die Zeit, sich einmal genauer in dem schummrigen Lokal umzuschauen. Da waren die anstelle der üblichen Luftschlangen und Luftballons überall an der Decke und den Wänden gelbe Absperrbänder mit der Aufschrift "Police Line Do Not Cross" sowie Spurensicherungsaufsteller mit den Ziffern von 1 bis 9 verteilt. Über dem Eingang hing zudem ein Schild, auf dem in goldener Schrift stand: "Einen glücklichen (Un-)Ruhestand und allzeit ruhigen Wellengang im Hafen der Ehe, lieber Lukas!" Und während er noch so las, klopfte Svensson jemand vorsichtig auf die Schulter: "Der Spruch ist von mir, Sir! Und danke für die Einladung, wo wir uns doch noch gar nicht so lange kennen!" Der da neben ihm stand, war kein anderer als Phillip Young, der junge Sergeant der Wasserschutzpolizei, den er beim Auffinden der Leiche Francesca Scampis kennengelernt hatte. Svensson hatte ihn am Montagvormittag ganz spontan telefonisch über den Anschluß seiner Dienststelle eingeladen. Svensson schüttelte dem Beamten erfreut die Hand: "Schön, daß Sie es einrichten konnten, Phillip! Vielen Dank für das, was Sie da geschrieben haben! Wissen Sie, irgendwie hab ich mich bei unserer Begegnung sofort mit Ihnen verbunden gefühlt. Darum war es nur recht und billig, daß Sie heute hier mit dabei sind. Und nun feiern Sie schön!" Phillip bedankte sich und ging dann wieder zurück an seinen Tisch.

Svensson schaute sich weiter um, als er mit einem Male - auf dem Barhocker zu seiner Linken sitzend - einen jungen Mann bemerkte, der seinen Kopf auf dem Thresen abgelegt hatte und dabei ganz leise schnarchende Laute von sich gab. Svensson stubste ihn vorsichtig an, worauf der Mann sein Haupt einen Moment später erhob und dem Inspektor a.D. mit traurig-verklärtem Blick entgegenschaute. Als er dann - zum Reden ansetzend - den Mund öffnete, gab es für Lukas keinen Zweifel mehr, daß dieser Gast an diesem Abend bereits sehr tief ins Glas geschaut haben mußte - Pardon, korrigiere! Nicht in ein einzelnes Glas, es mußten bei der Standarte und dem Silberblick wohl schon ein Dutzend hochprozentig gefüllte Gläschen gewesen sein! Svensson musterte den Trunkenbold kurz mit ernstem Blick, dann fragte er kopfschüttelnd: "Was treibt gerade einen wie Sie denn dazu, sich so früh am Abend schon dermaßen zu besaufen, Crawler!" Svenssons Ex-Kollege grinste nur blöd, während sein Kopf hin und her wackelte und seine Hand beim Versuch, in die Brusttasche seines Oberhemdes zu gelangen, immer wieder danebengriff. Endlich hatte er sein schwieriges Unterfangen doch noch erfolgreich abgeschlossen und beförderte ein arg zerknülltes Blatt Papier hervor, das er Svensson hin und her wedelnd vors Gesicht hielt: "Das hier! Das ist der Grund! Ne, Blödsinn! Nicht der Wisch da! Sondern was da drin steht, und das, was nicht da drin steht!" Lukas war neugierig geworden. Er entzog Crawler das kurzerhand Papier und strich es auf dem Thresen glatt. Ein kurzer Blick genügte, und Svensson nickte: "Den Zeitungsartikel kenn ich schon. Hab ihn heute morgen beim Frühstück gelesen. Ja, und?! Ist doch schön für Ihr Herrchen, daß er jetzt Chef der neu gegründeten Antiterroreinheit CI7 ist, oder?! Da fällt doch für das kleine Schoßhündchen bestimmt auch ein dicker Knochen ab?!" Crawlers Mundwinkel folgten der Schwerkraft, seine Augen füllten sich mit kleinen wäßrigen Tropfen, während er den Kopf hin und her warf und wütend loslallte: "Eben nicht! All die Jahre hab ich alles für Wannabe getan, wirklich alles! Und noch viel mehr! Und jetzt, kaum daß er in diese Terrordingsda aufsteigt, da werd ich auch schon mit einem simplen Fingerschnippsen weggestoßen und einfach so zurückgelassen von diesem stinkenden Emporkömmling ..." Weiter kam Crawler nicht, denn plötzlich rollte er die Augen und würgte zweimal kurz, bevor er voller Panik aufsprang und stark schwankend in Richtung Toilette entschwand. Ganz offensichtlich gab es nach dem übermäßigen Alkoholkonsum jetzt in seinem Körper auch so einiges an geruchsintensiv aufsteigenden Emporkömmlingen, die darauf aus waren, im Schoße einer öffentlichen Kloschüssel von Inspektor Crawler einfach so zurückgelassen zu werden. Naja, Schwamm drüber! Das Leben ist halt manchmal ganz schön bitter!

