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sven1421

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Montag, 16. Januar 2012, 21:48

DIE BRÜDER KRAUSE. Ein deutsch-deutsches Schicksal.

Hinweis: Der hier folgende Fortsetzungsroman basiert auf einer lang gehegten Idee, die Geschichte des deutschen Volkes einmal in Form zweier Einzelschicksale zu reflektieren. Ich habe mir hierfür die Deutschen Fritz und Wilhelm Krause ausgesucht, deren einzelne Lebensstationen hier aufgezeigt werden mit all der Tragik, die dem unterschiedlichen Schicksal beider Hauptfiguren anlastet. Die Darstellungen werden dabei an einigen Stellen recht heftig und unverhohlen sein, so daß ich den unter 16jährigen Besuchern dieses Forums lieber vom Lesen der Geschichte abraten möchte. Dennoch muß letztlich jeder selbst entscheiden, ob er sich diese nicht ganz leichte Kost zumutet. Allen, die es dennoch wagen, wünsche ich wie stets Gute Unterhaltung!

DIE BRÜDER KRAUSE. Ein deutsch-deutsches Schicksal.

Dunkel und kalt ist es urplötzlich rund um ihn herum. Dunkel - und das obwohl draußen die Sonne an diesem zweiten Julitag des Jahres 1990 so schön wie nie über Deutschland scheint. Kalt - und das an einem der heißesten Sommertage der letzten hundert Jahre auf deutschem Boden. Im halbdunklen Innern eines niedrigen, alten Holzschuppens steht ein alter Mann mit versteinerter Miene. Seine zittrigen Hände legen sich die Schlinge des fest am Dachbalken verknoteten Stricks um den dürren, faltigen Hals und ziehen sie langsam aber unerbittlich zu. Ein letzter Stoßseufzer entfährt seinen leicht geöffneten Lippen. Und während sich seine Augen schließen, geht sein Körper langsam in die Knie. Die Luft wird ihm knapp. Etwas in ihm will sich rasch wieder aufrichten - es ist der letzte Funke eines verzweifelten menschlichen Überlebensinstinkts. Noch tiefer läßt er in sich zusammensinken, den inneren Widerstand brechend. Seine Hände verkrampfen sich zu Fäusten, während sich sein Gesicht bläulich zu verfärben beginnt. Die Sinne schwinden schon - jetzt heißt es durchhalten ... durchhalten bis zum bitteren Ende. Schon merkwürdig, daß diese alte Parole das letzte sein soll, was ihm am Ende seines Lebens in den Sinn kommt. Dabei hat doch mit ihr einst das ganze Elend erst angefangen. Über ihn bricht bei diesem Gedanken die dunkle Nacht des Todes herein ... jene dunkelste aller Nächte, wie sie vor vielen Jahrzehnten über das ganze deutsche Volk hereingebrochen zu sein schien ...



STALINGRAD. Januar 1943.

Aus jener rauchverhangenen Trümmerlandschaft der Innenstadt Stalingrads, die den Unterschlupf der spärlichen Überreste eines deutschen Stoßtrupps umgab, hechtete Hauptmann Peter Borberg inmitten des russischen Sperrfeuers in einen der notdürftig angelegten Schützengräben. Am Schlawittchen zog der Feldgraue einen Jungen in einer viel zu groß geratenen hellbraunen Uniform mit sich in die Tiefe. Dazu schrie er mit funkelnden Augen: "Nun schaun Sie sich mal an, was ich da mitgebracht hab. Einen Iwan in Kleinausgabe. Das Bürschchen sollte uns anscheinend ausspionieren". Bei diesen Worten schlug er den Jungen die flache Hand mit einer derartigen Wucht ins Gesicht, das der Kopf des weinenden Knaben regelrecht zur Seite flog. Im nächsten Augenblick winkte er den Gefreiten Fritz Krause zu sich heran und brüllte ihm dabei entgegen: "Krause, Sie kennen den Befehl unseres Führers und obersten Kriegsherrn, was russische Kriegsgefangene betrifft?". Fritz Krause zögerte einen Moment, dann nickte er. Wieder brüllte ihm Borberg mitten ins Gesicht: "Na und, ich höre!". Der Gefreite Krause knallte die Hacken seiner Stiefel derart zackig zusammen, daß sich der Staub daran augenblicklich vom mürbe gewordenen Leder trennte. Ebenso zackig gab er aus dem Gedächtnis heraus den angesprochenen Befehl Hitlers wieder: "Mit russischen Gefangenen ist wie folgt zu verfahren ... Sie sind auf der Stelle und ohne Verzögerung zu exekutieren, Herr Hauptmann". Borberg klopfte seinem Untergebenen auf die staubige Schulter der Uniformjacke. Dann zog er aus seinem Gürtel die Dienstwaffe hervor und entsicherte sie grinsend vor den Augen des eingeschüchtert dastehenden Russenjungen. Fritz Krause besah sich den Jungen an der Seite seines Vorgesetzten genauer. Das bibbernde Häufchen Elend, welches der Gefreite spontan auf höchstens 10 Jahre schätzte, wagte es nicht, seinen tränenverschleierten Blick auch nur eine Sekunde zu erheben. Stattdessen stotterte er kaum hörbar: "Paschjalista, ne chatschu uhmeritch!". Krause verstand kein Wort Russisch, aber er wußte auch so, worum der arme Knabe da flehte. Er winselte um sein junges Leben, bat seine Hescher um Verschonung. Auch Borberg mußte das zweifellos begriffen haben, doch in seinem teuflischen Gesichtausdruck zeigte sich keine Spur von Mitgefühl für den Knaben. Stattdessen brüllte er erneut auf den Gefreiten Krause ein: "Na los, Krause, Befehl ausführen! Ich lasse Ihnen den Vortritt! Erschießen Sie das dreckige Stalinbalg!". Gleichzeitig streckte er ihm die entsicherte Walther PPK entgegen. Fritz Krause schluckte entsetzt. Was sollte er tun? Ein halbes Kind ermorden! Aber das konnte dieser verdammte Borberg doch nicht von ihm verlangen. Alles hatte er getan, was man von ihm verlangt hatte. Er hatte durchgehalten in diesem Hexenkessel, so aussichtslos die Lage auch schien. Er hatte es ertragen, Tag und Nacht oftmals ununterbrochen im Dauerbeschuß der russischen Katjuschas zu liegen und dabei dennoch verbissen für Führer, Volk und Vaterland um jeden Quadratmeter russischen Bodens zu kämpfen. Er hatte sogar jede Nacht die monotone Durchsage der russischen Lautsprecherwagen über sich ergehen zu lassen, die pausenlos - sich unauslöschlich ins Hirn hineinhämmernd - verkündete: "Alle 7 Sekunden stirbt ein deutscher Soldat. Stalingrad - Massengrab!". All das hatte er erduldet, all das mitgemacht. Nur das hier, das würde er nicht tun! Niemals! In sein Ohr drang wieder das unbarmherzige Gebrüll des Hauptmanns: "Los jetzt! Oder verweigern Sie etwa die Ausführung eines Führerbefehls?! Kerl, dafür kann ich sie hier und auf der Stelle standrechtlich erschießen!". Aus dem Augenwinkel bemerkte Krause, wie der wutschnaubende Borberg seine Waffe nun wieder umdrehte und auf ihn anlegte. Instinktiv griff jetzt auch er zu seiner Pistole. In Windeseile war sie gezogen und entsichert, so wie man es millionenfach in der Grundausbildung geübt hatte. Ohne nachzudenken, legte er auf Borbergs Stirn an und jagte mit entschlossenen Druck des Zeigefingers auf den Abzug seinem überraschten Vorgesetzten eine Kugel mitten ins zorngerötete Gesicht. Der Körper des tödlich getroffenen Offiziers geriet unmittelbar ins Straucheln. Und während er leblos zu Boden sank, löste sich aus seiner Pistole ebenfalls noch eine letzte Kugel, die sich direkt in das Herz des ängstlichen russischen Jungen bohrte. Auch der Knabe sank sofort tot zu Boden, und das Blut, das anschließend in rauhen Mengen unter seinem Körper hervorsickerte, vereinte sich mit der Blutlache, die sich derweil unter dem Kopf seines Mörders gebildet hatte. Krause starrte wie versteinert auf den immer größer werdenden Blutsee zwischen den beiden Toten. Dabei dachte er bei sich: 'Was für ein Wahnsinn! Wer will denn jetzt noch sagen, welcher Blutstropfen hier arischer Abstammung ist und welcher nicht?! Dieses ganze Geschwätz von der Herrenrasse ist überhaupt ein einziger Irrsinn. Nicht wie die überlegenen Herrenmenschen haben wir uns hier aufgeführt, nein, im Gegenteil - wie die Tiere, wie wilde, entmenschlichte Bestien. Wir sind hier die wahren Untermenschen!'. Dabei fiel sein Blick auf den toten Hauptmanns mit dem eingefrorenen, teuflischen Grinsen und den weitaufgerissenen, ins Leere starrenden Augen. Haß kam in Fritz Krause hoch, Haß auf den Krieg und auf die, die ihn in diesen Krieg hinein führten, um nicht zu sagen: verführten! Er beugte sich herunter zu den toten Augen seines unmittelbaren Verführers und hatte plötzlich das Gefühl, der Tote würde ihn anstarren. Ja, es schien so, als würde er ihm ganz frech entgegengrinsen und ihm dabei entgegenzubrüllen versuchen: 'Ich bin nicht totzukriegen! Niemand kann unsereins je aufhalten! Niemals! Wir werden weitermarschieren, auch wenn alles in Scherben fällt, denn heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt". Der Gefreite Krause schüttelte energisch den Kopf und hielt sich dabei krampfhaft beide Ohren zu. Er konnte dieses leere Nazigewäsch einfach nicht mehr ertragen. Das mußte endlich aufhören! Und zwar jetzt! Damit ergriff er einen der im Schutt herumliegenden roten Ziegelsteine und schlug damit unaufhörlich wie wild auf die tote Fratze Borbergs ein. Seine ganze aufgestaute Kriegswut entlud sich dabei, und so ließ er den Stein wieder und wieder in hohem Bogen auf den Schädel des Hauptmanns niedersausen, dessen Knochen unter den heftigen Schlägen zu zersplittern begannen, während gleichzeitig die darunterliegende Hirnmasse des toten Offiziers durch die Gegend spritzte. Erst als einige der Spritzer Krauses Gesicht trafen, kam dieser schlagartig wieder zu sich. Er bemerkte, was er angerichtet hatte und wand angeekelt den Kopf zur Seite, wobei er sich sofort ausgiebig zu übergeben begann.

Entgeistert erhob sich Fritz Krause und wischte sich mit dem Unterarm den übelriechenden Schleim von den Lippen. Dazu nahm einen großen Schluck des beim Vordringen erbeuteten Wodkas aus seiner Feldflasche, um den säuerlichen Nachgeschmack in seinem Mund zu ertränken. In diesem Moment bemerkte er hinter sich Schritte, die sich ihm näherten. Er drehte sich ruckartig um und stand damit direkt vor zwei Angehörigen der eigenen Feldgendarmerie. Der Dickere der beiden Männer schlug ihm ohne Vorwarnung die Faust ins Gesicht, welches sofort höllisch zu schmerzen begann. Der Dünnere aber schrie: "Du Drecksau, was hast Du getan! Das war Mord an einem Kameraden und noch dazu an einem Vorgesetzten! Dafür wirst Du baumeln, Du Schwein!". Wieder schlug ihm der Dicke ins Gesicht, diesmal so heftig, daß Krause ohnmächtig zu Boden ging.

Nur langsam kam der Gefreite wieder zu sich. Fritz Krause hatte keine Ahnung, wie viel Zeit inzwischen vergangen sein mochte. Er versuchte, sich umzuschauen, doch er sah nichts. Nur ein fader Lichtschein drang zu seinen Augen vor. Wahrscheinlich hatte man ihm die Augen verbunden. Er wollte es mit den Händen genauer erfühlen, doch die mußten ihm wohl hinter dem Rücken zusammengebunden worden sein. Auf jeden Fall schmerzten ihm bei dem Versuch, seine Hände zu heben, sofort beide Handgelenke. In seinem Rücken hörte er wieder Schritte, die sich ihm näherten und plötzlich verhalten. Einige Sekunden später schrie eine Stimme, die Fritz Krause sofort als die des dünneren Feldgendarmen wiedererkannte: "Gefreiter Fritz Krause. Wegen der kaltblütigen Ermordung eines deutschen Volksgenossen und Kameraden und wegen feigem Verrat an Führer und Vaterland werden Sie vom hier in aller Eile einberufenen Standgericht zum Tod durch den Strang verurteilt. Das Urteil ist rechtskräftig und wird umgehend vollstreckt". Jemand näherte sich den Gefreiten schnellen Schrittes und blieb unmittelbar hinter ihm stehen. Zwei Hände packten Krauses Hüfte und hoben ihn in die Luft, von wo aus sie ihn eine Sekunde später wieder abstellten. Der Gefreite spürte nun den eiskalten Atem des hinter ihm Stehenden in seinem Nacken, um den sich im nächsten Moment die Schlaufe eines Strickes legte. Dann wurde der Strick gestrafft und die Schlinge dadurch ruckartig festgezogen. Unter Krauses Füßen aber begann es im selben Augenblick zu wackeln. Erst jetzt bemerkte der Todeskandidat, daß er offensichtlich auf eine Art Kiste oder Hocker gestellt worden war, die sein Hintermann nun energisch unter seinen Beinen wegzuschieben versuchte. Fritz Krause sprach im Angesicht des unausweichlichen Todes ein letztes stilles Gebet, in dem er Gott um die Vergebung all seiner Sünden bat. Dann befahl er seinen Geist in die Hände des Allmächtigen. Nochmals wackelte es heftig unter seinen Füßen, dann durchbrachen einige Sekunden lang zwei kurze Maschinenwehrsalven jäh die Stille der Hinrichtungsstätte. Krause hörte schwere Schritte, die eilends näherkamen. Was war das? Bekamen seine beiden Henker jetzt Verstärkung? Wollten Sie ihm kurz vor dem Tod noch einmal so richtig Angst einjagen?! Wenn ja, so war ihnen das gründlich gelungen. Denn obwohl er sich längst mit dem Gedanken an den Tod angefreundet hatte, hätte es ihn doch überrumpelt, wenn er nun plötzlich statt durch Erhängen im Kugelhagel eines MG sein Leben aushauchen würde. Darauf war er jetzt schließlich nicht vorbereitet. Verzweifelt lauschte er. Doch zunächst blieb es ruhig. Keine Ruckeln an der Kiste, kein Schuß aus dem Hintergrund, kein Wort war zu vernehmen. Endlos erschienen dem Verurteilten die Sekunden der quälenden Ungewißheit. Dann aber plötzlich streiften ihm rauhe Männerhände, die nach Tabak und Schnaps rochen, erst die Schlinge vom Hals und dann die Binde von den Augen. Fritz Krause blinzelte entgeistert in die Mittagssonne der ihn umgebenden Trümmerlandschaft. Um ihn herum stand ein gutes Dutzend russischer Soldaten in ihren hellbraunen Uniformen. Einer der Russen meinte schließlich: "Du nix mehr Angst haben, Dich hier keiner umbringen". Damit deutete er mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf die in unmittelbarer Nähe am Boden liegenden durchsiebten Leiber der beiden Feldgendarmen. Dann richtete er seinen Finger in der Ferne auf jene Stelle, an der noch immer die Leichen Borbergs und des erschossenen Russenknaben lagen, und der Russe sprach: "Aber Du uns müssen alles erzählen, was sein passiert hier, ganzes Wahrheit! Du nämlich jetzt sein sowjetisches Kriegsgefangener! Du verstehen!". Krause nickte nur stumm. Innerlich aber fiel ihm doch ein Stein vom Herzen. Besser ein Gefangener der Russen, als noch länger weichgekochtes Kesselgulasch im sinnlosen Durchhaltekrieg des wahnsinnigen Verführers und Verblenders des deutschen Volkes".

[Wird fortgesetzt]

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Montag, 16. Januar 2012, 21:50

Episode 2

VOLKSGERICHTSHOF BERLIN. November 1944.

"Sie sind ja ein ganz schäbiger Lump!", peitschte es in ohrenbetäubender Lautstärke durch den gut gefüllten Gerichtssaal. Wie ein Donnerschlag brauste das Geschrei vorbei an den ausnahmslos uniformierten Prozeßbesuchern. Es brach sich vor, neben und hinter ihnen an den kahlen Steinwänden, so wie es auch schon so manchen der hier Vorgeführten gebrochen hatte. Und schließlich hallte es von den seelenlosen Mauern des amtlichen Gebäudes als vielfaches Echo zurück, den Anwesenden vorgaukelnd, es müsse wohl die einstimmige Entrüstung eines ganzen Volkes sein.

