Vorwort des Autors: Damit komme ich zu einem der wohl längsten Kapitel meines Werks, das einem ebenso langen, qualvollen Marsch gewidmet ist - dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ Sachsenhausen. Dem Marsch, auf den sich u.a. auch mein Uropa und mein Großonkel begaben und an dessen Nachwirkungen letzterer sogar verstarb ... ;(
TODESMARSCH DES KZ SACHSENHAUSEN. April 1945.
Jener dumpfe Glockenton, der für die Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen allmorgendlich den Beginn eines neuen qualvollen Tages verkündete und dabei jedesmal so klang wie das Geläut einer Sterbeglocke, riß Willi Krause in der Baracke auf seinem Strohbett mitten aus dem eh viel zu kurzen und nie wirklich festen Schlaf. Bis eben gerade hatte er noch von seiner Luise geträumt, hatte mit ihr händchenhaltend an einem wunderschönen See gesessen, während um sie herum bei herrlichsten Sonnenschein alles grünte und blühte. Doch dann war in seinem Traum plötzlich ein heftiger Sturmwind aufgezogen. Dicke schwarze Wolken verfinsterten mit einem Schlag die Sonne. Eisiger Regen prasselte aus ihnen auf die Erde hernieder und verwüstete die eben noch so blühende Landschaft. Dazu grollte heftiger Donner, und feurige Blitze zuckten. Einer jener Blitze schlug in Willis Traum direkt neben ihm ein und traf dabei Luises Körper, der sich noch ein letztes Mal aufbäumte und dann innerhalb von Sekundenbruchteilen zu Staub zerfiel. Ein Häufchen Asche in seiner Hand war schließlich alles, was Willi von seiner geliebten Frau am Ende jenes gräßlichen Albtraums noch geblieben war.
Willi Krause war sichtlich erleichtert, daß alles nur ein böser Traum gewesen war. Weit riß er die Augen auf und schaute sich um. Wie sehr wünschte er sich doch, daß auch dieses verfluchte Lager und die, die es errichtet hatten, nur ein böser Traum sein mögen, aus dem er eines schönen Morgens einfach so erwachen würde und den er dann einfach verdrängen und vergessen könnte. Doch das hier war leider kein Albtraum, das hier war schlimmer. Es war grausame Realität. Nie wußte man am Beginn eines solchen Tages, ob man seinen Abend überhaupt noch erleben würde. Und selbst wenn man den Lageralltag und die mit ihm einhergehenden Schikanen der SS irgendwie überlebt hatte und sich abends hungrig und erschöpft auf seinen Strohsack fallen ließ, um die müden Augen zu schließen, wußte man noch nicht mit Sicherheit, ob man am Morgen darauf die Augen auch wieder aufschlagen würde. Denn jede Nacht gab es unter den Häftlingen einige, die plötzlich auftretende Krankheiten und Infektionen, Fieber oder auch bloße Erschöpfung im Schlaf dahinrafften.
Willi Krause sprang von seinem harten Strohlager auf und begann, es mit seinen schwielenübersäten Händen sorgsam glattzustreichen. Dabei warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster und hielt kurzzeitig inne. Irgendetwas war an diesem 21. April des Jahres 1945 anders als sonst. Für das allmorgendliche Wecken schien es ihm draußen eigentlich noch viel zu dunkel. Zudem ertönte schon eine knappe Viertelstunde später der Befehl zum Heraustreten, so daß den Häftlingen nicht einmal mehr Zeit für die ohnehin schon recht spärliche Morgentoilette blieb. Beim Zählappell schien dann auf den ersten Blick zunächst alles wieder wie immer. Aber wenn man sich genau umsah, bemerkte man rasch, daß rund um den Appellplatz herum viel mehr Wachleute als sonst versammelt waren - im Grunde genommen bis auf einen einzigen Mann wohl sogar die komplette Wachmannschaft.