Statt noch länger über Crawlers übles Schicksal zu senieren, widmete sich Svensson nun allerdings lieber wieder seinen anderen Gästen. Neben dem Eingang entdeckte er dabei seinen Schützling Tim Hackerman, dem er nach einer zweijährigen Jugendstrafe wegen Computerkriminalität vor fast viereinhalb Jahren den Job in der Personalabteilung des Yard besorgt hatte, und dem er in entscheidendem Maße sein Liebesglück verdankte. Ohne Tims Hilfe wäre er schließlich gar nicht erst an die damalige Adresse seiner zukünftigen Frau gekommen. Und so schlossen sich die beiden Männer auch sogleich zur Begrüßung wie zwei alte Freunde innig in die Arme, wobei Tim Svensson schmunzelnd ins Ohr flüsterte: "Na, sind Sie Ihr Schmuckstück damals bei der gesuchten Dame denn eigentlich losgeworden?!" Lukas Svensson löste sich aus der Umarmung und blinzelte dabei zurück: "Nein, im Gegenteil! Ich hab an diesem Abend sogar noch ein ganz besonderes Schmuckstück gefunden unter der Adresse, die Du mir gegeben hast!" Dann gönnten sich die Beiden an der Bar ein Bier und plauderten ein wenig über dies und das, bis Timmy schließlich plötzlich seinen mitgebrachten Laptop aufklappte und ihn einschaltete. Svensson schaute ein wenig verdutzt, als sich auf dem Bildschirm nacheinander verschiedene bunte Kästchen öffneten und auf einem mit dem Titel "Videokonferenz" ein ihm nur allzu gut bekanntes Gesicht erschien: "Guten Abend, Lukas! Du siehst, modernste Technik machts möglich! Und meine brilliante Systemanalystin natürlich auch! Auf jeden Fall kann ich so heute Abend über den Großen Teich hinweg doch noch bei Dir sein, wenn Du unter Mißachtung aller Dienstvorschriften und fernab Deiner Dich liebenden Fast-Ehefrau Deinen letzten Tag in Freiheit begehst! Ich habs da nicht so gut, mein Tag hat mal wieder 24 Stunden, und keine Minute davon wirds langweilig. Der Internationale Terrorismus kennt nunmal keinen Feierabend! Ich freu mich jedenfalls, Dich mal wiedergesehen zu haben! Und ich hoffe, die Überraschung ist uns gelungen - Deinem Freund Tim, Deiner bezaubernden Yelena und mir, Deinem alten Freund Jack aus L.A. So, und nun feiert noch ordentlich und macht nicht so spät Schluß! Morgen wird schließlich geheiratet! Daß Ihr mir morgen nachmittag ja ordentlich viele Fotos schießt, wo ich schon nicht live dabei sein kann! Und vergiß ja nicht, Deinen Armreif zu tragen! Du weißt, ich hab hier hervorragende Spezialisten um mich, die mir jedes später noch so kleine Detail Deiner Fotos sichtbar machen können. Also dann, alles Gute, mein Freund!" Und während ihm Jack vom Bildschirm aus noch einmal zuwinkte, hielt Lukas mit einer kleinen Träne im Auge sein rechtes Handgelenk mit dem geheimnisvollen Silberarmreif vor die Linse der eingebauten Laptopwebcam. Timmy klappte den Laptop wieder zu, und Lukas drückte ihn noch einmal ganz fest an sich: "Danke, Junge! Damit hast Du mir eine riesige Freude bereitet. Diesem Mann da verdanke ich eine der wichtigsten Erkenntnisse meines Lebens ..." Und bei diesen Worten mußte Lukas Svensson unweigerlich an Cathrin, Jane und den kleinen Luke denken, deren gemeinsame Zukunft nun nicht mehr in Gefahr war - und das fühlte sich in diesem Moment einfach nur verdammt richtig an!