Inmitten des Saales aber stand, links und rechts von je einem uniformierten Schutzmann mit versteinerter Miene flankiert, in einem abgewetzten grauen Anzug der Angeklagte, dem diese verbale Attacke galt und der in diesem speziellen Falle Wilhelm Krause hieß. Krause aber ließ sich von dem wildgestikulierenden Mann auf dem Richterstuhl nicht einschüchtern. Innerlich schüttelte er nur mit dem Kopf. Nein, wenn es nach ihm ginge, sollte dieses ewige Dauergeschrei mordlüsterner und menschenverachtender, uniformierter Naziknechte nicht das Bild sein, daß man weltweit vor Augen hatte, wenn man den Namen Deutschland aussprach. Er wollte durch sein Beispiel ein anderes Bild von seinem Vaterland zeichen - ein friedliebendes und alle Menschen gleichsam achtendes. Standhaft blickte er nach vorn. Hinter dem Richterstuhl baumelte jene ihm so verhaßte rot-weiße Fahne der Bewegung mit dem pechschwarzen Kreuz und seinen Haken. An einem dieser Haken sollte wohl auch er in Kürze baumeln, wenn es nach dem wutschnaubenden obersten Führerlakaien vor ihm ging. Willi Krause schob diesen finsteren Gedanken an sein nahendes Ende rasch von sich. Stattdessen schaute er ein wenig nach rechts, wo vor der Fahne der in Bronze gegossene Kopf Adolf Hitlers anstelle der seit 1933 aus sämtlichen deutschen Gerichtssälen verbannten Justizia ein längst nicht mehr gerechtes oder gar unparteiisches Auge auf all die zur Farce gewordenen Prozesse warf. Krause nahm den Kopf noch ein wenig näher ins Visier. Zu gern hätte er es noch erlebt, wenn dieser seinem Besitzer - wie hier symbolisch bereits geschehen - vom Rest des menschenverachtenden, völkermordenden Körpers abgetrennt worden wäre. Ja, er hätte sogar mit innerer Genugtuung am Tode des Tyrannen mitgewirkt. Aus diesem Grunde stand er ja schließlich auch hier. Krauses Blick landete wieder bei dem Mann in der Mitte jenes ominösen Volksgerichtshofes, der längst im Namen des Führers zu einem reinen Absegnen von langjährigen Zuchthausstrafen und Todeurteilen verkommen war. Da erhob er sich nun in seiner ganzen Pracht ... Roland Freisler, jener oberste Vollstrecker von Hitlers Gnaden - in seiner roten Robe, rotgefärbt von dem unschuldigen Blut Tausender, die durch sein unerbittliches Urteil den Tod fanden.

Wieder setzte er zu einer seiner Haßtyraden an, die - wie die seines großen Vorbilds - meist leise und nüchtern begannen und stets in einem erschütternden Sturmgebraus zu enden pflegten: "Angeklagter, Sie haben also heimlich Hetzschriften gedruckt und diese am Vormittag des 20. Juno des Jahres mit ihrer inzwischen ebenfalls verurteilten - und zusammen mit ihrer gemeinsamen Tochter ins Lager nach Ravensbrück überführten - Ehefrau aus einem anfahrenden Zug auf den Bahnsteig des Bahnhofs Friedrichstraße geworfen. In jenem verbrecherischen Machwerk riefen sie dabei ganz offen zur Verweigerung des Kriegsdienstes und der damit verbundenen Gefolgschaft für unseren geliebten Führer auf. Ja, mehr noch, ganz unverhohlen und unverschämt propagierten Sie darin ihre Absicht, den obersten deutschen Kriegsherrn und damit unser allseits geschätztes, ruhmreiches Staatsoberhaupt umbringen zu wollen. Ich zitiere: 'Hitler aber muß sterben, damit Deutschland leben kann!'. Ich kann mir schon genau denken, aus welcher Ecke diese absurde Aufforderung zum erneuten Dolchstoß gegen unser Volk tatsächlich kommt. Geben Sie doch endlich zu, daß Sie auch zu jener von Moskau und London aus beauftragten und fremdgesteuerten jüdisch-bolschewistischen Brut gehören, die unsere aufopferungsvollen Truppen bis in die oberste Spitze hinein unterwanderte und noch am selben Tage versuchte, den Führer durch ein gemeines Attentat hinterrücks aus dem Weg zu räumen. Für derart durchtriebene Subjekte, wie Sie und Ihresgleichen es sind, fehlen mir einfach die Worte". Wilhelm Krause hatte für den Bruchteil einer Sekunde die leise Hoffnung, daß wenigstens dieser letzte Satz Freislers zur Abwechslung einmal etwas Wahres beinhalten könnte. Doch Hitlers Blutrichter fuhr bereits in unvermittelter Schärfe mit seinem Gegröle fort: "Sagen Sie einmal, schämen Sie sich denn gar nicht? Haben Sie keinen Funken von Ehrgefühl mehr in Ihrem Leibe? Gerade Sie, dessen eigener Bruder in Stalingrad heldenhaft in vorderster Front allen bolschewistischen Angriffen trotzte, unseren neugewonnenen Lebensraum im Osten bis zum Letzten erbittert verteidigte und seither als vermißt gilt?".

Willi Krauses Fäuste ballten sich bei dem Gedanken an seine Familie und seinen jüngeren Bruder Fritz. Und nun schrie es auch aus ihm heraus: "Ja, doch, ich schäme mich! Ich schäme mich, daß ich dem ganzen Treiben Ihres Führers und seinesgleichen so lange tatenlos zugesehen habe. Ich habe es durch meine abwartende Haltung mitverschuldet, daß Ihre Partei ein ganzes Volk verblenden und in einen von Anfang an aussichtslosen, nur der unerbitterlichen Massenabschlachtung von Menschen dienenden Krieg treiben konnte. Meinen Bruder, wie all die anderen armen deutschen Soldaten, hat Ihr Führer im eisigen Kessel von Stalingrad sinnlos verheizt, als eine Niederlage aus militärischer Sicht längst unabwendbar war. So, wie er noch jetzt Kinder und Greise als letztes Aufgebot seines sogenannten Totalen Krieges in die verlorene Schlacht wirft. Doch die Stunde der Niederlage ist nahe und damit auch die Stunde, in der Ihr Führer und Ihresgleichen auf einer Anklagebank sitzen und sich für all die Greultaten zu verantworten haben, derer sie sich über die Schreckensjahre des Nationalsozialismus im Namen des Deutschen Volkes an ihm und allen anderen Völkern der Welt schuldig gemacht haben! Aus den Trümmern Ihrer Gewaltherrschaft aber wird am Ende für unsere Kinder ein besseres, ein menschenwürdiges Deutschland emporsteigen - aufgerichtet und geführt von all jenen guten, aufrichtigen Deutschen, die Sie nicht zum Schweigen bringen konnten, so sehr Sie es auch versucht haben".

Freislers Gesicht hatte sich dunkelrot verfärbt, und seine linke Hand krallte sich in das gebeizte Eichenholz des Tisches vor ihm. Gleichzeitig verkrampfte sich seine rechte Hand und schnellte - in die Luft emporgehoben - einem Hammer gleich auf die Tischplatte, so daß sämtliche Blätter der vor ihm liegenden Anklageschrift dabei wild durcheinanderflogen: "Ruuuhe! Was erlauben Sie sich eigentlich? Habe ich Ihnen das Wort erteilt? Sie wagen es, diesen Gerichtssaal dazu zu mißbrauchen, um hier kommunistische Agitation zu betreiben? Ich entziehe Ihnen hiermit ein für allemal das Wort! Unerhört, was sich das Deutsche Volk von einem gemeingefährlichen Subjekt wie Ihnen alles gefallen lassen muß! Aber Ihr aufbrausendes Verhalten hier vor Gericht zeigt ja nur einmal mehr, mit was für einer gewissenlosen Kanaille wir es hier zu tun haben". Ohne zu bemerken, daß er sich mit dem letzten Satz unfreiwillig selbst den Spiegel vorgehalten hatte, richtete er seinen Blick nun kurz auf die Beisitzer zu seiner Rechten und seiner Linken und bemerkte selbstzufrieden: "Ich glaube, wir haben schon mehr als genug gehört, meine Herren. Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück". Damit erhoben sich die Männer hinter der Richterbank und entwichen wortlos durch ein Hintertürchen in einen der Nebenräume. Willi Krause, der von seinen beiden Schutzmännern zurück zur Anklagebank begleitet worden war, harrte dort ganz ruhig der bevorstehenden Verkündung seines Urteils. Schließlich war die vermeintliche Beratung hinter verschlossenen Türen ja eh nur der letzte Akt jenes Schauspiels, das dem Tribunal gegen ihn nach außen hin den trügerischen Anschein von ordentlicher Rechtsprechung geben sollte. In Wirklichkeit stand das Urteil doch bereits vor dem Beginn der Verhandlung fest, und die Beisitzer hatten nur noch die Aufgabe, es in völkischer Gleichschaltungsmanier abzunicken.

So dauerte es denn auch kaum zehn Minuten, bis die Herren von ihrer Beratung zurückkehrten und wieder an den ihnen zugeteilten Plätzen Aufstellung nahmen. Der reinrassige Bluthund Freisler in ihrer Mitte aber - der in der von ihm augenblicklich eingenommenen arischen Siegerpose seinem Herrchen nun vollends gleichen zu wollen schien - begann ohne Umschweife mit der Urteilsverkündung: "Im Namen des Deutschen Volkes. In der Strafsache gegen den Schweißer Wilhelm Krause aus Berlin, geboren am 12.11.1914 in Sommerfeld/Mark Brandenburg, zur Zeit in dieser Sache in gerichtlicher Untersuchungshaft wegen öffentlichem Bekenntnis zur Absicht der Ermordung des Führers befindlich, hat der Volksgerichtshof, Erster Senat, aufgrund der Hauptverhandlung vom 9. November 1944 für Recht erkannt: Der Angeklagte Wilhelm Krause hat in einer Schicksalsstunde des deutschen Volkes planmäßig unverhohlen und in infamster Weise öffentlich in volksverhetzenden Flugschriften zum Mord am Führer aufgerufen. Er hat damit in hinterhältigster Weise versucht, das nationalsozialistische Wesen seines eigenen, unseres deutschen Volkes zu zermürben und den Durchhaltewillen seiner Landsleute in verräterischer Art und Weise zu untergraben. Er verstieg sich dabei gar zu der verabscheuungswürdigen Aussage, das Überleben Deutschlands sei nur durch die Ermordung des Führers, Reichskanzlers und obersten Feldherrn zu erreichen. Er wird hierfür zum Tod durch den Strang verurteilt. Er ist damit gleichzeitig für immer ehrlos. Bis zur endgültigen Vollstreckung des Urteils wird Wilhelm Krause in die Obhut des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Oranienburg überstellt, wo er Gelegenheit haben wird, vor seinem Ableben noch einmal über sein schändliches Treiben nachzudenken. Aufgrund seines ungebührlichen Verhaltens während der Hauptverhandlung verweigert das Gericht dem Angeklagten zudem in diesem Fall das sonst übliche Privileg, sich zu diesem Urteile abschließend noch einmal selbst äußern zu dürfen. Die Verhandlung ist hiermit geschlossen".

Der soeben zum Tode Verurteilte schritt daraufhin in Begleitung der ihm zugteilten Wachmänner scheinbar ungerührt an den Robenträgern vorbei durch die von zwei Säulen eingeschlossene - vom Gerichtsdiener inzwischen weit aufgestoßenen - Haupteingangstür. Erst im düsteren Flur mit den vergitterten Fenstern schossen ihm die Tränen in die Augen, während er vor seinem geistigen Auge die Gesichter seiner Frau Luise und seiner achtjährigen Tochter Kathrin vor seinem geistigen Auge auftauchen sah. Nie würde er die Beiden wohl wiedersehen, niemals wieder sein kleines und sein großes Mädchen - wie er sie stets liebevoll genannt hatte - in seine Arme schließen können. Und dennoch wußte er in seinem tiefsten Innern, daß er und seine Frau mit ihren Flugblätter das Richtige getan hatten. Jemand mußte schließlich das deutsche Volk endlich wachrütteln, bevor es sich Hals über Kopf blindlings in den Abgrund stürzte, an dessen Rand Hitler und seine mehr als elfjährige Herrschaft es mit dem Märchen vom "Endsieg und der Weltherrschaft des deutschen Herrenmenschen" getrieben hatten. Die Attentäter des 20. Juli 1944 hatten versucht, dem Wahnsinn des längst verlorenen Krieges ein Ende zu bereiten. Und auch wenn sie - wie er selbst - bei diesem Versuch gescheitert waren, so hatten sie es allesamt doch erreicht, daß man in Zukunft auch das andere Deutschland wahrnehmen würde - jenes humanistische Deutschland, in dem es keinen Platz gab für Völkermord und den Rassenhaß eines Wahnsinnigen.

Vor dem Gerichtsgebäude wurde Willi Krause in einen bereitstehenden Gefangenentransporter verladen, wo ihn bereits zwei Schwarzuniformierte mit dem berüchtigten Totenkopfsymbol an der Mütze in Empfang nahmen. Einer von ihnen aber höhnte, während er den Verurteilten mit dem Gewehrkolben einen Schlag in die Seite versetzte: "Na, Bürschchen?! Wir werden Dir Deine volksfeindlichen Flausen schon noch auszutreiben wissen. Und Du wirst uns am Ende sogar anbetteln, daß Du endlich ins Gras beißen darfst!". Ein breites, hämisches Grinsen flutete augenblicklich die Gesichter beider SS-Männer. Willi Krauses Hüfte schmerzte. Ganz offensichtlich hatte ihm der verfluchte Mistkerl mit seinem Hieb eine Rippe angeknackst. Anmerken ließ er sich davon freilich nichts. Diese Genugtuung gönnte er dem zweiköpfigen Himmlertrupp einfach nicht. Stattdessen flogen seine Gedanken während der Fahrt durch die Brandenburgische Heimat, welche er so sehr liebte, immer wieder zu seinen beiden ebenso sehr geliebten Mädchen. Ob sie überhaupt noch am Leben waren? Doch selbst, wenn man sie und ihn auch umbringen würde - all die vielen anderen deutschen Widerstandskämpfer, die es noch gab, konnte man nicht auslöschen, alle nicht! ...

[Wird fortgesetzt]

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Montag, 16. Januar 2012, 21:52

Episode 3

Vorwort des Autors: Die nachfolgende Schilderung beruht in ihren Grundsätzen auf meinem Besuch in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Sie versucht, den ungeheuren Geschehnissen in den Todeslagern der Nationalsozialisten gerecht zu werden, auch wenn vieles von dem, was hinter den Mauern an grauenvollen Dingen geschah, wohl für immer im Dunkel bleiben wird. Die Personen, die dabei genannt werden, sind fiktive Gestalten. Allerdings wurden hier und da in die Erzählung Erlebnisse von Überlebenden einfließen gelassen. Dennoch handelt es sich hier um eine literarische Aufarbeitung und nicht um einen reinen Tatsachenbericht. So grausam und hart meine Darstellung hier und da auch erscheinen mag, so sicher bin ich mir dennoch, daß sie an Grausamkeit von der Realität der damaligen Zeit noch bei weitem übertroffen wird. ;(

KONZENTRATIONSLAGER RAVENSBRÜCK. November 1944.

Willi Krauses Frau Luise und seine Tochter Kathrin lebten noch. Nach anderthalbstündiger Bahnfahrt langten sie vor inzwischen gut vier Wochen auf dem Bahnhof in Fürstenberg an der Havel - jenem kleinen, verträumten Kurort inmitten der Uckermark - an. Dort waren sie mit Marschmusik empfangen worden. SS Leute und Frauen in Uniform hatten sie mit Hunden aus dem Zug gehetzt und auf bereitstehende Lastkraftwagen verfrachtet, mit denen die Fahrt dann über das Kopfsteinpflaster der benachbarten Ortschaft hinweg auf einem breiten, befestigten Seitenweg in ein kleines Waldstück ging. Hier, direkt am Ufer des idyllisch gelegenen Schwedtsees, hatten die Laster gehalten. Wieder begann die Treibjagd der Uniformierten mit den Hunden. Doch diesmal war das Ziel ein großes schmiedeeisernes Torgitter, dessen beide Flügel sogleich von zwei bewaffneten Posten aufgestoßen wurden. Das von einer hohen - mehrfach mit Stacheldraht versehenen - Mauer eingegrenzte Tor, welches man unter den vornehmlich weiblichen Gefangenen hier das Höllentor nannte, schloß sich nur eine Minute später scheußlich quietschend und knarrend mit einem dumpfen Knall hinter den zahlreichen Neuzugeführten. Nur wenige Stunden später war aus der eben noch so bunt gekleideten Menschenansammlung der eingelieferten Frauen und Kinder eine einheitlich blauweißgestreifte, zum großen Teil all ihrer Körperbehaarung beraubte, eintönige Menge geworden. Ihre einst so wohlklingenden Vor- und Zunamen aber mutierten zu unpersönlichen, sechsstelligen Häftlingsnummern. Luise Krause war fortan nur noch die Strafgefangene mit der aufgenähten Nummer 020748 über dem roten, dreieckigen Winkel, der sie als politischen Häftling kennzeichnen sollte. Kathrin aber - der kleine Sonnenschein der Krauses - trug an ihrem dünnen Streifenjäckchen die Kennummer 131001.