Der einzig fehlende Wachposten aber war jener Erich Hecker, der im November vergangenen Jahres den Häftling Hannes Vogel von seinem Wachturm aus erschossen und dafür als Belohnung 3 ganze Tage Sonderurlaub eingestrichen hatte. Aus jenem Urlaub sei er dann nach euphorischen Aufbruch zu seiner Braut recht still und in sich gekehrt zurückgekommen, erzählte man sich. Angeblich hatte er zu Hause vor seiner geliebten Heidi mit stolzgeschwellter Brust geprahlt, wie er zu dem zusätzlichen Urlaub gekommen war. Sein Mädel aber habe sich nach dieser grausamen Offenbarung entsetzt von ihm losgesagt und gemeint, mit einem Mörder wolle sie nichts zu tun haben. An Weihnachten und in den ersten Monaten des neuen Jahres hatte Hecker dann gänzlich auf Urlaub verzichtet. Warum er vor 4 Tagen überraschend doch wieder Urlaub eingereicht hatte und wieso er aus diesem dann am gestrigen Tage nicht wieder zurückgekehrt war, wußte zunächst niemand genau. Man hatte beim Abendappell gemunkelt, er sei vielleicht versetzt worden oder habe sich freiwillig an die Front gemeldet. Erst im Verlaufe des nun beginnenden Morgenappells klärte sich die wahre Ursache seines plötzlichen Verschwindens auf. Die Nachricht verbreitete sich während des Durchzählens mittels Flüsterpropaganda geradezu wie ein Lauffeuer unter den Häftlingen. Ein Mithäftling aus der Schreibstube hatte nämlich kurz vor Appellbeginn zufällig ein Gespräch zweier SS-Raportführer aufgeschnappt. Demzufolge hatte sich Erich Hecker auf dem Dachboden seines Elternhauses erhängt. In einem Abschiedsbrief erklärte er zu seinen Beweggründen, er habe es einfach nicht mehr ausgehalten, überall schief angeschaut und vo Freunden und Bekannten gar wie ein Aussätziger behandelt zu werden. Außerdem wäre er nahezu jede Nacht vom immer wieder gleichen Albtraum heimgesucht worden, in dem ein kohlrabenschwarzer Vogel unaufhaltsam auf ihn zugehüpft sei, ihm nacheinander beide Augen ausgehackt und ihm dann immer wieder mit düsterer Stimme das Wörtchen "Mörder!" abwechselnd in beide Ohren gekrächzt habe.
Willi Krause wußte nicht so recht, was er mit dieser Nachricht anfangen sollte. Zum einen war dieser Schütze Hecker nur einer der vielen Auswüchse dieser schrecklichen Zeit, und zum anderen machte dessen späte Reue Hannes Vogel auch nicht wieder lebendig. Krause ließ seinen Blick vorsichtig schweifen, während er gleichzeitig auf Kommando hin zur Meldung an den Lagerkommandanten die Mütze vom Kopf riß. Die Schwarzuniformierten wirkten heute früh irgendwie besonders unruhig, fast ebenso unruhig wie die deutschen Schäferhunde, die an der langen Leine gehalten hechelnd und schwanzwedelnd zu ihren Füßen hockten und zwischendurch hin und wieder ein wenig gelangweilt die Stiefelspitzen ihrer Herrchen mit der Zunge ableckten. Dabei war die scheinbare Friedfertigkeit der Tiere recht trügerisch. Zu oft schon hatte Willi Krause hier im Lager miterleben müssen, wie auf lautstark gebrüllte Kommandos hin sich die sonst so friedlichen Hunde von einer Sekunde auf die andere in reißende Bestien verwandelten, die ihre Zähne fletschten und jederzeit zum tödlichen Angriff auf die Häftlinge bereit waren. Auch darin ähnelten sie ganz den Herren, die in den SS-Uniformen hinter ihnen standen. Ja, auch die Männer mit dem Totenkopfsymbol an der Mütze hatte ihr Führer über die Jahre der Naziherrschaft hinweg zu gehorsamen, angriffslustigen Tieren abgerichtet, indem er sie ununterbrochen mit menschenverachtenden Haßparolen fütterte und ihnen damit nach und nach alles Menschliche aberzog.
Jetzt, da sich der Appell langsam seinem Ende zuneigte, verstand Willi Krause plötzlich auch, was jene seltsame Unruhe bei den Wachleuten auslöste. Es war das donnernde Grollen des Gefechtslärms, der in diesem Moment aus dem Südosten Berlins kommend einsetzte und damit schon bedrohlich nahe zu sein schien. Kurz in sich zusammenzuckend trat inzwischen der Lagerkommandant in seinem Pelzkragenmantel ans Mikrofon und verkündete: "Schutzhäftlinge! Auf einen Befehl des Reichsführers SS hin wurde beschlossen, mit sofortiger Wirkung die Evakuierung des Lagers Sachsenhausen einzuleiten. Es handelt sich dabei um eine reine Vorsichtsmaßnahme, die zu Eurem eigenen Schutze dient. Der blockweise Abmarsch zur Räumung des Lagers beginnt in genau 15 Minuten. Es ist nicht erlaubt, außer einer Wolldecke irgendwelches Gepäck oder sonstige Gegenstände mitzuführen! Schutzhäftlinge, rührt Euch! Die Mützen auf! In die Quartiere weggetreten!".