Erschrocken sprang Svensson auf. Verdammt! Cathrin und Jane! Er hatte doch versprochen, sie zu informieren, wenn sein Plan erfolgreich gewesen war! Das hatte er in den letzten beiden Tagen ja völlig verschwitzt. Rasch erkundigte er sich bei dem Barmann nach einem Telefon. Und der verwies ihn auf den Münzfernsprecher in der Nähe der Toiletten. Svensson kramte an der Garderobe sein Notizbuch aus der Manteltasche, suchte Cathrins Telefonnummer heraus und begab sich dann zum Telefonieren in den dunklen Gang hinter dem Tresen.

Das Läuten des Telefons hatte Cathrin und Jane geweckt. Schließlich waren beide schon kurz nach dem Abendessen - nachdem sie den kleinen Luke zu Bett gebracht und ihm gemeinsam seine Gute-Nacht-Geschichte erzählt hatten - bei den Abendnachrichten auf der Couch Arm in Arm eingeschlummert. Nun löste sich Cathrin aus der Umarmung Janes und begab sich schnellen Schrittes zum Telefon. Sie nahm den Hörer ab und fragte: "Ja, wer ist denn da?" Am anderen Ende war es ziemlich laut. Dennoch erkannte Cathrin sofort die beruhigende Stimme Svenssons, die ihr mitteilte: "Es ist alles so gelaufen, wie ich es geplant hatte. Sie und Jane brauchen sich keine Sorgen mehr zu machen. Der ganze Spuk ist endgültig vorbei!" Cathrin fiel bei diesen Worten ein Stein vom Herzen. Am liebsten wäre sie dem Inspektor augenblicklich um den Hals gefallen, aber da das über die Entfernung nicht ging, sagte sie nur: "Danke vielmals! Wie können wir das nur je wieder gut machen bei Ihnen?" Und aus der Hörmuschel an Cathrins Ohr tönte es zurück: "Einfach, indem sie Luke gute Eltern sind, alle Beide. Seien Sie immer für ihn da, ziehen Sie ihn mit Liebe und Geduld auf, damit aus ihm einmal ein guter, anständiger Mensch wird. Solche Menschen braucht es nämlich. Also dann, machen Sie es gut! Wir sehen uns!" Und schluchzend ergänzte Cathrin: "Ja, spätestens am 20.09. zur Taufe von Luke! Gute Nacht, und Gott beschütze Sie!" Damit legte sie den Hörer wieder auf seinen Platz und begab sich zurück zu Jane, die ihren Kopf sogleich in den Schoß der Geliebten legte, während die ihr sanft übers Haar strich und ihr dabei Svenssons liebevolle Worte sinngemäß wiedergab. Und schon eine Viertelstunde später waren beide Frauen wieder sanft entschlummert.