Bereits beim ersten Appell hatte man Mutter und Tochter getrennt. Luise wurde im zehnstündigem Schichtdienst in der benachbarten Näherei in stickiger Luft, bei spärlicher Beleuchtung und ohrenbetäubendem Lärm dazu verdonnert, die lagereigene Häftlingskleidung und die Uniformen für die Aufseherinnen aus dem SS-Gefolge zu nähen. Kathrins Wesen fand hingegen sofort Gefallen bei einer der Oberaufseherinnen, die sie fortan tagsüber als Dienstmädchen zu sich in die Wohnung nahm. Jene Zweizimmerwohnung, welche sich - wie auch die Wohnstätten der SS Führungsriege von Ravensbrück - in einem der prunkvollen Holzhäuser unmittelbar vor dem Haupttor des Konzentrationslagers befand. Allmorgendlich nach dem ersten Zählappell verließ Kathrin, von ihrer Oberaufseherin angetrieben, den eigentlichen Lagerkomplex und kümmerte sich um die gesamte anfallende Hausarbeit in deren Wohnung. Erst spätabends kehrte das kleine, erschöpfte Kind von dort wieder ins Lager zurück, wo es sich gemeinsam mit seiner Mutter das Strohlager auf einem aus Brettern lieblos zusammengezimmerten dreistöckigen Bett in einer der zahlreichen Holzbaracken teilte. Die Tage waren für Mutter und Tochter gleichermaßen lang und qualvoll, die Nächte kurz und wenig erholsam. Das Ungeziefer in den Strohbetten, das blendende Licht der Suchscheinwerfer auf dem Gelände und der penetrante Gestank der - in den mit hunderten Gefangenen völlig überbelegten Baracken - aufgestellten, unverschlossenen Notdurftkübel verhinderten einen geruhsamen Schlaf schon im Ansatz. Hunger war dank karger Verpflegungsrationen ein ständiger Begleiter für die Häftlinge. Schwere Krankheiten breiteten sich immer wieder im ganzen Lager aus und rafften viele der ohnehin schon erschöpften Frauen, Kinder und Männer rasch dahin. Und selbst, wer sie überlebte, sah sein Leben täglich - ja stündlich - bedroht. SS-Willkür und unter den Häftlingen eingeschleuste Spitzel gehörten zur Tagesordnung. Jede falsche Bewegung, jedes geflüsterte Wort konnten Denunziation, Schläge und verschärften Strafvollzug im benachbarten Zellenbau bedeuten. Beim Zusammenbrechen aus Erschöpfung, bei versuchter Flucht und anderen in den Augen der Wachleute "schweren Verbrechen" drohte gar sofortige Erschießung.

All dieser Gefahren war sich Luise Krause auf Schritt und Tritt bewußt. Auch an diesem unheilvollen Sonntag, an dem sie an die Seitenwand ihrer Baracke gelehnt stand und am Ende ihrer viel zu kurzen Mittagspause auf die Abholung zur Nachmittagsschicht in der Näherei wartete. Ihre Gedanken kreisten um ihre ehemalige Bettnachbarin Rosemarie Pelz - ein liebes, aber recht einfältiges schlesisches Mädel von knapp 26 Jahren, das gestern aus gemeinsam mit 11 anderen Frauen auf einen Transport ins Konzentrationslager Sachsenhausen im Norden Berlins ging. Dorthin, wo Luise jetzt - nach seinem Prozeß - möglicherweise auch ihren Willi wähnte. Das Mädchen Rosemarie und die anderen seien zur "Besonderen Verwendung im Sonderbau des Lagers Sachsenhausen" vorgesehen, hatte es beim gestrigen Appell geheißen. Hinter vorgehaltener Hand wußte man hier im Lager längst, daß das nichts anderes bedeutete, als daß sie dort ihre Körper für die SS-Mannschaften und ausgewählte männliche Häftlinge als Ansporn für deren Arbeit jederzeit bereitwillig zur Verfügung zu stellen hatten. Wirklich gezwungen hatte man keine der zwölf Frauen dazu, auch Rosemarie hatte sich mehr oder weniger freiwillig bereiterklärt. Zu Luise, die für diese Art der Leibeigenschaft wenig Verständnis aufzubringen vermochte, hatte sie kurz vor ihrer Abreise gesagt, es sei doch schließlich egal, ob man ihren Leib hier bis aufs Äußerste ausbeute und schände oder dort. Und die Überlebenschancen stünden nach ihrer Einschätzung bei ihrer zukünftigen Tätigkeit im Sonderbau deutlich besser als unter dem Joch der ständig anwachsenden Arbeitsnormen in der Ravensbrücker Lagerfabrik. Luise schüttelte nur milde den Kopf. So etwas kam für sie nicht in Frage. Und dennoch hoffte sie, daß Rosemarie ihrem Willi in Sachsenhausen eine Nachricht zukommen lassen könnte - die frohe Kunde, daß seine Frau und seine Tochter noch am Leben waren und auf ein gesundes Wiedersehen hofften.

Mit sehnsuchtsvollem Blick schaute sie dabei auf die Wipfel der jenseits des Lagertores auf dem Boden der Freiheit fest verwurzelten, majestätisch emporragenden Kiefern. Ach, wie sehr sie diese Baumriesen doch um ihre Freiheit beneidete. Gerne wäre auch sie so ein hölzerner Riese gewesen, dem Wind und Wetter, Gebrüll, Schläge und Tritte nichts anzuhaben vermochten. Im Schutze der Barackenwand huschte mit einem Male eine graugesichtige, bis auf die Rippen abgemagerte, jüdische Gefangene auf sie zu und blickte dabei ängstlich in alle Richtungen. Luise kannte sie, sie saß tagsüber in der Näherei an einer der Nebenmaschinen und hatte ihr schon desöfteren heimlich zugelächelt. Die Jüdin war inzwischen auf Luises Höhe angekommen. Offenbar hatte sie in ihrer Hektik die an der Barackenbretterwand lehnende Arbeitskollegin völlig übersehen. Auf alle Fälle stolperte sie und stieß dabei im Straucheln mit Luise Krause zusammen. Im selben Moment rutschte der jüdischen Frau die gestreifte Jacke aus dem Hosenbund, und unzählige Kartoffelschalenstücke purzelten zu Boden.

Die Aufseherin, welche gerade in dieser Sekunde die Frauen zum Dienst in der Näherei abholen kam, bemerkte erst die zwei - inzwischen zur Salzsäulen erstarrten - Frauen und dann auch die verstreut liegenden Kartoffelreste zwischen deren Füßen. Die Uniformierte trat näher heran, deutete mit dem Zeigefinger der ausgestreckten rechten Hand auf das armseelige Schalenhäuflein und brüllte zugleich: "Wem von Euch Beiden gehört das da? Na los, raus mit der Sprache, oder es setzt für alle Beide was!". Dabei erhob ihre Linke drohend die stets mitgeführte Reitgerte. Die kahlköpfige Jüdin mit der Häftlingsnummer 091138, die früher einmal wallendes kastanienbraunes Haar besessen und auf den Namen Ruth Kowalkowsky gehört hatte, zuckte unter dem Geschrei zusammen und wollte sich schon als die Schuldige zu erkennen geben. Da vernahm sie die feste Stimme ihrer Mitgefangenen: "Diese Kartoffelreste habe ich verloren. Ich hab sie aus der Abfalltonne an der Kantine für die Wachmannschaften genommen". Wutschnaubend schubste die Aufseherin die verängstigte Jüdin zu ihrer Linken zur Seite und herrschte sie an: "Du wartest hier mit den andern gefälligst, bis ich zurückkomme, verstanden!". Ohne eine Reaktion der polnischen Frau abzuwarten, trat die Grauuniformierte daraufhin noch einen Schritt näher an Luise heran. Ein zynisches Grinsen huschte über ihr Gesicht, während sie wieder in unverminderter Lautstärke losschrie: "So, Fräulein, Du warst das also. Willst Du mir mit Deinem Diebstahl etwa sagen, daß Du hier im Lager von uns nicht genug zu fressen kriegst?! Ist Dir etwa unsere Verpflegung nicht gut genug, Prinzessin?! Na warte, ich werde schon dafür sorgen, daß Du gleich noch einen schönen, fetten Nachschlag bekommst!". Damit packte sie Luise am Ärmel jener dünnen, kratzigen blauweiß gestreiften Häftlingsjacke, die ihren ebenso dünnen ausgemärgelten Frauenleib bedeckte, und schleifte sie mit sich - über den Appellplatz hinweg durchs Tor hinaus in das Gebäude der Kommandantur vor den Lagerkommandanten.

Hier meldete die Frau im grauen Uniformrock - strammstehend und die Hacken ihrer Stiefel eifrig zusammenknallend - ihrem Vorgesetzten sogleich in zackigem Ton das vermeindliche Vergehen der von ihr Mitgeführten: "Aufseherin Müller bittet, Meldung über einen ungeheuerlichen Vorfall machen zu dürfen!". Der Lagerkommandant in seinem roten Ledersessel sah kurz vom Schreibtisch auf und musterte dabei die vor ihm stehenden Frauen. Erst Luise, dann das Fräulein Müller. Sein Blick blieb dabei kurz auf deren reinrassiger Oberweite haften, die selbst unter der schlichten Uniformjacke deutlich hervorzustechen vermochte. Ach ja, wie rasch konnte man als Mann bei so einem Anblick schwach werden. Wie viele stramme arische Krieger konnte so ein gesunder Frauenkörper dem Führer als Ergebnis manch leidenschaftlicher Nacht wohl gebären. Und wenn in diesem Fall noch kein anderer Erzeuger zur Verfügung stünde, so würde man sich als treuer Nationalsozialist auch gern mal selber opfern für Führer und Vaterland. Der Herr Lagerkommandant ertappte sich selbst bei diesem - der Situation wohl nicht ganz angemessenen - Gedanken und verdrängte ihn sogleich, indem er seinen Blick wieder auf die Gefangene richtete. Diese kahlgeschorene, schmutzige, dürre Gestalt mit den eingefallenen Augen hatte doch nun wahrlich nichts Frauliches mehr, ja kaum noch etwas Menschliches. Im unmittelbaren Vergleich beider hier vor ihm Stehenden bestand für ihn überhaupt kein Zweifel mehr daran, wer hier der Untermensch war und wer nicht. Bei diesem Gedanken wurde er rasch wieder dienstlich: "Nun, Kameradin Müller, was hat dieser Häftling denn so Unerhörtes getan?". Die Befragte knallte nochmals die Hacken zusammen und meldete dann: "Die hier vorgeführte Schutzgefangene Nummero 020748 hat sich trotz strengsten Verbotes in der Mittagspause eßbare Pflanzenabfälle aus der Tonne neben der SS Kantine widerrechtlich angeeignet. Sie hat sich damit des Diebstahls an Volkseigentum strafbar gemacht in Verbindung mit Verstoß gegen die Lagervorschriften". Mit strengem, eisigen Blick musterte der Kommandant die Gefangene: "So, so! Das klingt ja fast so, als wäre da jemand mit unseren recht großzügigen Haftbedingungen nicht ganz zufrieden, wie?!".

Der versteinerte Gesichtsausdruck des Kommandanten traf den gesenkten Blick Luises. Er lauerte auf eine Antwort. Schließlich versuchte dieses Verbrechergesindel ja immer, sich vor ihm im Angesicht einer Strafe verzweifelt seinem Schicksal zu entwinden. Und er genoß es inzwischen geradezu, wenn diese unansehnlichen Gestalten dann zitternd und bibbernd vor ihm ihre Ausreden und Entschuldigungen daherstotterten. Wenn sie ihn, den Allmächtigen des Lagerkomplexes, um Gnade und Erbarmen anwinselten, wenn sie vor ihm auf die Knie gingen und losheulten. Doch Luise tat nichts dergleichen, sie dachte nur an ihre kleine Tochter und schwieg. Wie gern hätte sie sich ein Herz gefaßt, ihrem geschwächten Körper eine möglichst aufrechte Haltung verliehen und mit fester Stimme erwidert: 'Herr Lagerkommandant, die Frauen in Ihrem Lager hungern und frieren. Was wir von Ihnen an Essen und Trinken zugeteilt bekommen, ist zum Leben viel zu wenig. Ja, es reicht gerade eben, um unseren Tod immer wieder um eine Weile hinauszuzögern. Darum sind wir geradezu gezwungen, jede nur erdenkliche Möglichkeit beim Schopfe zu packen, uns zusätzliche Nahrung zu beschaffen. Unsere ganze Behandlung hier ist einfach gesagt unmenschlich und grausam'. Doch das wußte dieser Schreibtischtäter alles ja längst und wollte es auch gar nicht hören, schon gar nicht aus ihrem Mund. So hielt Luise den Blick gesenkt und wartete stattdessen ihrerseits darauf, daß der Mann im Ledersessel das Schweigen brach. Und der Kommandant tat ihr den Gefallen. Wütend begannen seine Augen zu funkeln, während er losbrüllte: "So, dann hab ich also recht, und Ihnen sagt das normale Lagerleben nicht zu. Nun, dann scheint es mir ganz so, als sei es bei Ihnen mal an der Zeit aufzuzeigen, wie nach unserem Verständnis verschärfte Haftbedingungen aussehen. Ich befehle zunächst einmal 33 Tage verschärften Einzelarrest der Stufe 3 im Zellenbau. Des weiteren behalte ich mir vor, in Berlin beim Reichsführer SS um eine zusätzliche Bestrafung mit 25 Stockschlägen zu ersuchen". Und mit seinem Blick wieder die Uniformierte neben Luise ins Visier nehmend, ergänzte der aufgebrachte Kommandant: "Und nun schaffen Sie mir dieses unverschämte, diebische Subjekt umgehend aus den Augen, Kameradin Müller!".

Die Aufseherin knallte ein letztes Mal die ledernen Hacken ihrer Stiefel zusammen. Ihr rechter Arm schnellte gleichzeitig zum Deutschen Gruß in die Höhe, so wie sie es einst beim Bund Deutscher Mädel gelernt hatte. Ihre Lippen bebten untertänig, während sie ihr "Heil Hitler, Herr Lagerkommandant!" hervorpreßten. Dann packte sie Luise erneut unsanft am Ärmel und zog sie mit sich in Richtung Ausgang. Im Gehen warf sie noch einmal einen kurzen Blick hinter sich, wo der Kommandant in seiner ganzen uniformierten Pracht hinter seinem Schreibtisch thronte. Sein Auge und sein Mundwinkel zuckten dabei noch ein wenig nach von der angestrengten Brüllattacke gegen die straffällig gewordene Gefangene. Die uniformierte Rockträgerin aber glaubte in dieser kurzweiligen Gesichtsentgleisung ihres Chefs ein ihr allein geltendes lächelndes Zuzwinkern zu erkennen, das sie in ihrer ohnehin schon vorhandenen mädchenhaften Schwärmerei für den Schwarzen Mann in seiner machtvollen Stellung nur noch bestärkte. Der so angehimmelte SS-Offizier unterdess ergötzte sich am Ausblick auf das wohlgeformte Gesäß seiner - durch die körperliche Ertüchtigung beim BdM bestens auf die große Rolle als deutsche Gebär-Mutter vorbereiteten - Unterstellten. Dabei lief ihm das Wasser im Mund zusammen, wie beim gemütlichen Sonntagsessen in seiner Villa auf dem Hügel gleich nebenan, wenn seine holde Gattin ihm ein saftiges, gut durchgebratenes Stück Fleisch auf den reich gedeckten Mittagstisch stellte. Noch einmal kühlte er sein sich erhitzendes Gemüt rasch mit einem Seitenblick auf die zitternde, ärmliche Gestalt in ihrem Schlepptau. Und während er sich mit dem - mit den Runen der SS bestickten - Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche den Geifer aus den Mundwinkeln hinwegwischte, dachte er bei sich: 'Was für ein grauenvoller Anblick! Und wenn man dann noch weiß, was diese Kreatur so auf dem Kerbholz hat. Frißt geklaute Kartoffelreste aus dem Müll. Völlig triebgesteuert und ohne jede Moral, dieses assoziale Pack!'.

Die beiden Frauen hatten das Büro gerade verlassen, da erhob sich der Kommandant aus seinem Ledersessel, schob seinen wohlgenährten Bauch vorsichtig an der gebeizten Eichenholztischplatte vorbei und begab sich mit stolzgeschgwellter Brust zu dem großen Spiegel an der Wand zu seiner Rechten. Hier nahm er selbstverliebt Aufstellung, wobei sich das Bildnis seines Führers von der entgegengesetzten Wand her neben ihm im Spiegel abbildete und ihm somit vorzugaukeln versuchte, sein Idol stehe unmittelbar hinter ihm und klopfe ihm anerkennend auf die Schulter. Er schloß überwältigt von dem erhabenen Gefühl dieses Augenblicks die Augen und glaubte dabei, die Stimme seines obersten Dienstherrn zu vernehmen, die ihn mit dem unverwechselbar böhmischen Akzent lobte: "Gut gemacht, mein Lieber!". Selbstzufrieden nickte er, während er seine Augen wieder öffnete und die Pose seines obersten Befehlshabers möglichst exakt nachzuahmen versuchte. Ja, überhaupt stellte er in diesem Moment wieder einmal fest, wie sehr er doch seinem Führer ähnelte - sowohl in der herrischen Siegerpose als auch in seinem ganzen Auftreten. Nicht umsonst hatte der ihn ja auch letztlich mit dieser verantwortungsvollen Tätigkeit des Lagerkommandanten von Ravensbrück betraut. Nur die fähigsten Nationalsozialisten waren schließlich seiner Meinung nach in der Lage, die Gesundung des deutschen Volkskörpers voranzutreiben, indem sie unermütlich und unerbittlich für die Beseitigung all jener so zahlreich auftretenden Schädlinge sorgten, die die Volksgesundheit bedrohten.