Zurückgekehrt in die Baracken packte nun auch die Häftlinge eine sichtliche Unruhe. Da keimte angesichts der näherrückenden amerikanischen, britischen und sowjetrussischen Truppen einerseits die heimliche Hoffnung auf, daß es mit dem grausamen Spuk des Dritten Reichs nun bald vorbei sei. Doch unter diese Hoffnung mischte sich auch die unheimliche Furcht, jetzt so kurz vor der bevorstehenden Befreiung noch rasch von der aufgescheuchten SS in den Tod getrieben zu werden. Gerüchte im Flüsterton machten unter den Häftlingen die Runde und schürten damit Angst und Hoffnung. Einige meinten, man würde einfach in ein anderes Lager in Norddeutschland verlegt. Andere mutmaßten, man würde vielleicht von der SS an die Amerikaner ausgeliefert, die sich damit ihre Straffreiheit erkaufen wolle. Am glaubhaftesten aber erschien ein Gerücht, das wieder einmal von den Häftlingen der Schreibstube aufgeschnappt worden war. Da hieß es, die Naziführung hätte beschlossen, das Lager zu räumen, um so unliebsam gewordene Zeugen für die Schrecken ihrer Herrschaft zu beseitigen. Dazu wolle man die Gefangenen am Ostseestrand auf Schiffe verladen und sie dann auf offener See versenken. Rasch wurde dieser schreckliche Gedanke wieder verdrängt. Stattdessen verbrachte nun jeder Einzelne unter den Häftlingen die letzten Minuten im Lager noch auf seine ganz spezielle Art und Weise. Diejenigen, die in ihren Baracken keine der wenigen ungezieferbehafteten Pferdehaardecken mehr aufzutreiben vermochten, begannen mithilfe des Löffels aus ihrem Eßgeschirr die Nähte ihrer Strohsäcke aufzutrennen und sich so einen schützenden Umhang zu verschaffen. Andere holten aus ihren Spinten mittels Prämienscheinen erstandene, sorgsam verwahrte Essensreste heraus und stopften sie hastig in ihre hungrigen Münder, weise vorausahnend, daß der ihnen bevorstehende Evakuierungsmarsch ein sehr langer werden würde. Wieder andere waren direkt in die Waschräume gelaufen, um dort an den großen runden Waschbecken vor dem Aufbruch noch einmal ihre trockenen Kehlen ein wenig anzufeuchten. Überall herrschte emsiges Treiben. Nur in der jüdischen Baracke war es merkwürdig ruhig. Andächtig saßen hier die Häftlinge beieinander - die zitternden Hände gefaltet, die kahlgeschorenen Häupter andächtig gesenkt - und schickten ein leises Gebet um Bewahrung und Errettung an ihren Schöpfer.
Eine Viertelstunde später standen die Häftlinge, jeder mit einer Decke oder mit etwas ähnlichem um die Schultern, blockweise abmarschbereit auf dem Appellplatz, umringt von den Wachleuten und den Hunden. Nur die Kranken und Toten sowie ein kleines Aufräumkommando blieben zurück, alle anderen marschierten unter den widerhallenden Klängen des Liedes "Heimat, Deine Sterne" durch das Lagertor hinaus in die düstere Ungewißheit. Willi Krause schaute unmittelbar vorm Aufbruch seines Blocks noch einmal zum Himmel hinauf. Nein, die besungenen Sterne der Heimat waren dort auch heute nicht zu erkennen. Zu dicht verhängten dazu die dicken schwarzen Rauchschwaden, die dem hohen Schornstein des nahegelegenen Krematoriums entstiegen und einmal mehr von der düsteren Himmelfahrt jener unzähligen zu Tode gequälten Häftlinge kündeten, den Blick aufs Sternenzelt. Und dennoch leiteten Sterne die blau-weiß-gestreifte Marschkolonne auf ihrem Weg. Es waren die sternförmigen Symbole auf der Häftlingskleidung der allen voranschreitenden Juden. Wie im Alten Testament der Bibel führte dieses kleine, geschundene Volk auch diesen Exodus an. Und all jene unter den Häftlingen, die in den Jahren ihres Martyriums den Glauben an Gott noch nicht verloren hatten, sahen darin ein kleines Zeichen der Hoffnung, daß am Ende ihres leidvollen Weges auch diesmal ein neues, ein gelobtes Land stände.