Im "My Redemption" war derweil an Schlaf gar nicht zu denken, denn hier tobte inzwischen die Party. Der DJ spielte immer wieder abwechselnd "Go West" und "Kalinka", und die angeheiterten Gäste legten dazu ein kleines, beschwingtes Tänzchen aufs Parkett. Als Svensson aus dem dunklen Flur zurückkehrte, lief er direkt seinem Freund Yusuf Kebab in die Arme. Der trompetete auch gleich los: "Ey Alder, nich so stüremisch! Guckst Du besser, wo Du hinläufst! Übrigens, was ich noch sagen wollte, neulich Abend, bei Deinem Besuch mit dem Babydoktorspinner im Yard. Du, Dein Taschentuch, das hab ich ..." Svensson sah ihn erschrocken an: "Ja, was hast Du mit dem Taschentuch?" Yusuf versuchte, seine Ausführungen fortzusetzen: "Keine Panik, ey! Das hab ich ..." Weiter kam er nicht. Denn plötzlich betrat eine etwa dreißigjährige elegant ganz in Schwarz gekleidete Frau das Lokal, schritt ohne Zögern auf Svensson zu und hielt ihm sofort die gezückte Dienstmarke vors Gesicht: "Mein Name ist Rita Diamont. Lukas Svensson, ich ermittle im Auftrage der Dienstaufsicht gegen Sie! Leugnen und Abstreiten hilft Ihnen gar nichts, ich weiß alles, was Sie getan haben! Und ich habe jede Menge Beweise gegen Sie! Also packen Sie jetzt und hier auf der Stelle aus? Oder soll ich das hier vor versammelter Mannschaft tun?" Lukas Svensson war zur Salzsäule erstarrt. Inzwischen hatte auch sein Gesicht jeden Farbschimmer verloren. Wie nur? Wie war sie ihm auf die Schliche gekommen? Hatte sie etwa Jack Holmes schon verhaftet? Was würde jetzt aus ihm werden, aus seiner Hochzeit, aus Yelena! Mein Gott, er würde im Gefängnis landen! Alles war aus und vorbei! Vielleicht konnte ein reumütiges Geständnis ja am Ende noch alles retten? Svensson wollte gerade alles zugeben, da unterbrach ihn Rita Diamont jäh: "Ok, dann pack ich eben aus!" Und damit begann sie zu den leise einsetzenden Klängen von "I'm To Sexy For My Shirt", sich langsam vor ihm und seinen Gästen auszuziehen. Svensson atmete auf, und ein gesundes Rosa kehrte dabei zurück in sein erblaßtes Gesicht. Diese Rita war nur die obligatorische Stripperin, die seine Freunde für ihn engagiert hatten. Und der ganze unheilvolle Auftritt gehörte zu ihrer Nummer. Im nächsten Moment landete auch schon der rote Spitzen-BH jener Künstlerin in seinen Händen, gerade noch rechtzeitig, damit er sich mit ihm den nun in Strömen rinnenden Angstschweiß von der Stirn wischen konnte. Yusuf klopfte Lukas auf die Schulter: "Geile Nummer, ey! Hab ich organisiert, aber kein Sterbenswort zu Aisha, okay! ... Ach übrigens: Dein Taschentuch hab ich hier. Vielleicht solltest Du lieber das zum Schweißwischen benützen und der jungen Frau ihr Utensil wieder zurückgeben. Die friert sonst nachher, weiß Du!" Svensson gab der Tänzerin ihren BH zurück und bedankte sich dann ganz artig für ihren Auftritt. Das Taschentuch aber verstaute er umgehend ganz tief und fest in seiner Hosentasche. Und dann verschwand er heimlich, still und leise für eine kleine Ewigkeit an der Bar, wo er auf den gerade erlittenen Schock erstmal drei Gläschen Wodka auf Ex kippte.