Damit kehrte er wieder an seinen Schreibtisch zurück und ließ sich in seinen Ledersessel sinken. Er angelte nach einem vor ihm liegenden Schriftstück, dessen Absender der Reichsführer SS Herr Himmler höchstpersönlich war und das den rot aufgestempelten Vermerk "Geheime Reichssache! Nur für Dienstgebrauch!" trug. In ihm wurde auf die Anfrage des Lagerkommandanten hin genehmigt, in Ravensbrück in unmittelbarer Lagernähe ein Gebäude zu errichten, welches der "durch den Wirkstoff Zyklon B herbeigeführten, raschen und unkomplizierten Endlösung des Problemes der Überbelegung im Arbeitslager Ravensbrück" diene. Offiziell sei es "als Isolierbaracke oder Desinfektionsbad auszuschildern" und werde auch "mit dem entsprechenden Inventar wie Brauseköpfen etc. ausgestattet". Das "Fassungsvermögen des Gebäudes" betrage "bei voller Auslastung pro Nutzung in etwa 150 physische Einheiten", so daß man damit "täglich bei 5 Anwendungen bis zu 750 physische Einheiten verarbeiten" könne. "Physische Einheiten" - an diese abstrakten Wortschöpfungen im nationalsozialistischen Sprachgebrauch hatte er sich nach seiner Amtsübernahme als Lagerkommandant zugegebenermaßen erst gewöhnen müssen. Doch schon bald hatte auch er bemerkt, wie viel einfacher es doch war, an seinerm Schreibtisch die "Sonderbehandlung an 150 physischen Einheiten" zu verfügen, als die - das Gewissen womöglich doch recht nachhaltig belastende - Ermordung von 150 menschlichen Geschöpfen anzuordnen. Zudem konnte man am Ende immer noch behaupten, nicht gewußt zu haben, was mit dem Begriff der "physischen Einheit" gemeint gewesen sei. Sorgsam strich der Kommandant das amtliche Schreiben glatt und heftete es dann in einem der großen schwarzen Ordner unter "Genehmigt" auf seinem Schreibtisch ab. Ehrerbietig blickte er dabei seinem geliebten Führerbild ins zackig hingepinselte und goldumrahmte Antlitz. Dabei dachte er zufrieden: 'Bis zu 750 Abgänge pro Tag, was für ein ungeheurer Schritt für die Hygiene in meinem Lager. Endlich kann ich unerbittlich auf schnellstem Wege alle hier so zahlreich konzentrierten Schädlinge beseitigen - ganz gleich, ob diese sich nun Juden, Russen, Polen, Kommunisten, Sozis oder sonstwie schimpfen'.

Doch er schweifte ab. Auch wenn außerhalb des eigentlichen Lagergeländes neben dem Krematorium bereits in den frühen Morgenstunden mit dem Einbau des ominösen "Desinfektionsbades" in eine alte Holzbaracke begonnen worden war, so würde es gewiß noch einen Monat brauchen, bis das provisorische Gebäude erstmals in Betrieb genommen werden könnte. Hier und jetzt aber standen höchst aktuell noch immer ein dreister Diebstahl und seine strenge Bestrafung zur Debatte. Der Kommandant nahm den Telefonhörer auf und wählte die Berliner Nummer des Reichsführers SS. Kurz und prägnant schilderte er dort den Fall der Strafgefangenen 020748 und erhielt umgehend und völlig unbürokratisch die Genehmigung zur Durchführung von 25 Stockschlägen auf Rücken und Gesäß. Er tippte kurz die Telefongabel an, dann wählte er die interne Nummer des Ravensbrücker Arrestzellenbaus und gab den Befehl an die dortige Aufsichtshabende weiter, die ihn nur wenig später von einem eigens dafür eingeteilten kriminellen Mithäftling an der soeben eingetroffenen Luise Krause vollstrecken ließ.

Man befahl Luise dazu, ihren Rücken und ihr Gesäß freizulegen und sich dann über eine hölzerne Bank zu beugen. Ihre Füße wurden in einer, eigens dafür an der Bank angebrachten Vorrichtung eingespannt. Dann nahm die grimmig dreinschauende Frau im schmutzigen Häftlingskleid vor ihr eine Art Rohrstock zur Hand, wie Luise ihn noch aus ihrer Schulzeit kannte und zu fürchten wußte. Sie biß die Zähne fest zusammen und schloß ihre Augen. Wieder und wieder pfiff die Holzrute durch die Luft, wieder und wieder traf sie dabei mit voller Wucht auf ihre entblößte Haut und verursachte dort sogleich einen kaum auszuhaltenden, brennenden Schmerz. Im Hintergrund aber vernahm Luise die rauhe, fast teilnahmslose Stímme der Zellenwärterin, die jeden einzelnen Schlag zählend begleitete: "1, 2, 3" ... Die Gepeinigte aber suchte derweil innerlich Halt und Kraft, indem sie bei jedem Schlag in Gedanken abwechselnd nach ihrer Tochter und nach ihrem Mann rief: "Kathrin, Willi, Kathrin" ... Endlich, wie aus weiter Ferne vernahm sie die, sich in Zahlen Ausdruck verleihende Botschaft von nahen Ende des Gewaltaktes: "23, 24, 25". Die wenigen Minuten, die die ganze Prozedur gedauert hatte, waren Luise Krause wie Stunden vorgekommen und gaben ihr bereits jetzt eine Vorahnung davon, daß hier im Strafarrest das normale Zeitmaß außer Kraft gesetzt war. 33 Tage Haft, das bedeutete unter diesen Umständen eine halbe Ewigkeit. Nur mühsam erhob sich Luise von ihrer Folterstätte. Es fiel ihr sichtlich schwer, den geschundenen Rücken wieder gerade zu bekommen und auf ihrem Hintern würde sie an diesem Tage ganz sicher nicht mehr sitzen können.

Die uniformierte Zellenwärterin führte ihren Neuzugang mit der Häftlingsnummer 020748 in eine der Dunkelzellen. Luises neues "Zuhause" war eines jener kahlen, finsteren Löcher mit einer Holzluke vor dem Gitterfenster, ohne jede Sitz- oder Schlafgelegenheit, in dem sie - wie ihr die Aufseherin nüchtern mitteilte - nur alle 4 Tage spärlich verpflegt werden würde. Ein leichter Schups der Wärterin trieb Luise ins Innere jener Dunkelkammer, deren eisene Tür mit dem Guckloch sich nur eine Sekunde später bis auf weiteres hinter ihr schloß. Um sie herum aber kehrte sogleich tiefste Nacht ein. Eine Nacht, die fortan 33 mal 24 Stunden andauerte ... 792 Stunden, die ihr hier dann wohl wie Jahre vorkommen dürften. Jede einzelne dieser Stunden würde ihr - mit ihren sich endlos hinziehenden 60 Minuten - durch das Gefühl der Einsamkeit und völligen Verlassenheit den Lebenswillen rauben, um sie letztlich - wie schon so viele vor ihr - tief hinein in die Depression und an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Und auch hier würde ihr - wie eben bei der Folter - nur eines die Kraft zum Durchhalten geben können, der Gedanke an ihr Kind und ihren Mann ...

[Wird fortgesetzt]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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sven1421

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4

Montag, 16. Januar 2012, 21:56

Episode 4

Die folgende Episode meiner Geschichte ist meinem Urgroßvater und meinem Großonkel großmütterlicherseits gewidmet - den beiden Männern namens Kowalkowsky, die in den letzten Jahren bis zur Befreiung durch die Rote Armee im KZ Sachsenhausen nahe Berlin inhaftiert waren. ;(

KONZENTRATIONSLAGER SACHSENHAUSEN. November 1944.

Der dichte Morgennebel zog sich langsam zurück aus dem kleinen Wäldchen nahe dem Ort Sachsenhausen bei Oranienburg, unweit der Reichshauptstadt Berlin. Es war so, als ginge langsam der Vorhang einer Bühne auf. Einer Bühne, auf der seit nunmehr etwa einem Jahrzehnt Tag für Tag das gleiche Stück gegeben wurde. Das gleiche grausame Stück, das außer hier und in Ravensbrück noch auf vielen weiteren dieser von Staats wegen errichteten Bühnen aufgeführt wurde. Ein Stück, in dem die Rollen streng verteilt waren - in Macht und Ohnmacht, Angst und Demütigung, Folter und Qual, Mord und Sterben. Kurzum, die Akteure auf der Bühne teilten sich recht deutlich in Täter und Opfer. Die Täter trugen schwarze Uniformen mit dem einem Totenkopf auf der mützenbedeckten Stirn, die Opfer hingegen waren blau-weiß gestreift eingekleidet mit verschiedenfarbigen Winkeln auf dem Herzen - und einer Nummer, mit der sie die Täter gleichsam von lebendigen Individuen in eine Art totes und jederzeit austauschbares Inventar umwandelten.

Langsam setzte das Morgengrauen ein. Es war eigentlich die Stunde, zu der unter normalen Umständen die Sonne strahlend hell aufzugehen gedacht hätte. Doch hier waren die Umstände keineswegs normal - heute ebenso wenig wie schon an all den Tagen und in all den Jahren zuvor, seit ein gewisser Herr Hitler auf sämtlichen Landesbühnen im gewaltsam ausgeuferten deutschen Land die Regie führte. Und so eröffnete die Natur das morgendliche Schauspiel passenderweise mit wolkenverhangener, grau verfinsterter Miene und einem leichten Nieselregen. Dem nachdenklichen Zuschauer mochte es fast so erscheinen, als verschütte der Himmel heimlich, still und leise ein Meer von Tränen angesichts des langsam auf der Bildfläche erscheinenden, von Stacheldraht und hohem Mauerwerk umgrenzten Torhauses. Ein großes weiß gemauertes Haus mit einem eisernen Gittertor darin, dessen ebenso eiserner Schriftzug "Arbeit macht frei" mit seinem Hauptwort "Arbeit" bereits den späteren Hauptakt des hier täglich aufs Neue auf dem Spielplan stehenden Stückes klar zu beschreiben schien, während er es gleichzeitig entschieden mit "Macht" vom Eigenschaftswort der Freiheit abtrennte.

Stille herrschte rundum, Totenstille mochte man fast sagen. Denn die Vögel als vielstimmige Boten jedes neu anbrechenden Tages verirrten sich nur noch selten in diese Gegend. Das unheimliche Gebrüll aus herzloser Brust und die qualvollen Schreie gemarterter Leiber, welche die Umgebung tagsüber beherrschten, hatten sie - die einst so zahlreich Erschienenen - längst vertrieben. Und verirrte sich doch einmal einer dieser gefiederten Sangeskünstler hierher, klang sein eingeschüchtertes Krächzen häufig nur noch wie ein verbittertes Klagelied oder ein besonders trauriger Totengesang. 4.15 Uhr zeigte das Ziffernblatt über dem Lagertor, als der Klang einer Glocke die bedrückende Stille jäh durchbrach und das schaurige Schauspiel einläutete. Ihr dumpfer Ton störte die scheinbare Totenruhe, und ließ alsbald unzählige leichenblasse Gerippe aus ihren hölzernen Baracken-Gruften ans schummrige Tageslicht treten. Raschen Schrittes begaben sich die gestreiften Gestalten, die eben noch im Eiltempo ihre Morgentoilette, den Bettenbau und ihr karges Frühstück mit einer Pfütze Kaffee und einem schlechtbelegten Stück harten Brotes hinter sich gebracht hatten, wenig später auf den riesigen Appellplatz, wo sie sogleich nach Baracken-Blöcken sortiert Aufstellung nahmen. Einige von ihnen trugen zu zweit jene ihrer leblosen Kameraden mit aus den Baracken heraus, welche die Nacht nicht überlebt hatten, und stapelten sie seitlich des Platzes zu einen großen Haufen auf. Ja, hier im Lager hatte ohne Ausnahme jeder zum Zählappell zu erscheinen, selbst die Toten. Die anderen Häftlinge schauten immer wieder unauffällig hinüber zu dem rasch anwachsenden Leichenstapel. Dabei schwankten die Gefühle der Versammelten zwischen stiller Trauer und einer gewissen Art von heimlichem Neid. Schließlich hatten die dort Zwischengelagerten, deren Körper später in den Öfen des Krematoriums verheizt wurden, es geschafft, der Lagerhölle ein für alle mal zu entkommen. Ein Privileg, das den Lebenden hier nur selten vergönnt war.

In strömendem Regen begann schließlich das allmorgendliche Ritual des großen Zählens. Die angetretenen Häftlinge hatten strammzustehen und sich nach Aufforderung blockweise zügig selbst durchzuzählen. Die Blockältesten hielten die zuletzt genannte Zahl auf einem Blatt Papier fest, ebenso wie die Anzahl der Zugänge, der Abgänge, der Kranken und der Kommandierten aus den eigenen Reihen. All diese Zahlen meldeten sie anschließend ihren jeweiligen Blockführern aus den Reihen der SS. Die Blockführer notierten jene Zahlen akribisch auf ihren Listen und meldeten sie dann ihren Rapportführern weiter. Auch die Rapportführer führten ihre Listen und machten anschließend Meldung an den Schutzhaftlagerführer, welcher seinerseits alle Zahlen sammelte, summierte, sie mit den Angaben des Gesamtlagerbestands verglich und dann seine Meldung an den Lagerkommandanten machte. Morgens dauerte dieser Vorgang meist nur eine halbe oder eine dreiviertel Stunde, da die Zwangsarbeit in den verschiedensten Arbeitskommandos innerhalb und außerhalb der Lagermauern bereits auf ihre billigen Arbeitskräfte wartete. Zwischendurch wurde beim Appell durch Abschreiten der Reihen von anderen SS-Offizieren der Zustand der Häftlingskleidung bei jedem Einzelnen beurteilt. Wurden dabei Mängel wie offene Knöpfe, lose Kennzeichnungswinkel oder irgendwelche Dreiangel entdeckt, hagelte es Schläge - manchmal gab es die aber auch einfach so ohne ersichtlichen Grund. Einige ganz spezielle Exemplare unter den gehobenen SS-Dienstgraden hatten es sich sogar zum Ziel gesetzt, bei jedem Appell eine bestimmte Anzahl von Häftlingen mit gezielten Schlägen ins Gesicht oder in die Magengegend regelrecht niederzuprügeln. Der als besonders brutal geltende Hauptsturmführer Karl Trittschlag bezeichnete derartige Mißhandlungen gar als "Körperertüchtigung" oder "Frühsport". Auch an diesem Morgen ließ seine geübte Linke wieder an die 50 Mann zu Boden gehen, wo ein anschließender Fußtritt mit dem Stiefelabsatz die Niedergeschlagenen sogleich wieder zum Aufstehen "motivieren" sollte. An diesem Morgen fiel die fragwürdige Ehre, die 50 vollzumachen, ausgerechnet Willi Krause zu, der auf seiner - vom anhaltenden Nieselregen - längst durchnäßten Häftlingskluft über dem aufgenähten roten Winkel eines Politischen die Nummer 080545 trug. Ein gewaltiger Boxhieb in die - aus dem ausgemärgelten Leib deutlich hervorgetretenen - Rippen streckte ihn nieder. Willi wurde schwarz vor Augen, und er schnappte verzweifelt nach Luft. Verdammt, wieder auf die gleiche Stelle, die man ihm schon beim Transport hierher angeschlagen hatte! Hämisch grinsend brüllte Trittschlag den sich unter Schmerzen am Boden krümmenden Häftling an: "Sag mal, hast Du nachts nicht genug gepennt, Sauhund! Mach gefälligst, daß Du Deinen faulen Hintern wieder hochkriegst, sonst setzt es mal richtig was, daß Du gleich auf den Haufen da nebenan wandern kannst!". Damit deutete er auf den Berg der toten Gefangenen. Mühsam erhob sich der von ihm Gequälte vom matschigen Untergrund, den der anhaltende Regen schon völlig aufgeweicht hatte, während Trittschlag in seinem dicken, wasserdichten Regenumhang bereits sichtlich zufrieden seinen Gang durch die Reihen der ihm hilflos Ausgelieferten fortsetzte.

Es verging etwa eine Minute. Dann stand Willi Krause wieder in Reih und Glied - immer noch sichtlich angeschlagen, mit dem angewinkelten Arm die schmerzende Seite stützend. Plötzlich tippte ihm jemand vorsichtig auf die Schulter. Langsam verdrehte Willi den Kopf ein wenig nach hinten und sah, daß es sich bei diesem Jemand um seinen Mithäftling Franz Eifrig handelte, einen der in die Kolonne der Zimmerleute Eingeteilten. Langsam näherten sich dessen Lippen Willis Ohr und flüsterten: "Du, Willi! Ich hab gute Neuigkeiten für Dich!". Willi murmelte leise - und dennoch für sein Umfeld gut hörbar - vor sich hin: "Gute Neuigkeiten, hier?! Trifft den Dreckskerl Trittschlag etwa nachher der Blitz beim Scheißen?! Oder was kann es hier sonst noch für gute Neuigkeiten geben?!". Einen Augenblick blieb es in Willis Rücken still, vermutlich ergötzte sich Leidensgenosse Franz gerade an der Vorstellung des Latrinenblitzschlags für den fettleibigen Menschenschinder im pechschwarzen Frack. Dann aber wisperte es aus seiner Richtung erneut: "Nein! Du weißt doch, daß ich gestern ... naja, im Sonderbau war. Schließlich bin ich ja ledig und schon das achte Jahr hier ... Ach, was soll ich lang um den heißen Brei herumreden. Ich hatte eben Sehnsucht nach einer Frau. Wer wünscht sich nicht in all den einsamen Nächten an diesem haßerfüllten Ort ein paar Minuten Glückseligkeit in den Armen eines zarten, zerbrechlichen Wesens. Und so war ich halt gestern nach dem Abendappell noch bei einer dieser neu eingelieferten Frauen. Barbara heißt sie, und sie hat das bezaubernste Gesicht, das ich hier je gesehen habe. In ihren Armen hab ich für kurze Zeit einfach alles vergessen können. Die ganzen Qualen und die Angst. Und dann, kurz bevor ich sie wieder verließ, hat sie mich noch gefragt, ob ich nicht einen Willi Krause kenne. Als ich zu ihrem größten Erstaunen ja sagte, erzählte sie mir, daß sie aus Ravensbrück gekommen sei und Deine Frau Luise kenne. Und ich soll Dir von ihr und auch von Deiner kleinen Kathrin ganz liebe Grüße ausrichten". Willis Augen wurden mit einem Schlage feucht. Auch er vergaß nun für einen Moment alles um sich herum - die schmerzende Rippe, die Nässe und die Kälte, das Gebrüll und die unterschwellige Marschmusik aus den Lautsprechern auf den Appellplatz. Nur ein Gedanke kreiste durch seinen Kopf und nahm dort sein ganzes Denken ein: "Sie leben! Luise und Kathrin! Alle Beide sind sie am Leben!". Angefüllt mit unbändiger Freude drehte Willi den Kopf noch einmal nach hinten und verpaßte dem Boten der frohen Kunde einen dicken Schmatzer auf die Wange. Franz Eifrig aber wischte sich sogleich mit dem Handrücken über die speichelbenetzte Stelle und flüsterte kopfschüttelnd: "Spar Dir das lieber für Deine beiden Frauen auf oder für Barbara, Junge!". Willi Krause dachte kurz nach, dann nickte er unauffällig und flüsterte: "Eine wirklich gute Idee, mein Freund! Hab vielen Dank, Franz!".