All die anderen, die diesen Glauben wie Willi Krause nicht teilten, suchten in Gedanken an ihre Familien, Frauen und Kinder nach einer anderen Art von Halt. Der war zum Überleben auch bitter nötig, denn die apriltypische Witterung machte der Häftlingskolonne das Laufen von Anfang an nicht leicht. Über den Marschierenden hatte es in der eh recht kühlen und nebelverhangenen Morgenstunde zu allem Übel nun auch noch zu nieseln begonnen. Und unter ihren zerschundenen Füßen, die oftmals in kaputten Schuhen mit völlig durchgelaufenen Sohlen steckten, spürten sie neben dem gefrorenen, naßkalten Erdboden schmerzhaft auch jeden Stein und jede noch so kleine Glasscherbe. Hinzu kam, daß sich der feine Nieselregen rasch durch die dünnen Decken und die Häftlingskluft vorarbeitete, wo er auf die gepeinigte und rissige Haut der dürren, abwehrgeschwächten Menschenleiber traf. Ständiges Zittern und Zähneklappern waren die Folge, später reagierte der Körper auf die anhaltende Unterkühlung oftmals mit hohem Fieber. Noch schneller als im Lager wuchs sich das dann am Ende zu einer heftigen Lungenentzündung aus. Diese aber ließ den Entkräfteten irgendwann ohnmächtig auf der kalten Erde zusammenbrechen und liegenbleiben, wo schon Sekunden später der Schuß aus dem Gewehrlauf eines SS-Mannes das endgültige Todesurteil über die armselige, geschundene Kreatur sprach.
Auch an Willi Krause nagte das anhaltend feuchtkalte Wetter. Es fuhr ihm in die Glieder, ließ ihn jeden einzelnen Knochen schmerzvoll spüren. Auch die alte, inzwischen durch Folter und andauernde Schinderei mehrfach angebrochene Rippe war wieder deutlich zu spüren. Hunger, Durst und Erschöpfung gesellten sich unheilvoll dazu und ließen jeden Atemzug und jeden Schritt zur unendlichen Qual verkommen. Doch Willi Krause biß die Zähne zusammen. Er war einfach nicht gewillt aufzugeben - nicht jetzt, da Ende und Neuanfang so nahegekommen waren. Nein, er wollte kämpfen, ebenso wie in der Ferne in seinem Rücken die Rote Armee vor den Toren Berlins kämpfte - erbittert und unnachgiebig um jeden Zentimeter. So verging Minute um Minute und Stunde um Stunde der erste Tag des Marsches. Die Häftlinge, die das Marschtempo immer wieder zu verschleppen suchten, um so ihren Befreiern das Näherheranrücken zu erleichtern, hatten dabei nicht einmal 20 Kilometer zurückgelegt und übernachteten schließlich - streng bewacht von ihren Peinigern - in einem kleinen Waldstück. An Schlafen war dabei aufgrund des Kläffens der Wachhunde, der eisigen Kälte und des anhaltenden Hungers kaum zu denken. Stattdessen machten sich die Häftlinge auf die verzweifelte Suche nach Eßbarem und begannen dabei, sich über wilde Beeren, Gras und Baumrinde herzumachen. Zu Dutzenden versammelten sie sich selbst um jede noch so kleine Pfütze herum und schlürften mit langen, ausgetrockneten Zungen den letzten Tropfen schmutzigen Regenwassers aus ihnen heraus. Dann kauerten sie sich im Schutze eines Baumes oder Strauches dicht aneinander - verzweifelt versuchend, sich mit ihren durchgefrorenen Körpern gegenseitig ein wenig Wärme zu spenden.