Wenig später raunte eine Stimme in Svenssons Rücken: "Hey, Chef! Nette Feier! Und einen schönen Gruß von meinem Boß. Der läßt sich heute hier von mir entschuldigen, hat ja auch viel zu tun in seiner Werkstatt!" Es war Luigi Rigatoni, jener Lehrling von Svenssons Freund Jack Holmes, der heute zu seinem Bedauern nicht dabei sein konnte, weil er fürchten mußte, Yusuf könne ihn sonst nach ihrer gemeinsamen Nacht- und Nebelaktion wiedererkennen. Luigi reichte Lukas freundlich die Hand und meinte: "Mein Chef hat gesagt, wannimmer Sie seine Hilfe brauchen, er steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, und Sie sollen sich nicht scheuen, Ihn anzurufen. Er steht für immer tief in Ihrer Schuld! Wissen Sie, was er da meint?!" Svensson nahm den Lehrling für einen Moment zur Seite und erzählte ihm dann recht redseilig fast die ganze Geschichte von seiner ersten schmerzvollen Begegnung mit Jack Holmes an jenem verhängnisvollen 17.Februar 1986 in einer ganz ähnlichen Kneipe zu fast derselben Stunde. Nur die Sache mit dem verschwundenen Geld vergaß er dabei auch diesmal wieder zu erwähnen. Und als er fertig war, verabschiedete er Luigi mit einem schönen Gruß an Jack Holmes.

Irgendwann kurz vor 23 Uhr trat noch einmal Chief Superintendent Freakadelly an den nun leicht angeheiterten Lukas heran und legte vertrauensvoll seinen Arm um den ehemaligen Untergebenen: "Wissen Sie, Lukas, das ist eine schöne Feier! Und sie hat mir vor allem einen weiteren jammervollen Abend im Kreise meiner Lieben erspart. Zu allem Unglück hat sich nämlich heute vormittag auch noch telefonisch meine geliebte, aber auch reichlich anstrengende Tochter Janet angekündigt, weil ihr Göttergatte mal wieder lieber einen Abend auf seiner - ihm von mir zur Hochzeit geschenkten - Segelyacht verbringt als mit ihr!" Svensson unterbrach ihn lächelnd: "Naja, das tun sie doch auch! Also, den Abend lieber woanders zu verbringen, als bei ihrer Janet!" Freakadelly mußte schmunzeln über soviel einleuchtende Logik: "Ja, da haben Sie recht! Na, wie dem auch sei: Jedenfalls hat er das Schiff auch noch 'Simone' getauft, nach seiner über alles geliebten Mutter, die verstarb, als er noch ganz klein war, worauf er allein von seinem herrschsüchtigen Vater aufgezogen wurde, der ihm fortan jede Freude am Leben nahm und ihn nur noch auf das Streben nach Macht und Erfolg ausrichtete. Was dabei rauskam, durften Sie ja selbst lang genug bewundern!" Svensson nickte nachdenklich, während Freakadelly fortfuhr: "Naja, was ich eigentlich sagen wollte, meine Tochter ist eifersüchtig auf eine Yacht, und Charles läßt sich natürlich auch bei Ihnen durch mich entschuldigen, obwohl ich mal denke, es ist für Sie ein zu verschmerzender Verlust, wenn mein Schwiegersohn nicht hier ist, oder?!" Dabei zwinkerte er Svensson verstohlen zu und verabschiedete sich dann mit den Worten: "Na, nun ist es aber für mich Zeit fürs Bett. Zuhause schlafen sicher schon alle, und da kann dann auch ich getrost zur Ruhe gehen! Gute Nacht und alles Gute, mein Lieber!" Lukas schüttelte seinem Ex-Chef die Hand und erwiderte dann: "Danke fürs Kommen, Mister Freakadelly!" Doch der schüttelte, schon im Gehen begriffen, nur den Kopf: "Sie wissen doch, Lukas, für gute Freude heiße ich Harry ..."

Im diesem Augenblick raste einem Geschoß ähnlich der immer noch sturzbetrunkene Inspektor Crawler aus dem Dunkel des Ganges bei den Toiletten heraus direkt auf Freakadelly zu und posaunte dabei, so laut es ging: "Ja, genau! Wir sind doch alle Brüder hier, oder?! Du bist der Lukas, ich bin der Derrik, und das ist der Harry! So, und nun gehts nach Hause, und der Harry fährt für den Derrik schonmal den Wagen vor!" Svensson stützte - so gut er konnte - rasch den plötzlich in sich zusammensinkenden Crawler. Dann sah er zu dem sichtlich entsetzten Freakadelly herüber und beruhigte ihn mit den Worten: "Keine Sorge, ich kümmer mich schon um diese kleine Schnapsleiche! Mein Freund George kann ihn ja nach Hause fahren, ins Bett zuhause bei seiner Mami!" Der inzwischen hinzugeeilte George grinste, dann schnappte er sich die betrunkene Jammergestalt und schleppte sie nach draußen in den bereitstehenden Royce, der schon wenig später mit quietschenden Reifen davonfuhr.