Der Appell näherte sich mit der Meldung des Häftlingsbestandes an den Lagerkommandanten inzwischen seinem Ende. Das Kommando "Rührt Euch!" wurde gegeben und die Reihen der angespannten Häftlingskörper durchfuhr ein gemeinschaftlicher Entspannungsruck. Willi wandte seinen Blick leicht nach rechts und bemerkte nun aus dem Augenwinkel heraus, daß sein Peiniger Trittschlag am Rande des Appellplatzes mit einem SS-Posten vom Wachturm in der Mitte des Lagers tuschelte und dabei immer wieder recht auffällig zum Mithäftling Hannes Vogel hinüberschaute, einem aktiven Sozialdemokraten, der im ganzen Lager für seine Hilfsbereitschaft bekannt und darum der SS längst ein Dorn im Auge war. Schließlich zwinkerte Trittschlag dem jungen Posten, welcher den Namen Erich Hecker trug, zu und meinte: "Oder kannst Du etwa keinen Sonderurlaub brauchen? Wann hast Du wieder Urlaub? Zu Weihnachten? Denk mal drüber nach, mit wem Deine schöne Heidi wohl all die einsamen Stunden verbringen wird, die Du Dir hier in der Kaserne mit dem Bewachen dieses Lumpenpacks um die Ohren haust. Vielleicht sogar mit so einem wie dem da oder aber mit einem Deiner Kameraden, der weniger Skrupel hat als Du, wenns drum geht, sich mal die Finger ein bißchen dreckig zu machen?!". Der SS-Posten schaute den dicken Hauptsturmführer finster an, dann aber nickte er ihm stumm zu und begab sich wieder auf seinen Wachturm. Trittschlag machte derweil auf der Stelle kehrt und rief den Schutzhäftling Vogel zu sich. Er riß dem sichtlich überraschten Mann grundlos und ohne jede Vorwarnung die Häftlingsmütze vom Kopf und schleuderte sie in hohem Bogen in den Elektrozaun an der Lagermauer. Verächtlich grinsend schrie er den ängstlich dreinschauenden Vogel an: "Was stehst Du da mit Deinem kahlen Lauseschädel und schaust mich an wie eine Kuh, wenns donnert? Sieh gefälligst zu, daß Du schleunigst Deinen Speckdeckel wieder aus dem Drahtverhau herauszuholst, Du komischer Kauz!". Hannes Vogel folgte der Anweisung des dicken SS-Offiziers und marschierte los - erst zaghaft, dann immer mutiger. Seine zunächst zitternden Hände schlossen sich zu Fäusten zusammen, während er bei sich dachte: 'Warum zögern?! Was kann mir denn Schlimmes geschehen? Selbst wenn ich beim Griff nach der Mütze den Zaun berühren sollte, so wird mir das unter den hier vorherrschenden Umständen wie eine Erlösung vogekommen, das ist sicher'. Schon waren der geladene Draht und mit ihm die gestreifte Kappe zum Greifen nah. Sämtliche Mitgefangene, die nun unfreiwillig Zeugen dieses grausamen Schauspiels wurden, hielten den Atem an. Sollte es ihrem Kameraden Hannes vielleicht tatsächlich gelingen, dem gemeinen Mordversuch des unter ihnen verhaßten Sadisten Trittschlag zu entgehen?!

Da durchbrach eine Maschinengewehrsalve vom zentralen Wachturm jäh die angespannte Stille. Hannes Vogels Körper wurde von den heimtückischen Schüssen in Sekundenbruchteilen regelrecht durchsiebt und sank sofort zu Boden. Dabei berührte die zur Faust geballte Hand des ehemaligen Spanienkämpfers Vogel den Elektrozaun. Sein geschundener Leib zuckte ein letztes Mal auf, während der enorme Stromstoß seine Haut blitzartig zu verbrennen schien. Dem rasch gänzlich verkohlten Leichnam entstiegen dabei noch minutenlang kräftige Rauchschwaden, und ein strenger Brandgeruch flutete die nähere Umgebung. Selbst auf dem gestreiften Häftlingsrock zeigten sich an mehreren Stellen deutlich sichtbare Brandlöcher. Der Todesschütze aber zündete sich derweil auf seinem Turm eine Zigarette an und lächelte beim Anblick seines Mordopfers süßlich. Und der mit ihm auf dem Turm befindliche zweite Wachposten klopfte ihm anerkennend auf die schwarzuniformierte, totenkopfbestückte Schulter: "Man, hast Du ein Schwein, Erich, das gibt 3 Tage Sonderurlaub!". Zufrieden nickte Hecker, und dachte bei sich: 'Jawohl, drei Tage Sonderurlaub! Der Haupsturmführer hatte recht gehabt: Welch eine großzügige Belohnung für ein einziges Fingerkrummmachen am Abzug eines MG! Ja, Heidi, da wirst Du aber staunen, wenn ich komme! Das Leben kann ja so schön sein!'. Auch Hannes Vogel, dessen traurige Überreste zwei Häftlinge vom Leichenträgerkommando inzwischen auf Trittschlags Geheiß mit bloßen Händen zum Haufen der Toten schleppten, hatte eine Frau mit dem Namen Heidi, die fortan vergebens auf seine Rückkehr zu ihr wartete. Auch für Hannes Vogel hätte das Leben einst wieder so schön sein können, wären da nicht der krumme Finger eines Schützen Hecker und der skrupellose, mörderische Menschenhaß eines gewissen, mit dem Totenkopf-Mal gezeichneten Trittschlag gewesen.

Der Lagerkommandant, dessen Adjutant ihm angesichts des ungemütlichen Nieselregens mit einem großen schwarzen Regenschirm beistand, hatte dem Treiben seines berüchtigten Hauptsturmführers und den daraus resultierenden tödlichen Konsequenzen für den Häftling mit der Nummer 011290 aus der Ferne recht unbeeindruckt beigewohnt. Auch die Tatsache, daß der binnen kürzester Zeit bis zur Unkenntlichkeit entstellte Körper Hannes Vogels nun den Leichenberg zu seiner Rechten krönte, quittierte er nur mit einem kurzen Schulterzucken. Dann glich er seine Liste mit den aktuellen Häftlingszahlen des Lagers dahingehend an, daß er beim Bestand einen der Striche ausradierte und den Abgängen zum Ausgleich dafür einen Strich hinzufügte. Später würde ein Häftling der Schreibstube dann noch im Häftlingsverzeichnis den Eintrag unter dem Namen "Schutzhaftgefangener No. 011290 - Johannes Vogel - eingeliefert am 01.09.1939" ausstreichen und auf Geheiß von höchster Stelle durch den verlogenen Zusatz "Verstorben am 30.11.1944 - Todesursache: Bei einem Fluchtversuch erschossen" ergänzen.

Der sich anschließende arbeitsreiche Vormittag verging für Willi Krause beim stundenlangen Steineschleppen im nahegelegenen Klinkerwerk aufgrund der schmerzenden Rippe und anhaltender Schikanen durch seine Aufpasser nur schleppend. Seine Gedanken waren dabei immer wieder dem grauenvollen Ende seines Leidensgenossen Hannes Vogel. In der Mittagspause mußte er trotz starken Hungers den Becher mit dem etwas angebrannt riechenden Buchweizenbrei unangerührt auf dem Barackentisch stehenlassen, da sich ihm bei dem Brandgeruch sofort der Magen umdrehte. Nein, so ein Ende wie das von Hannes wünschte er sich nicht! Nicht so und schon gar nicht nicht jetzt! Er hatte ja jetzt schließlich auch wieder etwas, für das es sich zu leben und die ganze Schreckenszeit des Nazilagers zu überleben lohnte. Die frohe Kunde, daß seine Familie am Leben war, gab ihm neue Kraft. Mehr noch, sie spornte ihn bei der seiner nachmittäglichen Knochenarbeit im Klinkerwerk - dessen Ziegelproduktion vor allem den größenwahnsinnigen Plänen Hitlers für eine gigantische Welthauptstadt Germania dienen sollte - gar zu einer Art übermenschlicher Höchstleistung an. Für diese wurde er dann nach der Rückkehr ins Lager beim Abendappell auch mit einem sogenannten Prämienschein belohnt. Als man ihn dann fragte, wofür er ihn einlösen wolle, entschied sich Willi Krause ohne langes Überlegen statt für eine der unter den Gefangenen stets sehr begehrten Sonderverpflegungsrationen aus der Häftlingsküche für einen halbstündigen Besuch im Sonderbau bei einem gewissen Fräulein Barbara.

Den Rest des oft so zermürbenden abendlichen Zählappells verbrachte Willi Krause mit einem aufgeregten Klopfen in der Brust. Zwei Herzen schlugen ach in ihr. Das eine fieberte bereits dem Treffen mit der Frau aus Ravensbrück entgegen. Das andere aber befürchtete, das man - wie abends so oft - vonseiten der SS das Zusammenrechnen der Häftlinge mal wieder auf eine Stunde und mehr ausdehnen könne. Gar nicht auszudenken, wenn es beim abschließenden Zahlenvergleich gar zu Unstimmigkeiten kommen sollte. Dann konnte es schließlich sogar sein, daß das Zählen mehrfach wiederholt würde und man als Häftling so den ganzen Abend und noch die halbe Nacht auf dem Appellplatz zubringen müßte. Und dann wäre es natürlich auch Essig gewesen mit dem ersehnten Stelldichein mit der schönen Barbara. Doch an diesem Abend verlief, von üblichen kleinen Schikanen der SS einmal abgesehen, der Appell ohne besondere Vorkommnisse und ging pünktlich um 19.45 Uhr mit der Meldung an den Lagerkommandanten zuende. Rasch verschlang Willi anschließend noch das karge Abendmahl aus Brot, Margarine, Blutwurst und Wassersuppe und wartete ungeduldig.

Dann war er endlich da, der ersehnte Moment. Ein SS-Mann begleitete ihn zu jener Baracke, die unter der harmlosen Bezeichnung Sonderbau nichts anderes als ein Bordell für SS und ausgewähte Häftlinge beherbergte. In einem der Vorräume mußte sich Willi Krause zunächst einer eingehenden Untersuchung durch den Lagerarzt unterziehen. Dann betrat er eine kleine Kammer mit einem Bett und Blumen auf dem Tisch - herrlich duftenden Kornblumen, wie Willi Krause sie schon lange nicht mehr gesehen und gerochen hatte. Nicht weniger schön sah die junge Frau aus, die dort im aschfarbenen Kleid bereits auf dem Bett auf ihn wartete. Willi setzte sich neben sie. Er schloß die Augen und atmete tief ein. Sie duftete nach Lavendel. Als er die Augen wieder öffnete, sah er, daß sie bereits dabei war, den oberen Knopf ihres Kleides zu öffnen. Dann griff sie nach seiner rauhen, zitternd mit Schwielen übersäten Hand und legte sie unter dem Kleid auf ihre Brust. Willi wollte seine Hand zurückziehen, doch die Wärme ihrer weichen Haut und das darunter deutlich spürbare, aufgeregte Pochen ihres Herzens ließen ihn verweilen. Wie oft hatte er auf diese Art daheim neben seiner geliebten Luise gesessen und ihrem Herzschlag nachgefühlt. Ach, wie sehr er seine Frau und ihre zärtlichen Liebkosungen in diesem Moment doch vermißte.

Minutenlang saßen Barbara und er nur einfach so da und schwiegen. Schließlich erhob sich die schöne Fremde langsam vom Bett und schickte sich an, ihr Kleid gänzlich abzustreifen. Sie versuchte zu lächeln, aber ihr angespanntes Gesicht verriet doch deutlich ihre Angst. Angst vor dem, was sie in ihrer kurzen Zeit im Sonderbau schon so oft hatte über sich ergehen lassen müssen und was ihr nun wohl auch vonseiten ihres momentanen Besuchers her bevorstehen würde. Willi aber griff sie vorsichtig am Arm und schüttelte sacht den Kopf: "Das mußt Du nicht, Barbara! Darum bin ich nicht hier! Ich will nichts weiter von Dir, als ein wenig über meine Luise reden und meine kleine Kathrin. Wie geht es ihnen? Sind sie gesund? Haben sie es sehr schwer in Ravensbrück im Lager?". Barbaras Gesichtszüge verloren mit einem Mal alles Furchtsame: "Du bist Willi, Willi Krause! Ja, es geht Deinen beiden Mädchen recht gut. Gesund sind sie beide. Deine Frau arbeitet als Näherin, und Deine Tochter besorgt tagsüber den Haushalt einer der Aufseherinnen". Dann erzählte sie ihm ausführlich jede Kleinigkeit von den Beiden: Wie sie die zwei Krausemädels kennengelernt und worüber sie sich mit ihnen unterhalten hatte. Willi klebte mit seinen weit aufgerissenen, strahlenden Augen förmlich an Barbaras roten Lippen. Immer wieder hakte er nach, wollte wissen, ob seine kleine Kathrin inzwischen wieder gewachsen sei und ob seine Luise noch immer so herrlich lächeln könne oder ob sie viel weinen müsse. Und Barbara stand ihm in all dem gern Rede und Antwort, war doch für sie die Unterhaltung mit jenem fremden Mann eine willkommene Erholung von der - ihre Seele doch arg belastenden - Hingabe ihres, von SS und Häftlingen zum reinen Triebabbau vielfach mißbrauchten Körpers. Nach einer Viertelstunde schloß sie ihre Ausführungen mit der recht ernüchternden Feststellung: "Natürlich ist auch Ravensbrück kein Zuckerschlecken, ganz im Gegenteil. Aber das muß ich Dir hier ja wohl nicht erzählen?!". Willis Augen verloren ein wenig von ihrem gerade erst wiedergewonnenen Glanz, sein Haupt senkte sich traurig, und er seufzte schwer.

Der SS-Mann vor der Tür schien dieses stöhnende Geräusch Krauses komplett fehlzuinterpretieren und grölte: "Na endlich, und jetzt mach hin mit dem Anziehen, Mensch! Andere wollen schließlich heut abend auch noch was von der Kleinen haben!". Barbara fuhr Willi mit ihrer Handinnenfläche behutsam über sein stoppliges Haar und seufzte nun ebenfalls: "Ach, Willi, es war so schön, in Deine leuchtenden Augen zu schauen, während wir über Deine Frau sprachen! Ich wünschte, es gäbe irgendwo auf der Welt auch einen, der ebenso sehnsüchtig auf mich wartet wie Du auf Deine Luise. Ich beneide Euch beide, auch wenn das in unserer schrecklichen Situation vielleicht ein wenig absurd klingen mag. Ihr findet trotz Eurer Trennung Halt aneinander und an der Hoffnung, Euch irgendwann wieder in Freiheit in die Arme schließen zu können. Ich bin ganz allein auf mich gestellt. Mir bleibt nur eins, meinen leidgeprüften Körper hier als Überlebenspfand herzugeben und zu hoffen, daß er die Zeit des Grauens möglichst unbeschadet übersteht. Vielleicht wartet ja dann - in einer neuen Zeit ohne Lager, Stacheldraht und ständige Todesangst - auch jemand auf mich da draußen!". Ihr dürrer Zeigefinger deutete aus dem Fenster hinaus, über die Silhouette der unüberwindbar hohen Lagermauer hinweg, hinein in die unendliche Weite der schon deutlich vorangeschrittenen Abenddämmerung. Willis Blick folgte dem Fingerzeig. Dann ergriff er mit beiden Händen Barbaras sehnsüchtig ausgestreckten Arm und hauchte ihr leise ins Ohr: "Das wünsch ich Dir auch von ganzem Herzen. Gib nicht auf, laß den Mut niemals sinken! Ewig kanns nicht dunkel sein! Ein neuer, besserer Tag wird anbrechen! Für Dich und für mich - für uns alle, die man uns heute noch einsperrt und knechtet! Hab Dank, daß Du mir den finsteren Lageralltag durch Deine frohe Botschaft ein wenig erhellt hast!". Damit drückte er ihr einen sanften Kuß auf die Stirn. Dann wurde auch schon die Tür aufgestoßen, und Willis Bewacher zog ihn gänzlich unsanft am Arm mit sich aus der Kammer in den Untersuchungsraum, wo der Schutzhäftling Nummer 080545 vorm Lagerarzt noch einmal zur eingehenden Überprüfung seines Intimbereichs die klamme Häftlingsuniformhose herunterlassen mußte.