Bei Anbruch des Morgengrauens scheuchte die SS alle wieder hastig zusammen und setzte den Gewaltmarsch erneut in Gang. Wieder ging es durch kleinere Städte und Dörfer hindurch, an Feldern und Wäldern vorbei. So schlichen der Morgen und der Vormittag langsam dahin, ebenso langsam wie der nicht endenwollende Häftlingszug. Willi Krause, der dank eines plötzlich aufgetretenen starken Hustens in der zurückliegenden Nacht kein Auge zugemacht hatte, übermannte mit einem Mal die Müdigkeit. Ihm war klar, daß er - wenn er noch an seinem Leben hing - diesem Gefühl auf gar keinen Fall nachgeben durfte. Und dennoch schloß er die müden Augen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Er lauschte dabei der ihn umgebenden Geräuschkulisse und vernahm um sich herum nur Schritte. In seinem näheren Umfeld waren diese Schritte seiner Leidensgenossen wie die seinen - schwerfällig stolpernd, von blasenüberhäuften, schmerzenden und brennenden Füßen erzeugt. Nur rechts und links außen, wo sie von den schweren, blankgeputzten Soldatenstiefeln der Wachmannschaften herrührten, waren die Schritte fest und und unnachgiebig. Unterbrochen wurde dieses ungleiche Marschkonzert dabei in unregelmäßigen Abständen von dem Geschrei der Wachposten und dem Gebell ihrer Hunde. Hin und wieder knallte auch der eine oder andere Schuß, der die gesamte Häftlingskolonne jedes Mal aufs Neue geschlossen in sich zusammenzucken ließ - wurde damit doch stets der schmerzliche Verlust eines ihres Leidensgenossen verkündet. Auch jetzt peitschte wieder eine jener tödlichen Salven durch die Luft. Willi Krause riß die Augen rasch wieder auf, schaute kurz zum Himmel empor und zählte stumm. Um sich während des Gewaltmarsches wach zu halten, hatte er nämlich bereits irgendwann am ersten Tag damit begonnen, die Schüsse mitzuzählen. Nachdem er gestern bis zum Einbruch der Nacht insgesamt auf 36 kam, war er heute schon bei 23 angelangt. Und der hohe Stand zu dieser Jahreszeit noch recht kraftlosen Sonne verriet ihm, daß es gerade mal erst Mittagszeit war.
Unauffällig blickte Krause zur Seite. Vereinzelte Häuser und Geschäfte säumten rechts wie links ihren Marschweg. Anscheinend hatten sie schon wieder eine Ortschaft erreicht. Ein paar kleine Kinder, die wohl bis eben vor den Häusern auf dem Gehsteig gespielt hatten, wurden rasch von ihren Eltern gepackt und ins Haus geschleppt. Hof- und Haustüren schlossen sich und wurden eilends verriegelt, selbst am hellichten Tag wurden hier und da Jalousien heruntergelassen. Man fürchtete sich vor denen, die da in einem derart fürchterlichen Zustand wie Vieh durch die Straßen getrieben wurden - ebenso wie vor denen, die sie mit versteinerter Miene mit dem Gewehr im Anschlag brüllend vorantrieben. Man war bemüht, auch weiter die Augen zu verschließen, vor dem, was da an Grausamkeiten mit den - unter dem harmlos klingenden Deckmantel der Schutzhaft - über all die vergangenen Jahre konzentriert gelagerten Menschen geschehen war und sich nun auf diesem unmenschlichen Gewaltmarsch weiter fortsetzte. Aber es gab in den durchzogenen Ortschaften auch noch eine andere Art von Menschen, denen die erbärmlichen, bibbernden Gestalten aus Haut und Knochen durchaus Mitleid abzuringen vermochten. Mitleid, das sich sogar in Mut verwandeln konnte - den Mut beispielsweise, mit einem Kanten Brot oder einem Glas Wasser auf einen der Häftlinge zuzulaufen. Die alte Bäuerin, die jenen Mut am Vortag in einem kleinen Dorf aufgebracht hatte, erreichte ihr Ziel allerdings nicht, sondern wurde von einem der Wachposten einfach mit einem Fußtritt zurückgestoßen. Der Brotkanten oder das Wasserglas wurden ihr dabei aus den Händen gerissen und von dem Uniformierten mit einem breiten Grinsen im Gesicht demonstrativ in den Dreck des Straßenrandes geworfen. Willi Krause hatte sich diese Szene fest ins Gedächtnis eingegraben. Denn so bitter es auch war, am Ende mit ausgetrockentem Mund und ausgehungertem Magen mitzuerleben, wie neben einem köstliches, herrlich duftendes Brot und erfrischendes, klares Wasser jämmerlich im Sand verendeten, so gab einem doch allein die mutige Geste dieser einfachen Frau einen ungeheuren, nicht zu unterschätzenden seelischen Auftrieb. Bewies sie doch nur allzu anschaulich, daß auch nach zwölfjähriger Terrorherrschaft in deutschen Landen Mitgefühl und Menschlichkeit trotz allem nie ganz totzukriegen waren.