Auch die anderen Gäste verließen nach und nach bis kurz vor Mitternacht die Feier. George schien beim Nachhausebringen Crawlers wohl noch aufgehalten worden zu sein, und da sich Lukas nach dem Genuß der drei Schnäpse vorhin nun auch nicht mehr ganz sicher auf seinen Füßen fühlte, wartete er brav, daß man ihn nach Hause brachte, wo seine Yelena jetzt sicher schon sehnsüchtig seiner Heimkehr entgegensah. Der DJ schaute auf die Uhr und verkündete schließlich in einer Pause zwischen seinen zwei Lieblingssongs: "So, und nun für den Herrn Inspektor a.D. ein letztes Mal in Vorbereitung auf seine Hochzeit ein Lied aus der Heimat seiner zukünftigen Gattin ... Kalinka!" Wieder dröhnte die vertraute russische Volkswaise in einen modernen Beat gekleidet aus den Lautsprechern, während der junge Mann hinter dem Mischpult langsam seine Sachen zusammenzupacken begann. Da betrat von draußen plötzlich - wie aus dem Nichts heraus kommend - ein etwa 50jähriger, drahtiger Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren und einem stoppligen Dreitagebart das Lokal. Er bewegte sich festen Schrittes schnurstracks auf Svensson zu, hielt ihm die Hand entgegen und sprach mit einem leichten russischklingenden Akzent: "Gestatten, Mister, mein Name ist Iwan Kowarno. Ich lebe erst seit ein paar Monaten in dieser Stadt, und da komm ich hier zufällig vorbei und höre die Musik aus Mütterchen Rußland. Ein Weilchen traute ich mich nicht herein, aber dann kam ein junger Mann in einem schwarzen Anzug mit einem dunkelroten Hemd und Krawatte aus dem Lokal, den sprach ich an. Und der erklärte mir, daß hier ein Inspektor von der Polizei seinen Abschied feiert und gleichzeitig seinen letzten Abend vor der Hochzeit mit einer Landsmännin von mir. Wie war noch ihr liebreizender Name?" Svenssons Augen leuchteten, nun da er den Namen seiner Angebeteten aussprechen durfte: "Yelena, Yelena Zladkaja. Und ich heiße Svensson, Lukas Svensson!" Damit schüttelte er dem Fremden mit der festen, tiefen Stimme freundlich die Hand. Und Kowarno entgegnete: "Zladkaja - schöner, süßer Name. Und ganz sicher verbirgt sich dahinter auch eine ebenso süße Frau. Wissen Sie was?! Wir zwei sollten anstoßen. Auf Sie, Lukas, auf ihre bezaubernde Yelena und auf ihrer beider Zukunft". Und mit diesen Worten begab er sich rasch zur Bar.