Zurück in seiner Baracke begab sich Willi Krause schließlich umgehend zu Bett, denn die Zeiger auf dem Ziffernblatt an der Torhausaußenseite waren inzwischen deutlich auf 21 Uhr vorgerückt, was im Lager den Beginn der Nachtruhe bedeutete. Alle Gefangenen hatten ab diesem Zeitpunkt ohne Ausnahme in ihren Betten zu liegen und durften sich bis zum nächsten Morgen kaum bewegen. Wer sich dennoch am Fenster oder gar außerhalb der eigenen Baracke blicken ließ, wurde sofort erschossen. Selbst den Weg auf den in jeder Baracke bereitgestellten Notdurftkübel durfte man nur leise und gebückt zurücklegen. Hin und wieder gab es des Nachts dennoch einen Grund, sich rasch zu bewegen. Nämlich dann, wenn man sich vonseiten der SS-Schergen einen Spaß daraus machte, draußen vor die Tür zu treten und lauthals "Alarm! Alles unter die Betten!" zu brüllen. In diesem Fall wurde binnen Sekunden von den Schwarzuniformierten die Baracke gestürmt und ausgeleuchtet. Und jedes Körperteil eines Häftlings, das dann noch unter den Betten hervorragte, wurde mit einem unbarmherzigen Fußtritt bedacht. Zum Glück blieben den Häftlingen in dieser Nacht derartige Heimsuchungen erspart. Und so war Willi Krause auf seinem staubigen Strohlager ganz oben im Dreistockbett unter der dünnen Pferdehaardecke auch recht schnell entschlummert und träumte von seiner Luise, deren Herz er mit seiner Hand unter der warmen Haut ihrer Brust langsam und gleichmäßig schlagen spürte ...

[Wird fortgesetzt]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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5

Montag, 16. Januar 2012, 21:58

Episode 5

Vowort des Autors: Ich habe schon viele Weihnachtsgeschichten geschrieben in meinem noch jungen Schriftstellerleben. Doch keine Weihnachtsgeschichte war je so traurig und erschütternd, dem Leser wie dem Schreiber wohl gleichermaßen an die Substanz gehend wie die nun folgende. Und dennoch will sie geschrieben und gelesen werden - schon darum, damit sie sich in der Realität, in der sie so durchaus geschehen sein könnte, nie wiederholt! Und damit paßt diese Weihnachtsgeschichte auch bestens zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, dem Abend des 1. September, den wir als Weltfriedenstag begehen, weil an ihm einst der schrecklichste aller bisherigen Kriege ausbrach, der unvorstellbares Leid über alle Völker und auch über unser Heimatland brachte.

KONZENTRATIONSLAGER RAVENSBRÜCK. Heiligabend 1944.

Dicke, weiße Schneeflocken fielen aus allen Wolken. Des Tags über gehörte ihnen allein der weite, blaugraue Himmel. Des Nachts aber kämpften sie mit schweren stählernen Bomben um die Lufthoheit über Deutschland. Überhaupt kämpfte zu dieser Zeit alle Welt um Deutschland - allen voran die, die vor nunmehr sechs Jahren auf Geheiß eines Rattenfängers mit Namen Hitler ausgezogen waren in den Krieg. In einen Krieg, der die ganze Welt das Fürchten hatte lehren sollen und der nun - an seinem Ende - Furcht und Elend wieder zurückbrachte in das Land, von dem er ausgegangen war. Das kleine Städtchen Fürstenberg mitsamt der hier durchfließenden Havel hatten Schnee und Eis mit ihrer dünnen Winterdecke zugedeckt. Rasch zog auch an diesem Tage der Abend ins Land. In den Fenstern des verschneiten Luftkurörtchens zeigten sich daraufhin erste helle, strahlende Lichter als Boten des anstehenden Weihnachtsfestes. Doch das feierliche Lichtspiel dauerte nur einige Momente. Dann wurden die Fenster ordnungsgemäß verdunkelt, damit die britischen und amerikanischen Bomber auf ihrem Nachtflug in Richtung Reichshauptstadt sie nicht als Ziel auffassen konnten.

Auch in der Näherei auf dem Industriehof des Konzentrationslagers Ravensbrück, wo zu dieser Stunde bereits die Nachtschicht Einzug hielt und sich unter den Peitschenhieben der Aufseherinnen ans Werk machte, gab es nur fades Licht und luftdicht verschlossene, verdunkelte Fenster. Alle Plätze waren besetzt, auch der von Luise Krause hatte längst wieder eine Nachfolgerin gefunden - eine junge Frau namens Sonja Kraziwaja, die über dem blauweißen Streifenkleid noch eine dünne mausgraue Jacke mit das Kreidezeichen S.U. auf dem Rücken trug, welches sie deutlich als russische Kriegsgefangene auswies. Und während draußen die Abenddämmerung ein herrliches Abendrot an den Himmel zauberte, surrten im abgedunkelten Gebäude eintönig die Nähmaschinen. Luise Krause wußte in ihrer Zelle fernab der Näherei weder etwas von der Russin Sonja noch vom Einsetzen der vorweihnachtlichen Abenddämmerung. Für sie gab es seit nunmehr fast einem Monat keine Abende mehr, auch keinen Morgen und keinen Tag - nur noch Nächte. Ununterbrochene Nächte, in denen sich selbst die Gedanken verdunkelten. Hunger und Durst schickten ihr zusätzliche Trugbilder vor die angeschwollenen Augen. Schreckliche Bilder von Rohrstockarmeen, die übers stachelumdrahtete Land zogen und alles abgemagerte Leben in einem riesigen Blutmeer versinken ließen. Stets bekämpfte sie diese Schreckensboten, den Kopf wild hin und her werfend, indem sie aus ihren ausgetrockneten Lippen mit verzweifelter Kraft zwei Namen hervorpreßte: Willi und Kathrin.

Die Turmuhr des Städchens Fürstenberg verkündete derweil schon die zwanzigste Stunde. Und hinter den verdunkelten Fenstern in den vielen kleinen und großen Häusern der Stadt summten die Menschen leise Weihnachtslieder. Hin und wieder war sogar Kinderlachen zu vernehmen aus den Kehlen der Kleinen, die unterm Lichterbaum mit leuchtenden Äuglein ihre Weihnachtsgeschenke enthüllten. Hinter einem der dunklen Fenster aber hörte man auch ein leises Schluchzen von einer ganz in schwarz gekleideten Mutter, die ihre beiden Kinder schon früh zu Bett geschickt hatte und nun beim Schein einer einsamen Kerze ihren gerade erst an der - langsam heim ins Reich zurückkehrenden - Westfront gefallenen Mann beweinte. Immer wieder streichelte die weinende Frau dabei zärtlich über das - auf ihrem Schoß liegende - gerahmte Foto ihres geliebten Mannes mit dem so lebensfrohen Lächeln in seiner frischgebügelten Wehrmachtsuniform. Beinah schien es ihrem tränenverklärten Blick so, als liege er ihr jetzt leibhaftig zu Füßen und lächle sie an. Dann aber blieb ihr Finger mit einem Male am schwarzen Trauerflor im unteren Eck des Bilderrahmens hängen und machte ihr mit einem Schlage bewußt, daß sie ihn und sein Lächeln nie im Leben wiedersehen würde. Ihr Blick löste sich von seinem Bildnis und fiel stattdessen auf die hölzerne Tischplatte, von wo aus eine schwarzumrandete Karte ihr nüchtern verkündete: "Hans-Niklas Krieg, geboren am 01.08.1914 in Berlin, gefallen am 06.12.1944 bei Forbach (Lothringen) im heldenhaften Kampf für Führer, Volk und Vaterland!". Eine seltsame Mischung aus Trauer und Wut überkam die junge Witwe. Ihre zitternden Hände packten und zerknüllten die unheilvolle Todesnachricht. Und während sich vor ihren stark geröteten Augen im flackernden Kerzenlicht das Führerbildnis über dem Volksempfänger in eine ekelhaft grinsende Fratze verwandelte, krallten sich ihre Fingernägel in die Tischplatte. Alles in ihr aber schrie dem an der Wand Aufgehängten wutentbrannt entgegen: "Mörder! Verdammter, elender Mörder!".

Still und einsam war es zur gleichen Stunde im nahegelegenen Konzentrationslager Ravensbrück in Luises Dunkelarrestzelle. Starker, schmerzhafter Husten und hohes Fieber plagten sie schon seit einigen Tagen - eine schwere Lungenentzündung, die ihr der frostige Dezemberwind als verfrühtes Weihnachtsgeschenk beschert hatte. Auch jetzt, in der fortgeschrittenen Abendstunde, besuchte sie ihr stürmischer Zellengenosse wieder und pfiff durch einen Ritz am verschlossenen Fenster sein eisiges Lied. Luises Zähne klapperten, sie zitterte am ganzen abgemagerten Leib. Krampfhaft überlegte sie, welcher Tag es wohl sein mochte und wieviele Tage sie noch hier im frostigen Dunkel der Zelle zubringen mußte. Da vernahm sie plötzlich wie von ferne durch die dicken Steinwände hindurch die Stimmen ihrer benachbarten Zellengenossinnen, die sich gegenseitig - erst leise, aber dann immer lauter und mutiger werdend - in gebrochenem Deutsch ein Frohes Fest zuriefen. Es dauerte einige Minuten, bis eine Aufseherin auf dem Korridor Wind davon bekam und loskreischte: "Ruhe! Verdammtes Pack, seid jetzt endlich mal stille!". Das abschließende Wörtchen "Stille" aber hallte dabei im langen steinernen Flur des Zellenbaus mehrfach nach. Und es wirkte mit seinem Echo ungewollt wie ein Stichwort, auf welches hin eine gerade erst eingelieferte Holländerin aus voller Brust das Lied "Stille Nacht, Heilige Nacht" anstimmte. Luise erhob sich vom eisigen Grund ihrer Zelle und stimmte unter Zusammennahme all ihrer Kräfte auf wackligen Füßen leicht hüstelnd ein. Binnen weniger Sekunden gesellten sich die Stimmen einer Polin, einer Bulgarin, einer Französin und einer Russin von deren Zellen aus hinzu. Einen Moment lang hatten die Aufseherinnen im Zellenbau überlegt, ob sie sämtliche Sängerinnen aus ihren Löchern herauszerren und nacheinander alle über die Prügelbank legen sollten. Dann aber beschlossen sie in einem Anflug weihnachtlichen Großmutes, den Gesang für den Augenblick zu erdulden. Man war ja schließlich auch kein Unmensch, zumindest am heutigen Abend nicht. Immer mehr Frauen im Zellenbau erhoben daraufhin immer kräftiger ihre Stimme, und so schallte jenes alte deutsche Weihnachtslied schließlich weithin hörbar in den verschiedensten Sprachen über das gesamte Lagergelände. Auch in den einzelnen Baracken wurde es deutlich vernommen und leise mitgesummt. Selbst Luises kleine Tochter Kathrin konnte auf ihrem Strohsack hören und erkannte in dem vielstimmigen, internationalen Chor sofort die zarte, angeschlagene Stimme ihrer geliebten Mutter wieder. Tränen füllten ihre Kinderaugen, während sie unter ihrem Jäckchen eine - schon vor geraumer Zeit von Luise aus entwendeten Stoffresten und Stroh gebastelte - Puppe hervorholte. Dazu schluchzte das kleine Mädchen leise: "Liebste Mama, ich hab ja nur einen einzigen Weihnachtswunsch - daß Du endlich wieder hier bei mir bist! Ich vermisse Dich so sehr! Dich und den Papi!". Kathrin schloß eilig ihre immer feuchter werdenden Augen. Ganz fest drückte sie ihr Strohpüppchen an sich und sog dessen Duft mit dem Stubsnäschen ein. Und während sie sich langsam in den Schlaf weinte, träumte sie heimlich davon, wie schön es doch wäre, wenn ihre Puppe sich jetzt unter der Decke in ihre Mama verwandeln würde.

Auch über die Lagermauer hinweg bis zu der neuangelegten Baracke nahe dem Raum mit den Öfen wanderte der immer noch anhaltende, stimmgewaltige Gesang der im Zellenbau Inhaftierten. Dorthin, wo gerade in diesem Moment der kleine polnische Junge Janek am Arm seiner Mutter von der Ladefläche eines Lastkraftwagens heruntergeschubst und in Richtung der Barackentür mit der Aufschrift "Desinfektionsblock" gejagt wurde. Der SS-Mann, der die Beiden mit noch etwa 40 anderen Frauen und Kindern wie Vieh mit der Peitsche zusammentrieb, brüllte dazu grinsend: "Euch jüdischer Polackenbrut wird an diesem heiligen Abend die feierliche Ehre zuteil, das neuste Schmuckstück unseres nationalsozialistischen Reinlichkeitsgedankens einzuweihen. Ich hoffe doch, Ihr wißt das überhaupt zu schätzen?! Und jetzt beeilt Euch gefälligst mit dem Ausziehen, verlaustes Pack! Es geht unter die Brause!". Janek freute sich auf ein warmes Brausebad, nachdem er zuvor tagelang mit hundert anderen gefangenen Polen und Ungarn in einem Viehwagen der DR eingepfercht war, ohne jede Waschmöglichkeit. Sorge machte ihm allein das traurige, angespannte Gesicht seiner Mutter. Warum freute sie sich denn nicht auf das erfrischende Naß? Vor dem Duschraum mußten sich die Kinder und Mütter splitterfasernackt ausziehen. So standen sie eine Viertelstunde lang frierend, ihre Blöße mit den Händen notdürftig bedeckend, im Barackenvorraum und waren dabei schutzlos den geifernden Blicken von einem halben Dutzend SS-Posten einschließlich denen des Lagerkommandanten Suhren ausgeliefert. Dann wurden sie endlich eingelassen in den warmen Kachelraum, dessen dicke Stahltür vom Lagerkommandanten höchstpersönlich hinter ihnen sofort wieder verschlossen und verriegelt wurde. Sekundenlang herrschte Stille. Dann fiel etwas Metallisches durch eine Luke an der Decke herab in ein dickes Rohr an der Wand, von welchem aus dünnere Metallrohre zu den einzelnen Duschen hin abzweigten. Sekundenbruchteile später zischte es bereits verheißungsvoll aus den Brauseköpfen über den erschrocken aufblickenden Häuptern von Janek und seiner Mutter. Die bleiche Polin nahm ihr Söhnchen schnell zu sich auf den Arm und drückte es fest an ihre warme Mutterbrust, während sie ihr geliebtes Kind schluchzend mit Küssen übersäte. Dazu flüsterte sie ihm die Worte Jesu ins Ohr, die dieser - den Tod vor Augen - zu einem mit ihm Verurteilten sprach: "Wahrlich, ich sage Dir, noch heute wirst Du mit mir im Paradiese sein!". Janeks Hals schnürte sich unterdess langsam zu - er röchelte, schnappte verzweifelt nach Luft. Seine Augen wurden groß, während er sich in Panik und Todesangst nun mehr und mehr in den nackten Leib seiner, ebenfalls um Luft ringenden Mutter verkrallte. Untrennbar ineinander verschlungen sanken die Beiden schließlich leblos zu Boden. Und auch um sie herum verstummte nach und nach langsam selbst das letzte leise Wimmern all der hier so grausam zugrundegehenden Menschen. Wieder herrschte Stille, Totenstille. Nach der Ewigkeit einer halben Stunde schließlich wurden die Türen weit aufgerissen. Ein Sonderkommando männlicher Häftlinge aus dem nahegelegenen Männerlager trug die unbekleideten, schlaffen, noch warmen und teilweise sogar noch zuckenden Körper - auf ihren Rücken und am Arm durch den Schnee hinter sich herschleifend - hinüber zum Krematorium. Hier wurden die Toten - teilweise übereinandergestapelt - in die vorgeheizten Öfen geschoben und kehrten Momente später als Asche und Rauch durch den hohen, dicken Schlot der Verbrennungsanlage dem Lager umgehend den Rücken.