Willi war noch völlig in dem Gedanken an die Bäuerin und ihre mutige Tat versunken, als ihn plötzlich der Schlag eines Gewehrkolbens mitten auf die bereits mehrfach angeknackste Rippe traf. Neben ihm aber brüllte die verhaßte Stimme des SS-Schergen Trittschlag: "Du verdammter Idiot, hast Du denn keine Augen im Kopf. Träumt hier am hellen Tag vor sich hin! Dir werd ich Beine machen, Du Sauhund!". Und mit einem brutalen Stiefeltritt gegen das linke Schienbein beförderte der Uniformierte den strauchelnden Häftling unsanft nach rechts, zurück in die Kolonne, die vor ihm bereits in eine Nebenstraße des Dorfes einbogen war und dabei direkt auf einen idyllisch gelegenen See zusteuerte. Nur langsam fand der geschwächte Leib Krauses sein verlorenes Gleichgewicht wieder und entging damit um Haaresbreite der Gefahr des Zu-Boden-Fallens. Ebenso langsam aber registrierte sein Hirn, was eigentlich eben gerade mit ihm passiert war. Offensichtlich hatte er, während er so seinen Gedanken nachhing, das Kommando zum Rechtsschwenken völlig überhört. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn - jetzt, da er sich bewußt wurde, wie dicht er in diesem Moment einmal mehr am sicheren Tod vorbeigeschrammt war. Denn sein unbeabschichtigtes Geradeaus-Weiterlaufen und das damit verbundene Ausscheren aus der Marschformation wäre ihm zweifellos als Fluchtversuch ausgelegt und vonseiten der SS-Bewacher umgehend mit einem gezielten Genickschuß beantwortet worden.
Inzwischen war der Häftlingszug am Ufer des Sees angelangt. SS-Offizier Trittschlag gab das Kommando zum Halten und stellte sich dann mitsamt seinem wohlgenährten uniformierten Speckbauch breitbeinig vor die sichtlich erschöpften Häftlinge: "So, Ihr Bastarde, dank meiner unendlichen Güte habt Ihr jetzt die Gelegenheit, Euch mal so richtig sattzusaufen! Ich geb Euch fünf Minuten! Also macht hin!". Etwas zaghaft lösten die ausgemärgelten Gestalten ihre Marschformation auf und knieten sich Sekunden später dicht an dicht am sandigen Seeufer nieder. Sie versenkten ihre müden Gesichter im erfrischend kühlen Naß. Willi Krause aber kniete ganz links außen, wo auch die SS-Schergen ihre Hunde tränkten und zugleich ihre - vom ständigen Brüllen rauhgewordenen - Kehlen mit in ihren Feldflaschen mitgeführtem exquisiten französischem Rotwein spülten. Krause unterdess vergrub seine Hände tief im Seewasser, aus dessen Fülle er schöpfte und trank. Dabei schaute er auf die klare, zartblaue Wasseroberfläche, die vor ihm nun - infolge seiner Berührung - leichte Wellen schlug. Das strahlende Licht der Mittagssonne aber brach sich in dem Wellenspiel und blendete für einen Moment seine Augen, so daß er den Blick abwendte und zum anderen Seeufer schweifen ließ. Aus dem angrenzenden Waldstück ragte dort ein hoher Wasserturm heraus, der Willi Krause merkwürdig vertraut vorkam. Und wie er noch so auf den Turm starrte, da traf es ihn wie ein Blitzschlag. Aber natürlich ... Die Ortschaft, in der sie sich befanden, war zweifellos das Dörfchen Beetz, der Nachbarort seines Geburtsdorfes Sommerfeld. Und am Ufer des Beetzer Sees, vor dem er hier kniete, hatte er schon zu seiner Kinderzeit so manchen unbeschwerten sommerlichen Nachmittag verbracht. Zuletzt aber war er hier am 2. Juli 1932 gewesen, um auf Urlaub bei seinen Großeltern die wiederaufgetretene Verschwartung seines linken Lungenflügels auszukurieren. Jener seltenen Erkrankung, die schon seit seiner Kindheit immer mal wieder auftrat und ihm das Atmen erschwerte, verdankte er es auch, daß man ihn noch bis zum Zeitpunkt seiner Festnahme Ende 1944 trotz seiner 30 Lenze nicht zum Wehrdienst herangezogen hatte.