Inzwischen klopfte der DJ Svensson leicht nervös auf die Schulter: "Ich hab um Punkt 0 Uhr Feierabend, und das Lokal schließt um dieselbe Zeit. Was Probleme mit Überschreitung der Sperrstunde bedeuten, muß ich Ihnen ja wohl nicht erst großartig erklären, oder?! Also, Sie sollten sich jetzt langsam aber sicher auch auf den Heimweg machen, Sir!" Und damit verschwand er wieder hinter seinem Mischpult, drehte die Musik ab und packte nun auch das Pult zusammen, um es anschließend draußen im Hof in seinem Auto zu verstauen. Iwan Kowarno war unterdess mit zwei randvoll gefüllten Wodkagläsern zurückgekehrt, von denen er das in seiner rechten Hand Svensson darbot und gleichzeitig verkündete: "Ein doppelter Wodka für einen zweifachen Anlaß! Na starowje! Wohlsein! Auf Sie, Lukas, auf ihren Ruhestand, auf Yelena, auf uns und auf die Gesundheit. Und auf Mütterchen Rußland, das ich hoffentlich bald gesund wiedersehen darf!" Lukas war erstaunt: "Ach, Sie bleiben gar nicht hier?" Kowarno schüttelte betreten den Kopf: "Nein, ich hab hier nur eine Kleinigkeit zu klären, dann bin ich wieder weg! ... Aber jetzt bring ich Sie erstmal nach Hause, wenn's recht ist. Mein kleiner Wagen steht nämlich keine zwanzig Meter von hier! Und allein sollten Sie in ihrem Zustand lieber nicht nachts durch die Straßen ziehen. Wie leicht kann Ihnen da etwas zustoßen!" Lukas nickte, während er auch diesen letzten Schnaps des Abends in einem Zug leerte: "Ja, da haben Sie recht, mein Freund. Wer weiß das besser als ich, daß einem hier leicht etwas passieren kann?! Also gut, bringen Sie mich nur heim. Ich kann Sie ja während der Fahrt bezüglich des Weges anleiten - oder briefen, wie mein Freund Jack aus USA immer zu sagen pflegt. Ja, und der Barkeeper kann dann auch endlich seine immer deutlicher werdenden Blicke zur Uhr unterlassen und den Laden hier dicht machen ... Für heute haben wir, glaub ich, alle genug! Und außerdem wird morgen geheiratet! Also, auf zu Yelena!"

Svensson hakte sich bei seinem neuen russischen Freund unter und winkte dem Barmann im Gehen noch einmal kurz zu. Dann verließen die beiden Männer gemütlichen Schrittes das Lokal und stiegen in das bereitstehende Auto, welches die Zwei sogleich ganz geruhsam in Richtung von Svenssons Wohnung und damit hinein in die offenen Arme seiner innig geliebten Yelena kutschierte ...

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sven1421

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21

Donnerstag, 19. Januar 2012, 19:37

Episode 21: Schlußlicht

Der Nebel lichtete sich langsam. Die Schleier der Dunkelheit wurden gelüftet. In Lukas Svenssons Kopf setzte die Dämmerung ein, in der das aufflackernde Licht der Erinnerung die Schatten des Vergessens nach und nach vertrieb. Wie in Zeitlupe richtete sich sein Oberkörper in seinem Bett auf, während sein Brummschädel ihm nur allzu schmerzhaft ins Bewußtsein rief, daß er gestern für seine bescheidenen Verhältnisse wohl doch ein wenig zu viel getrunken haben mußte. Vor allem der letzte doppelte Wodka mit diesem unbekannten Russen - der dann so nett war, ihn nach Hause zu fahren - schien es in sich gehabt zu haben. Auf alle Fälle konnte sich Lukas seit dem Verlassen des Lokals um Mitternacht an rein gar nichts mehr erinnern. Nicht daran, wie er nach Hause kam, und schon gar nicht daran, wie er dort bis ins Bett gelangte - und wer ihn dann bis auf Unterhemd und Boxershorts ausgekleidet hatte.