Lagerkommandant Suhren, der dem qualvollen Sterbeprozeß in der neueingeweihten Gaskammer durch ein Guckloch in der Zugangstür mit einem diabolischen Leuchten in seinem - von jeher aufgrund einer Nervenerkrankung - zuckenden rechten Auge beigewohnt hatte, zückte derweil sein schwarzes Notizbuch und einen sorgsam gespitzten Bleistift aus der Brusttasche. Dann notierte er im Flackerlicht der brennenden Öfen: "1944. Dezember 24. 22 Uhr 45. 45 polnische Einheiten unmittelbar nach der Ankunft unter Gasanwendung sonderbehandelt. Der Probelauf verlief äußerst zufriedenstellend. In knapp 45 Minuten ebensoviele Einheiten unter geringstem Aufwand an Kraft und Material ausgelöscht. Zurückgebliebene Kleidungsstücke werden umgehend an Näherei weitergeleitet. Andere zurückgebliebene persönliche Gegenstände werden nach Überprüfung auf ihre Verwertbarkeit an die entsprechenden Stellen weitergeleitet. Sumasumarum entstehen so im Nachhinein keinerlei finanzielle Verluste für das Reich, eher sogar noch leichte Gewinne. Betrachte dieses als mein persönliches Weihnachtsgeschenk an Führer und Reichsführer SS. Heil Hitler!". Zufrieden nickend steckte er das Büchlein und den Stift zurück in die Brusttasche seiner SS-Uniform und trat im Barackenvorraum an den verwaisten Kleiderberg der soeben Vergasten heran. Mit der Stiefelspitze kramte er ein wenig in den Wäschestücken herum und entdeckte zwischen zwei Mänteln einen, aus einer gestopften Wollsocke und zwei pechschwarzen Knopfaugen selbstgenähten Stoffbären. Auf dem mit Stoffresten aufgefüllten Bauch war mit rotem Faden kunstvoll der Name "Janek" aufgestickt. Kommandant Suhren streifte seine Lederhandschuhe über und entriß das Stofftier ungestüm seiner Ummantelung. Ja, so einen ähnlichen Bären hatte er als Kind auch einmal besessen. Damals, als er mit seinen Eltern im friesischen Varel aufwuchs. Er hatte ihn überall hin mitgenommen, auch in die schmalen Gassen, wo er als Achtjähriger auf dem Gehsteig die Lust am Töten für sich entdeckte. Freilich, erst hatte er die kleinen Ameisen nur beobachtet, die aus den Ritzen des Kopfsteinpflasters hervorhuschten und kurze Zeit später wieder in ihnen verschwanden. Er hatte sich zu ihnen gesetzt und ihnen stundenlang fasziniert zugeschaut. Vom Vater hatte es dafür am Abend wegen der schmutzigen Lederhose eine Tracht Prügel bekommen. Mit drohender Faust hatte in sein Erzeuger dazu angebrüllt: "Dat is Ungeziefer, min Jung! Dat kiekt man sich nit an, dat rottet man us!". Und so klappte der gehorsame Suhrensproß schon am nächsten Sonntag um die Mittagszeit bei den Ameisen sein - vom Vater geschenkt bekommenes - Taschenmesser auf und trennte damit akribisch die Leiber der emsigen Ameisen in der Mitte durch. Er ergötzte sich am Anblick der sich immer langsamer windenden, nunmehr lebensunfähigen Ameisenhälften. Auf seiner Schulschiefertafel aber vermerkte er mit dem Griffel jede dieser vollzogenen Tötungen mit einem Kreidestrich - bei Einbruch der Dunkelheit zählte er exakt 666 Hingerichtete. Und als er seinem Vater am Abend mit stolzgeschwellter Brust von dieser Aktion berichtete, nahm der ihn zur Seite und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter: "Brav! Kiek mal eener an, dat is min Jung!".

Gut, das Töten eines Menschen war auch den hundertfachen Ameisenmörder Suhren dann noch einmal ein gewaltiger Schritt. Es war am 30. Januar 1933 gewesen, als er diesen Schritt vollzog - an jenem bedeutungsschweren Tag, als Adolf Hitler, vom greisen Reichspräsidenten von Hindenburg zum Reichskanzler berufen, die Macht übernahm. SS-Mann Suhren war in Begleitung von ein paar braununiformierten SA-Leuten, von einem feierlichen Besäufnis im Ratskeller seines Städtchen kommend, auf dem Nachhauseweg, als ihnen ein Jude über den Weg lief - ein buckliger, alter Mann namens Mäuslich. Suhren kannte den Alten, er war früher einmal sein Deutschlehrer gewesen und hatte dem nicht gerade hellen Jüngling so manche schlechte Note beschert. Inzwischen war Mäuslich pensioniert. Dem alten Mann schlotterten beim Anblick der Braunen und des sie anführenden schwarzen Mannes sofort die Knie, und die Hände ineinanderfaltend flehte er: "Bittschön, die Herren Sturmleute, lassens mich doch passieren. Und meine besten Wünsche für Ihren Herrn Hitler zur Kanzlerschaft!". Der ganze schwer angeheiterte SA-Trupp grinste breit, und einer von ihnen grölte: "Da sieh mal an, der Mäuslich, das Judenschwein! Hat meinem Bruder vor der ganzen Klasse eins mit dem Rohrstock übergezogen, nur weil er dem Sohn von einem Roten in der Pause eine eingeschwenkt hat. Aber die Zeiten sind vorbei, mein Lieber! Jetzt sind wir am Ruder! Jetzt werden endlich die alten Rechnungen beglichen!". Ängstlich sank der Alte vor dem Uniformierten auf die Knie und winselte um Gnade. Doch der besoffene Sturmabteilungsmann zog seinen Schlagstock und versetzte dem Alten damit einen kräftigen Hieb über die kahle Stirn, wo sich sogleich eine große blutige Platzwunde abzeichnete. Das herausschießende Blut aber war den Umstehenden auf die Uniformen und ins Gesicht gespritzt. Während die Braunhemden ihre Taschentücher zückten und damit die verräterischen Blutflecken von sich abzuwischen suchten, benutzte Suhren zu diesem Zweck die bloße Hand. Er verrieb das Blut des Lehrers zwischen seinen Fingern, dann leckte er daran und spuckte es dem zitternden Mann vor ihm verächtlich mitten ins zerschlagene Gesicht. Das Gefühl der Macht, das er dabei in sich aufkommen spürte, gefiel ihm. Er wurde in diesem Augenblick für den Juden, dem er früher in der Schule ohne Widerspruch gehorchen mußte, zum Herren - zum Herren über Leben und Tod. Wie eine kleine armselige Ameise wand der alte Mäuslich sich auf den Gehsteig vor ihm. Und er, der mittelmäßige Schüler Suhren, brauchte nun nur noch sein Messer auseinanderzuklappen und ... Ein spitzer Schrei ertönte. Suhren und die betrunkenen SA-Leute liefen in allen Himmelsrichtungen auseinander und verschwanden schließlich - jeder für sich - im Schutze der Dunkelheit. Zurück blieb ein leblos auf der Straße liegender alter Mann in einer immer größer werdenden Blutlache. Und in seinem Bauch steckte ein Dolch, in dessen Klinge die Inschrift "Der Wille des Führers" eingraviert war. Damals, nach diesem ersten Mord hatte sich Suhren noch in einem der Hinterhöfe die halbe Nacht übergeben. Tagelang mied er die Stelle, wo der Jude Mäuslich in jener eisigen Januarnacht so elendig ausgeblutet war. Aber letztlich war es mit dem Töten wie mit dem Schnapstrinken. Nur beim ersten schüttelte es einen noch, der Magen drohte sich umzudrehen, und das Ganze stößt einem wieder und wieder bitter auf. Man muß sich erst wieder neu überwinden, um es ein zweites Mal zu tun. Doch dann stellt erstaunt und zufrieden fest, daß es einem schon deutlich weniger ausmacht als beim ersten Mal. Man wiederholt es schließlich ein drittes, viertes und fünftes Mal und findet mehr und mehr Geschmack daran. Spätestens beim zehnten Mal gerät man in einen echten Rausch. Man kann gar nicht genug davon bekommen. In immer kürzeren Abständen braucht man immer größere Mengen. Beim Schnaps hatte Suhren das über viele Jahre hinweg zum Alkoholiker werden lassen, beim Töten aber zum skrupellosen Massenmörder.

In die Gedanken an den Rausch vergangener Zeiten versunken hatte Lagerkommandant Suhren die auf Hochtouren arbeitenden Verbrennungsöfen des Krematoriums inzwischen längst hinter sich gelassen und bewegte sich nun zackigen Schrittes am Seeufer vorbei, über den Vorplatz des eigentlichen Lagergeländes hinweg auf die Steintreppe, die zu seinem Wohnhaus hinaufführte, zu. Erst als er das Lagertor passierte und einer der Wachposten zum Gruß die Hacken der Stiefel zusammenknallte, registrierte Suhren, daß er ja immer noch den abgenutzten Stoffbären in Händen trug. Achtlos warf er ihn in hohem Bogen in ein nahegelegenes Gebüsch. Dann grüßte er kurz zurück, indem er den ausgestreckten rechten Arm im hohen Winkel in die Luft riß, und ging weiter. Und während er dann die steinernen Stufen zum Führerhaus erklomm, sah er schon den hellen Kerzenschein hinter dem Fenster seiner Wohnstube und vernahm die leisen, zarten Stimmen seiner Frau und seiner drei Kinder. Zusammen sangen sie "Leise rieselt der Schnee", und in leiser Vorfreude auf die gleich anstehende Bescherung summte Suhren mit. Dabei klopfte er sich lächelnd die vermeintlichen Schneeflöckchen ab, die aus der eisigen Nachtluft unaufhörlich auf seine Uniformjacke herabrieselten, und die doch nichts anderes waren, als die gräulichen Aschepartikel, mit denen sich die rußigen Überreste des Jungen Janek und all seiner mit ihm verbrannten Landsleute auf dem erstarrten deutschen Boden verteilten. Suhren aber war in Gedanken schon bei der Flasche Slibowicz, die er sich nach dem Zubettbringen der Kinder zur "Feier des Tages" gönnen würde und bei der deutschen Mutter seiner arischen Erben, die er in dieser weihnachtlichen Nacht mit dem Geschenk seines Beischlafs beglücken würde. Vor seinem kranken Auge sah er bereits ihren nackten Leib im Halbdunkel, wie er sich winselnd, stöhnend und schreiend unter dem seinen wand, während sich seine spitzen Fingernägel immer wieder schmerzhaft in ihr nacktes Fleisch krallten und seine Zähne sich in ihre Schulter verbissen, bis das Blut herauszurinnen begann, welches er dann im Rausche seines, sich langsam anbahnenden Höhepunktes genüßlich aufzusaugen pflegte. Und wenn er sich dann mit aller Macht geradezu übermenschlich in ihr entlud, würde sein ekelhaft nach Schnaps und Blut stinkender Atem ihr befriedigt ins Ohr hauchen: "Unsre Fahne flattert uns voran!". Mit derart erhebenden Vorstellungen war Lagerkommandant Suhren auf der obersten Stufe und damit am Ziel seines düsteren Weges angelangt und ließ krachend hinter sich die schwere hölzerne Haustür ins eiserne Schloß fallen.

Am frühen Morgen des folgenden ersten Weihnachtstages öffnete sich im Zellenbau quietschend und knarrend die schwere Eisentür von Zelle 13 - jenem finsteren Loch, indem die darin Eingesperrte nunmehr die letzten knapp 30 Tage ihres jungen Lebens verbracht hatte. Ein schmaler Streifen Licht durchbrach die Dunkelheit der Arrestzelle, und eine kühle weibliche Stimme rief: "Strafgefangene 020748, Frühstück! Na los, beweg Dich!". Zeitgleich schob ein - in einen hohen Lederstiefel gepreßter - Frauenfuß ein Blechnapf mit einer wäßrigen Brühe und einen Kanten Brot über den schmutzigen Betonfußboden in das dunkle Zellenloch. Das Ohr der grauberockten Aufseherin lauschte erst kurz, dann noch einmal intensiver. Doch so sehr es sich auch anstrengte - es vernahm keinen Laut, kein Geräusch, nicht einmal ein Husten oder noch so leises Atmen. Weiter wurde die Zellentür aufgestoßen. Immer mehr elektrisches Licht flutete den staubigen Zellenboden, auf dem nun eine in sich zusammengekrümmte Frauengestalt zum Vorschein kam, die völlig regungslos da lag. Die Hände und Beine waren - bis auf jene Stellen, die Blutergüsse und offene Wunden als nachträgliche Zeugnisse vielfacher Mißhandlungen bedeckten - dunkelblau gefärbt und trugen eine eigenartige Marmorierung. Die Augen quollen aus dem eingefallenen Gesicht hervor, die Lippen waren trocken und rissig, der Mund stand weit offen. Er hatte sich nicht mehr geschlossen, nachdem er am späten Abend bis zur Erschöpfung immer wieder "Stille Nacht, Heilige Nacht" gesungen und gegen Mitternacht schließlich mit einem letzten tiefen Ausatmen das Leben von Luise Krause ein- für allemal ausgehaucht hatte ...

[Wird fortgesetzt]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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sven1421

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6

Montag, 16. Januar 2012, 22:00

Episode 6

Vorwort des Autors: Damit komme ich zu einem der wohl längsten Kapitel meines Werks, das einem ebenso langen, qualvollen Marsch gewidmet ist - dem Todesmarsch der Häftlinge des KZ Sachsenhausen. Dem Marsch, auf den sich u.a. auch mein Uropa und mein Großonkel begaben und an dessen Nachwirkungen letzterer sogar verstarb ... ;(

TODESMARSCH DES KZ SACHSENHAUSEN. April 1945.

Jener dumpfe Glockenton, der für die Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen allmorgendlich den Beginn eines neuen qualvollen Tages verkündete und dabei jedesmal so klang wie das Geläut einer Sterbeglocke, riß Willi Krause in der Baracke auf seinem Strohbett mitten aus dem eh viel zu kurzen und nie wirklich festen Schlaf. Bis eben gerade hatte er noch von seiner Luise geträumt, hatte mit ihr händchenhaltend an einem wunderschönen See gesessen, während um sie herum bei herrlichsten Sonnenschein alles grünte und blühte. Doch dann war in seinem Traum plötzlich ein heftiger Sturmwind aufgezogen. Dicke schwarze Wolken verfinsterten mit einem Schlag die Sonne. Eisiger Regen prasselte aus ihnen auf die Erde hernieder und verwüstete die eben noch so blühende Landschaft. Dazu grollte heftiger Donner, und feurige Blitze zuckten. Einer jener Blitze schlug in Willis Traum direkt neben ihm ein und traf dabei Luises Körper, der sich noch ein letztes Mal aufbäumte und dann innerhalb von Sekundenbruchteilen zu Staub zerfiel. Ein Häufchen Asche in seiner Hand war schließlich alles, was Willi von seiner geliebten Frau am Ende jenes gräßlichen Albtraums noch geblieben war.

Willi Krause war sichtlich erleichtert, daß alles nur ein böser Traum gewesen war. Weit riß er die Augen auf und schaute sich um. Wie sehr wünschte er sich doch, daß auch dieses verfluchte Lager und die, die es errichtet hatten, nur ein böser Traum sein mögen, aus dem er eines schönen Morgens einfach so erwachen würde und den er dann einfach verdrängen und vergessen könnte. Doch das hier war leider kein Albtraum, das hier war schlimmer. Es war grausame Realität. Nie wußte man am Beginn eines solchen Tages, ob man seinen Abend überhaupt noch erleben würde. Und selbst wenn man den Lageralltag und die mit ihm einhergehenden Schikanen der SS irgendwie überlebt hatte und sich abends hungrig und erschöpft auf seinen Strohsack fallen ließ, um die müden Augen zu schließen, wußte man noch nicht mit Sicherheit, ob man am Morgen darauf die Augen auch wieder aufschlagen würde. Denn jede Nacht gab es unter den Häftlingen einige, die plötzlich auftretende Krankheiten und Infektionen, Fieber oder auch bloße Erschöpfung im Schlaf dahinrafften.

Willi Krause sprang von seinem harten Strohlager auf und begann, es mit seinen schwielenübersäten Händen sorgsam glattzustreichen. Dabei warf er einen kurzen Blick aus dem Fenster und hielt kurzzeitig inne. Irgendetwas war an diesem 21. April des Jahres 1945 anders als sonst. Für das allmorgendliche Wecken schien es ihm draußen eigentlich noch viel zu dunkel. Zudem ertönte schon eine knappe Viertelstunde später der Befehl zum Heraustreten, so daß den Häftlingen nicht einmal mehr Zeit für die ohnehin schon recht spärliche Morgentoilette blieb. Beim Zählappell schien dann auf den ersten Blick zunächst alles wieder wie immer. Aber wenn man sich genau umsah, bemerkte man rasch, daß rund um den Appellplatz herum viel mehr Wachleute als sonst versammelt waren - im Grunde genommen bis auf einen einzigen Mann wohl sogar die komplette Wachmannschaft.

Der einzig fehlende Wachposten aber war jener Erich Hecker, der im November vergangenen Jahres den Häftling Hannes Vogel von seinem Wachturm aus erschossen und dafür als Belohnung 3 ganze Tage Sonderurlaub eingestrichen hatte. Aus jenem Urlaub sei er dann nach euphorischen Aufbruch zu seiner Braut recht still und in sich gekehrt zurückgekommen, erzählte man sich. Angeblich hatte er zu Hause vor seiner geliebten Heidi mit stolzgeschwellter Brust geprahlt, wie er zu dem zusätzlichen Urlaub gekommen war. Sein Mädel aber habe sich nach dieser grausamen Offenbarung entsetzt von ihm losgesagt und gemeint, mit einem Mörder wolle sie nichts zu tun haben. An Weihnachten und in den ersten Monaten des neuen Jahres hatte Hecker dann gänzlich auf Urlaub verzichtet. Warum er vor 4 Tagen überraschend doch wieder Urlaub eingereicht hatte und wieso er aus diesem dann am gestrigen Tage nicht wieder zurückgekehrt war, wußte zunächst niemand genau. Man hatte beim Abendappell gemunkelt, er sei vielleicht versetzt worden oder habe sich freiwillig an die Front gemeldet. Erst im Verlaufe des nun beginnenden Morgenappells klärte sich die wahre Ursache seines plötzlichen Verschwindens auf. Die Nachricht verbreitete sich während des Durchzählens mittels Flüsterpropaganda geradezu wie ein Lauffeuer unter den Häftlingen. Ein Mithäftling aus der Schreibstube hatte nämlich kurz vor Appellbeginn zufällig ein Gespräch zweier SS-Raportführer aufgeschnappt. Demzufolge hatte sich Erich Hecker auf dem Dachboden seines Elternhauses erhängt. In einem Abschiedsbrief erklärte er zu seinen Beweggründen, er habe es einfach nicht mehr ausgehalten, überall schief angeschaut und vo Freunden und Bekannten gar wie ein Aussätziger behandelt zu werden. Außerdem wäre er nahezu jede Nacht vom immer wieder gleichen Albtraum heimgesucht worden, in dem ein kohlrabenschwarzer Vogel unaufhaltsam auf ihn zugehüpft sei, ihm nacheinander beide Augen ausgehackt und ihm dann immer wieder mit düsterer Stimme das Wörtchen "Mörder!" abwechselnd in beide Ohren gekrächzt habe.