Und er verdankte seinem Lungenleiden sogar noch mehr, denn an jenem zweiten Julitag des Jahres 1932 hatte er sich hier am Ufer mit geschlossenen Augen im Gras liegend gesonnt, als ein fremder Fuß schmerzhaft gegen den seinen trat. Er hatte ruckartig die Augen geöffnet, wobei er unmittelbar in die strahlende Sonne schaute, vor der im selben Moment die Silhouette eines schlanken, weiblichen Wesens ins Straucheln geriet und dann direkt auf ihm zu liegen kam. Geistesgegenwärtig hatte er sich mit seinen muskulösen Armen aus dem körperlichen Übergriff des zarten Geschöpfes befreit, wozu er empört ausrief: "Hoppla, junges Fräulein, nun mal nicht so stürmisch mit den jungen Pferden!". Das gefallene Mädchen, dessen sommersproßiges Gesicht mit der Bubikopffrisur in dieser Sekunde deutlich über ihm erschien, aber hatte nur recht keck entgegnet: "Ist ja wohl eine unverschämte Frechheit, mich als Pferd zu bezeichnen. Und damit Du das auch gleich weißt: Ich heiße Luise, Du oller Esel, Du!". In diesem Augenblick trafen sich die Blicke der beiden jungen Leute, und es war um sie geschehen. Das Pferd Luise und der Esel Willi kamen recht rasch angeregt ins Plaudern, man scherzte und verbrachte schließlich dicht nebeneinander liegend noch einen herrlich verträumten Nachmittag miteinander. Irgendwann machten sich Willis Fingerspitzen auf dem grünen Gras auf die Suche nach denen Luises und wurden dabei rasch fündig. Wie es sich für ein anständiges Mädel gehörte, entzog sich Luise dem forschen Vordringen des Jünglings zunächst, nahm aber kurz darauf ihrerseits die unterbrochene Kontaktaufnahme wieder auf. Hand in Hand spazierten die Beiden schließlich im Sonnenuntergang am Seeufer entlang, bevor sich - mit einem scheuen Gute-Nacht-Kuß besiegelt - ihre Wege bei Anbruch der Dunkelheit fürs Erste trennten ...
Willi Krause hatte angesichts jener angenehmen Erinnerung für einen Augenblick alles um sich herum vergessen und ließ sich völlig unbekümmert rücklings ins Gras des Seeufers fallen. Dabei blickte er zur Seite, wo die Silhouette eines uniformierten Mannes neben einem Hund kniete und geradezu liebevoll über dessen seidig glänzendes Fell streichelte. Der Kopf des Uniformierten aber drehte sich langsam in Willi Krauses Richtung. Dann schnellte der Mann, der niemand anders als SS-Mann Trittschlag war, plötzlich wie eine abschußbereite Rakete nach oben und brüllte: "Was gibts denn da zu glotzen? Da hört sich einem doch alles auf, suhlt sich das Dreckschwein hier doch saufrech im Gras und glotzt mich stundenlang mit seinen dämlichen Schweinsäuglein an! Bist wohl am Ende gar kein Politischer, sondern einer von diesen perversen Hinterladern, wie! Mann, sieh bloß zu, daß Du Land gewinnst! Und überhaupt ist das gemütliche Picknick hier jetzt zuende! Na los, alles in Marschordnung antreten, aber dalli!". Mühsam erhoben sich die knienden Häftlinge vom Ufer des Sees und nahmen - so rasch es ihnen eben möglich war - auf dem nahegelegenen Sandweg Aufstellung. Und unter dem Gebrüll, den Tritten und den Schlägen ihrer Bewacher setzten sie schon wenige Augenblicke später ihren Marsch in Richtung Norden fort.