Svensson schaute an sich herunter und entdeckte auf seinem Unterhemd einen großen blutroten Fleck. In Gedanken redete er mit sich selbst: 'Oh nein! Auch das noch! Da muß ich mit diesem Iwan Sowieso wohl gestern Nacht auch noch einen Zwischenstop bei McMickeys eingelegt haben, wonach mir wieder einmal der verdammte Ketchup auf die Wäsche tropfte'. Leise vor sich hin fluchend begab er sich ins Bad, um dort mit ein wenig kaltem Wasser und etwas Reiben vielleicht doch noch zu retten, was unter Umständen eh nicht mehr zu retten war. Im Flur geriet er dabei leicht ins Taumeln. Eine gewisse Restbenommenheit stellte sich schlagartig ein, und ein pochender Schmerz ließ Lukas nach seinem Kopf greifen, an dem er zu seinem Entsetzen eine große klaffende Wunde an der Stirn ertastete. Nein, diesmal war es kein Ketchup auf seinem Hemd, diesmal war es Blut - sein Blut! Irgendwer mußte ihm gestern Nacht in seinem hilflosen Zustand auf den Kopf geschlagen haben. Oder war er vielleicht auch einfach gestürzt und irgendwo gegengeschlagen? Nun ja, Yelena würde es schon wissen! Ja, genau! Yelena. Wo war sie denn eigentlich? Seine Hand ertastete in diesem Moment quasi im Blindflug den Lichtschalter des Badezimmers, und schon eine Sekunde später wurde es ganz und gar hell um ihn her. Sogar so hell, daß er die Augen ersteinmal schließen mußte.

Lukas hielt seine Stirnwunde mit zugekniffenen Augen kurz unter den zuvor aufgedrehten Wasserhahn. Dann stellte er sich in voller Größe vor dem Spiegel auf und öffnete vorsichtig die Augen, um sich seine Verletzung einmal genauer zu betrachten. Aber statt an dem langen Riß in seiner Stirn blieb sein Blick an etwas ganz anderem haften, nämlich an dem, was da in kleinen Druckbuchstaben offensichtlich mit einem lila Glitzerlippenstift auf das Spiegelglas geschrieben stand. Der erstarrte Svensson las es, wieder und wieder - und auch beim zwanzigsten Mal konnte er es einfach nicht begreifen und schon gar nicht glauben: "Liebster Lukas! Ich kann mein Leben nicht mit Dir teilen! Das ist mir heute Nacht ganz deutlich klargeworden! Und darum verlasse ich Dich! Suche mich bitte nicht! Ich gehe von hier fort, weit fort! Nichts hält mich nun mehr hier! Ich liebe Dich einfach nicht genug, um Deine angetraute Ehefrau werden zu können! Vergiß mich! Lebe wohl, Deine Yelena!"

Svensson verstand die Welt nicht mehr. Er hatte doch immer gespürt, daß sie ihn liebte. Sein Gefühl konnte ihn einfach nicht so getäuscht haben. Und außerdem hatte sie doch noch nie so einen Lippenstift benutzt. Wo hatte sie den denn plötzlich her? Und warum schrieb sie plötzlich so ganz ohne auch nur einen einzigen Fehler? Nein, bestimmt war das alles nur ein dummer Streich - als krönender Abschluß des gestrigen Abends vielleicht?! Lukas mußte Gewißheit haben. Er lief zurück ins Schlafzimmer, öffnete alle Schränke und Schubladen. Alle ihre Kleider waren noch da, nur ein paar Schmuckstücke fehlten. Instinktiv griff sich Svensson an sein rechtes Handgelenk - ja, der Armreif von Jack war auch verschwunden! Aber das alles war ihm im Moment gar nicht so wichtig, für ihn zählte einzig und allein eins: Seine über alles geliebte Yelena - sie konnte, nein, sie durfte ganz einfach nicht weg sein! Nicht so und schon gar nicht heute! Zaghaft begann er ihren Namen zu flüstern, erst nur im Schlafzimmer, dann rief er ihn etwas lauter im Flur. Dann ganz laut im Treppenhaus, von wo aus er als Echo gleich mehrfach wiederhallte. Eine Minute später schrie er ihn durch die ganze Wohnung und brüllte ihn anschließend in völliger Verzweiflung aus dem geöffneten Fenster des Wohnzimmers hinaus - mitten hinein in die gerade erst langsam erwachende Londoner Innenstadt. Doch so sehr er sich auch die Kehle aus dem Hals schrie, es änderte alles nichts an jener unverrückbaren, niederschmetternden Tatsache ...

Yelena war und blieb verschwunden ...

[ENDE]

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Angel (6. September 2012, 23:20)

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