Als sie das Dorf Beetz schließlich schon wieder ein Weilchen hinter sich gelassen hatten und sich - umgeben von dichten Wäldern - langsamen Schrittes auf die nächste Ortschaft zuschleppten, bemerkte Willi Krause in seinem Rücken auf einmal ein mehrfaches, leises Räuspern. Dem Räuspern folgte ein Zischen, dem Zischen ein Flüstern. Das Flüstern aber verkündete: "Grüß Dich, Willi! Ich bin's, der Franz, Franz Eifrig!". Willi drehte sich vorsichtig um und lächelte. Es tat gut, einen Freund wie Franz in seiner Nähe zu wissen. Schließlich verdankte er ihm doch die Nachricht, daß seine Luise und seine kleine Kathrin noch am Leben waren - und damit das, was ihm Tag für Tag den Mut zum Durchhalten gab. Flüsternd erkundigte sich Willi nach dem Befinden seines Freundes. Der aber seufzte nur: "Ach, mir geht's gar nicht gut! Ich kann nicht mehr, Willi! Ich bin so müde! Ich will, daß endlich Schluß ist mit dem allen hier!". Willis bis dato recht erschöpft wirkenden Gesichtsausdruck befiel mit einem Male etwas Kämpferisches, während er raunte: "Franz, Junge! Es ist ja bald soweit! Du wirst doch jetzt nicht schlappmachen, wo wir das Ziel schon ganz nah vor Augen haben?!". Franz aber seufzte nur: "Was denn für ein Ziel? Ich will schlafen, einfach nur ausruhen und schlafen! Das ist mein einziges Ziel". Willi spürte, wie ernst es um Franz bestellt war. Sein Leidensgenosse war im Begriff, sich und das Leben aufzugeben. Das aber wollte Willi Krause auf keinen Fall zulassen, und so flüsterte er ein wenig barsch: "Nichts da! Los, Kamerad! Sing! Singen hilft, Du wirst sehen! Na los, unser heimliches Lagerlied. Ich fang an ... 'Wir schreiten fest im gleichen Schritt, wir trotzen Not und Sorgen' ...". Und Franz in seinem Rücken ergänzte leise: "... 'denn in uns zieht die Hoffnung mit, auf Freiheit und das Morgen' ...". Willi nickte zufrieden: "Na siehste, Franzmann, geht doch! Und gleich noch eine Strophe, weil's so schön ist ... 'Das Leben lockt hinter Drahtverhau, wir möchten's mit Händen greifen' ...". Und wieder stimmte Franz leise, am Ende kaum noch hörbar ein: "... 'dann werden unsre Kehlen rauh und die Gedanken schweif' ...".
Willi lauschte nervös, dann wisperte er: "In Ordnung, Franz, vergiß das Singen! Denk stattdessen einfach mal an was ganz Schönes, an etwas, das Du machen willst, wenn das alles hier endlich vorbei ist". Die schon verstummt geglaubte Stimme in seinem Rücken wurde mit einem Male doch wieder kräftiger und sprach: "Weißt Du, ich such mir eine Frau, eine wie diese Barbara. Dann fahr ich sonntags mit ihr ins Grüne raus. Und da geh ich dann stundenlang mit ihr spazieren und pflück ihr einen riesengroßen Strauß Schneeglöckchen. Genau solche wie das da, das da neben dem Baum dort ...". Willi nickte: "Ja, Franz, genau! Jetzt hast Du es endlich begriffen! Durchhalten mußt Du, nur noch ein kleines bißchen. Und dann kannst Du all das in die Tat umsetzen, in einem neuen, besseren Deutschland, ganz ohne Nazis und ohne Lager". Willis Schritt wurde mit einem Male wieder fester, dachte doch nun auch er wieder an all das, was er nach seiner bevorstehenden Befreiung mit seinen beiden Mädchen unternehmen würde. Da ließ ihn plötzlich ein Schuß ganz in seiner unmittelbaren Nähe zusammenzucken. Einen Moment lang saß Willi Krause der Schreck tief in den Knochen. Doch als er dann registrierte, daß die tödliche Salve nicht ihm gegolten hatte, fand er rasch seinen Mut und die Sprache wieder und flüsterte nach hinten: "Mensch, Franz, da hat es schon wieder so einen armen Kerl erwischt, der sich aufgegeben hat. Aber uns, uns Beiden kann das jetzt nicht mehr passieren. Da hab ich doch recht, oder?". Er wartete gespannt auf eine Antwort, doch die blieb aus. Nicht einmal ein Flüstern, ein Zischen oder auch nur das geringste Räuspern des Freundes waren zu hören. Vorsichtig drehte Willi seinen Kopf ein wenig nach hinten, doch Franz Eifrig war nicht mehr da. Er lag mit durchschossenem Kopf etwa hundert Meter hinter der Kolonne am Straßenrand - ein kleines, zartes Schneeglöckchen liebevoll mit seiner Hand umklammernd ...
[Wird fortgesetzt]
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