Willi Krause wußte nicht so recht, was er mit dieser Nachricht anfangen sollte. Zum einen war dieser Schütze Hecker nur einer der vielen Auswüchse dieser schrecklichen Zeit, und zum anderen machte dessen späte Reue Hannes Vogel auch nicht wieder lebendig. Krause ließ seinen Blick vorsichtig schweifen, während er gleichzeitig auf Kommando hin zur Meldung an den Lagerkommandanten die Mütze vom Kopf riß. Die Schwarzuniformierten wirkten heute früh irgendwie besonders unruhig, fast ebenso unruhig wie die deutschen Schäferhunde, die an der langen Leine gehalten hechelnd und schwanzwedelnd zu ihren Füßen hockten und zwischendurch hin und wieder ein wenig gelangweilt die Stiefelspitzen ihrer Herrchen mit der Zunge ableckten. Dabei war die scheinbare Friedfertigkeit der Tiere recht trügerisch. Zu oft schon hatte Willi Krause hier im Lager miterleben müssen, wie auf lautstark gebrüllte Kommandos hin sich die sonst so friedlichen Hunde von einer Sekunde auf die andere in reißende Bestien verwandelten, die ihre Zähne fletschten und jederzeit zum tödlichen Angriff auf die Häftlinge bereit waren. Auch darin ähnelten sie ganz den Herren, die in den SS-Uniformen hinter ihnen standen. Ja, auch die Männer mit dem Totenkopfsymbol an der Mütze hatte ihr Führer über die Jahre der Naziherrschaft hinweg zu gehorsamen, angriffslustigen Tieren abgerichtet, indem er sie ununterbrochen mit menschenverachtenden Haßparolen fütterte und ihnen damit nach und nach alles Menschliche aberzog.

Jetzt, da sich der Appell langsam seinem Ende zuneigte, verstand Willi Krause plötzlich auch, was jene seltsame Unruhe bei den Wachleuten auslöste. Es war das donnernde Grollen des Gefechtslärms, der in diesem Moment aus dem Südosten Berlins kommend einsetzte und damit schon bedrohlich nahe zu sein schien. Kurz in sich zusammenzuckend trat inzwischen der Lagerkommandant in seinem Pelzkragenmantel ans Mikrofon und verkündete: "Schutzhäftlinge! Auf einen Befehl des Reichsführers SS hin wurde beschlossen, mit sofortiger Wirkung die Evakuierung des Lagers Sachsenhausen einzuleiten. Es handelt sich dabei um eine reine Vorsichtsmaßnahme, die zu Eurem eigenen Schutze dient. Der blockweise Abmarsch zur Räumung des Lagers beginnt in genau 15 Minuten. Es ist nicht erlaubt, außer einer Wolldecke irgendwelches Gepäck oder sonstige Gegenstände mitzuführen! Schutzhäftlinge, rührt Euch! Die Mützen auf! In die Quartiere weggetreten!".

Zurückgekehrt in die Baracken packte nun auch die Häftlinge eine sichtliche Unruhe. Da keimte angesichts der näherrückenden amerikanischen, britischen und sowjetrussischen Truppen einerseits die heimliche Hoffnung auf, daß es mit dem grausamen Spuk des Dritten Reichs nun bald vorbei sei. Doch unter diese Hoffnung mischte sich auch die unheimliche Furcht, jetzt so kurz vor der bevorstehenden Befreiung noch rasch von der aufgescheuchten SS in den Tod getrieben zu werden. Gerüchte im Flüsterton machten unter den Häftlingen die Runde und schürten damit Angst und Hoffnung. Einige meinten, man würde einfach in ein anderes Lager in Norddeutschland verlegt. Andere mutmaßten, man würde vielleicht von der SS an die Amerikaner ausgeliefert, die sich damit ihre Straffreiheit erkaufen wolle. Am glaubhaftesten aber erschien ein Gerücht, das wieder einmal von den Häftlingen der Schreibstube aufgeschnappt worden war. Da hieß es, die Naziführung hätte beschlossen, das Lager zu räumen, um so unliebsam gewordene Zeugen für die Schrecken ihrer Herrschaft zu beseitigen. Dazu wolle man die Gefangenen am Ostseestrand auf Schiffe verladen und sie dann auf offener See versenken. Rasch wurde dieser schreckliche Gedanke wieder verdrängt. Stattdessen verbrachte nun jeder Einzelne unter den Häftlingen die letzten Minuten im Lager noch auf seine ganz spezielle Art und Weise. Diejenigen, die in ihren Baracken keine der wenigen ungezieferbehafteten Pferdehaardecken mehr aufzutreiben vermochten, begannen mithilfe des Löffels aus ihrem Eßgeschirr die Nähte ihrer Strohsäcke aufzutrennen und sich so einen schützenden Umhang zu verschaffen. Andere holten aus ihren Spinten mittels Prämienscheinen erstandene, sorgsam verwahrte Essensreste heraus und stopften sie hastig in ihre hungrigen Münder, weise vorausahnend, daß der ihnen bevorstehende Evakuierungsmarsch ein sehr langer werden würde. Wieder andere waren direkt in die Waschräume gelaufen, um dort an den großen runden Waschbecken vor dem Aufbruch noch einmal ihre trockenen Kehlen ein wenig anzufeuchten. Überall herrschte emsiges Treiben. Nur in der jüdischen Baracke war es merkwürdig ruhig. Andächtig saßen hier die Häftlinge beieinander - die zitternden Hände gefaltet, die kahlgeschorenen Häupter andächtig gesenkt - und schickten ein leises Gebet um Bewahrung und Errettung an ihren Schöpfer.

Eine Viertelstunde später standen die Häftlinge, jeder mit einer Decke oder mit etwas ähnlichem um die Schultern, blockweise abmarschbereit auf dem Appellplatz, umringt von den Wachleuten und den Hunden. Nur die Kranken und Toten sowie ein kleines Aufräumkommando blieben zurück, alle anderen marschierten unter den widerhallenden Klängen des Liedes "Heimat, Deine Sterne" durch das Lagertor hinaus in die düstere Ungewißheit. Willi Krause schaute unmittelbar vorm Aufbruch seines Blocks noch einmal zum Himmel hinauf. Nein, die besungenen Sterne der Heimat waren dort auch heute nicht zu erkennen. Zu dicht verhängten dazu die dicken schwarzen Rauchschwaden, die dem hohen Schornstein des nahegelegenen Krematoriums entstiegen und einmal mehr von der düsteren Himmelfahrt jener unzähligen zu Tode gequälten Häftlinge kündeten, den Blick aufs Sternenzelt. Und dennoch leiteten Sterne die blau-weiß-gestreifte Marschkolonne auf ihrem Weg. Es waren die sternförmigen Symbole auf der Häftlingskleidung der allen voranschreitenden Juden. Wie im Alten Testament der Bibel führte dieses kleine, geschundene Volk auch diesen Exodus an. Und all jene unter den Häftlingen, die in den Jahren ihres Martyriums den Glauben an Gott noch nicht verloren hatten, sahen darin ein kleines Zeichen der Hoffnung, daß am Ende ihres leidvollen Weges auch diesmal ein neues, ein gelobtes Land stände.

All die anderen, die diesen Glauben wie Willi Krause nicht teilten, suchten in Gedanken an ihre Familien, Frauen und Kinder nach einer anderen Art von Halt. Der war zum Überleben auch bitter nötig, denn die apriltypische Witterung machte der Häftlingskolonne das Laufen von Anfang an nicht leicht. Über den Marschierenden hatte es in der eh recht kühlen und nebelverhangenen Morgenstunde zu allem Übel nun auch noch zu nieseln begonnen. Und unter ihren zerschundenen Füßen, die oftmals in kaputten Schuhen mit völlig durchgelaufenen Sohlen steckten, spürten sie neben dem gefrorenen, naßkalten Erdboden schmerzhaft auch jeden Stein und jede noch so kleine Glasscherbe. Hinzu kam, daß sich der feine Nieselregen rasch durch die dünnen Decken und die Häftlingskluft vorarbeitete, wo er auf die gepeinigte und rissige Haut der dürren, abwehrgeschwächten Menschenleiber traf. Ständiges Zittern und Zähneklappern waren die Folge, später reagierte der Körper auf die anhaltende Unterkühlung oftmals mit hohem Fieber. Noch schneller als im Lager wuchs sich das dann am Ende zu einer heftigen Lungenentzündung aus. Diese aber ließ den Entkräfteten irgendwann ohnmächtig auf der kalten Erde zusammenbrechen und liegenbleiben, wo schon Sekunden später der Schuß aus dem Gewehrlauf eines SS-Mannes das endgültige Todesurteil über die armselige, geschundene Kreatur sprach.

Auch an Willi Krause nagte das anhaltend feuchtkalte Wetter. Es fuhr ihm in die Glieder, ließ ihn jeden einzelnen Knochen schmerzvoll spüren. Auch die alte, inzwischen durch Folter und andauernde Schinderei mehrfach angebrochene Rippe war wieder deutlich zu spüren. Hunger, Durst und Erschöpfung gesellten sich unheilvoll dazu und ließen jeden Atemzug und jeden Schritt zur unendlichen Qual verkommen. Doch Willi Krause biß die Zähne zusammen. Er war einfach nicht gewillt aufzugeben - nicht jetzt, da Ende und Neuanfang so nahegekommen waren. Nein, er wollte kämpfen, ebenso wie in der Ferne in seinem Rücken die Rote Armee vor den Toren Berlins kämpfte - erbittert und unnachgiebig um jeden Zentimeter. So verging Minute um Minute und Stunde um Stunde der erste Tag des Marsches. Die Häftlinge, die das Marschtempo immer wieder zu verschleppen suchten, um so ihren Befreiern das Näherheranrücken zu erleichtern, hatten dabei nicht einmal 20 Kilometer zurückgelegt und übernachteten schließlich - streng bewacht von ihren Peinigern - in einem kleinen Waldstück. An Schlafen war dabei aufgrund des Kläffens der Wachhunde, der eisigen Kälte und des anhaltenden Hungers kaum zu denken. Stattdessen machten sich die Häftlinge auf die verzweifelte Suche nach Eßbarem und begannen dabei, sich über wilde Beeren, Gras und Baumrinde herzumachen. Zu Dutzenden versammelten sie sich selbst um jede noch so kleine Pfütze herum und schlürften mit langen, ausgetrockneten Zungen den letzten Tropfen schmutzigen Regenwassers aus ihnen heraus. Dann kauerten sie sich im Schutze eines Baumes oder Strauches dicht aneinander - verzweifelt versuchend, sich mit ihren durchgefrorenen Körpern gegenseitig ein wenig Wärme zu spenden.

Bei Anbruch des Morgengrauens scheuchte die SS alle wieder hastig zusammen und setzte den Gewaltmarsch erneut in Gang. Wieder ging es durch kleinere Städte und Dörfer hindurch, an Feldern und Wäldern vorbei. So schlichen der Morgen und der Vormittag langsam dahin, ebenso langsam wie der nicht endenwollende Häftlingszug. Willi Krause, der dank eines plötzlich aufgetretenen starken Hustens in der zurückliegenden Nacht kein Auge zugemacht hatte, übermannte mit einem Mal die Müdigkeit. Ihm war klar, daß er - wenn er noch an seinem Leben hing - diesem Gefühl auf gar keinen Fall nachgeben durfte. Und dennoch schloß er die müden Augen, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Er lauschte dabei der ihn umgebenden Geräuschkulisse und vernahm um sich herum nur Schritte. In seinem näheren Umfeld waren diese Schritte seiner Leidensgenossen wie die seinen - schwerfällig stolpernd, von blasenüberhäuften, schmerzenden und brennenden Füßen erzeugt. Nur rechts und links außen, wo sie von den schweren, blankgeputzten Soldatenstiefeln der Wachmannschaften herrührten, waren die Schritte fest und und unnachgiebig. Unterbrochen wurde dieses ungleiche Marschkonzert dabei in unregelmäßigen Abständen von dem Geschrei der Wachposten und dem Gebell ihrer Hunde. Hin und wieder knallte auch der eine oder andere Schuß, der die gesamte Häftlingskolonne jedes Mal aufs Neue geschlossen in sich zusammenzucken ließ - wurde damit doch stets der schmerzliche Verlust eines ihres Leidensgenossen verkündet. Auch jetzt peitschte wieder eine jener tödlichen Salven durch die Luft. Willi Krause riß die Augen rasch wieder auf, schaute kurz zum Himmel empor und zählte stumm. Um sich während des Gewaltmarsches wach zu halten, hatte er nämlich bereits irgendwann am ersten Tag damit begonnen, die Schüsse mitzuzählen. Nachdem er gestern bis zum Einbruch der Nacht insgesamt auf 36 kam, war er heute schon bei 23 angelangt. Und der hohe Stand zu dieser Jahreszeit noch recht kraftlosen Sonne verriet ihm, daß es gerade mal erst Mittagszeit war.

Unauffällig blickte Krause zur Seite. Vereinzelte Häuser und Geschäfte säumten rechts wie links ihren Marschweg. Anscheinend hatten sie schon wieder eine Ortschaft erreicht. Ein paar kleine Kinder, die wohl bis eben vor den Häusern auf dem Gehsteig gespielt hatten, wurden rasch von ihren Eltern gepackt und ins Haus geschleppt. Hof- und Haustüren schlossen sich und wurden eilends verriegelt, selbst am hellichten Tag wurden hier und da Jalousien heruntergelassen. Man fürchtete sich vor denen, die da in einem derart fürchterlichen Zustand wie Vieh durch die Straßen getrieben wurden - ebenso wie vor denen, die sie mit versteinerter Miene mit dem Gewehr im Anschlag brüllend vorantrieben. Man war bemüht, auch weiter die Augen zu verschließen, vor dem, was da an Grausamkeiten mit den - unter dem harmlos klingenden Deckmantel der Schutzhaft - über all die vergangenen Jahre konzentriert gelagerten Menschen geschehen war und sich nun auf diesem unmenschlichen Gewaltmarsch weiter fortsetzte. Aber es gab in den durchzogenen Ortschaften auch noch eine andere Art von Menschen, denen die erbärmlichen, bibbernden Gestalten aus Haut und Knochen durchaus Mitleid abzuringen vermochten. Mitleid, das sich sogar in Mut verwandeln konnte - den Mut beispielsweise, mit einem Kanten Brot oder einem Glas Wasser auf einen der Häftlinge zuzulaufen. Die alte Bäuerin, die jenen Mut am Vortag in einem kleinen Dorf aufgebracht hatte, erreichte ihr Ziel allerdings nicht, sondern wurde von einem der Wachposten einfach mit einem Fußtritt zurückgestoßen. Der Brotkanten oder das Wasserglas wurden ihr dabei aus den Händen gerissen und von dem Uniformierten mit einem breiten Grinsen im Gesicht demonstrativ in den Dreck des Straßenrandes geworfen. Willi Krause hatte sich diese Szene fest ins Gedächtnis eingegraben. Denn so bitter es auch war, am Ende mit ausgetrockentem Mund und ausgehungertem Magen mitzuerleben, wie neben einem köstliches, herrlich duftendes Brot und erfrischendes, klares Wasser jämmerlich im Sand verendeten, so gab einem doch allein die mutige Geste dieser einfachen Frau einen ungeheuren, nicht zu unterschätzenden seelischen Auftrieb. Bewies sie doch nur allzu anschaulich, daß auch nach zwölfjähriger Terrorherrschaft in deutschen Landen Mitgefühl und Menschlichkeit trotz allem nie ganz totzukriegen waren.

Willi war noch völlig in dem Gedanken an die Bäuerin und ihre mutige Tat versunken, als ihn plötzlich der Schlag eines Gewehrkolbens mitten auf die bereits mehrfach angeknackste Rippe traf. Neben ihm aber brüllte die verhaßte Stimme des SS-Schergen Trittschlag: "Du verdammter Idiot, hast Du denn keine Augen im Kopf. Träumt hier am hellen Tag vor sich hin! Dir werd ich Beine machen, Du Sauhund!". Und mit einem brutalen Stiefeltritt gegen das linke Schienbein beförderte der Uniformierte den strauchelnden Häftling unsanft nach rechts, zurück in die Kolonne, die vor ihm bereits in eine Nebenstraße des Dorfes einbogen war und dabei direkt auf einen idyllisch gelegenen See zusteuerte. Nur langsam fand der geschwächte Leib Krauses sein verlorenes Gleichgewicht wieder und entging damit um Haaresbreite der Gefahr des Zu-Boden-Fallens. Ebenso langsam aber registrierte sein Hirn, was eigentlich eben gerade mit ihm passiert war. Offensichtlich hatte er, während er so seinen Gedanken nachhing, das Kommando zum Rechtsschwenken völlig überhört. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn - jetzt, da er sich bewußt wurde, wie dicht er in diesem Moment einmal mehr am sicheren Tod vorbeigeschrammt war. Denn sein unbeabschichtigtes Geradeaus-Weiterlaufen und das damit verbundene Ausscheren aus der Marschformation wäre ihm zweifellos als Fluchtversuch ausgelegt und vonseiten der SS-Bewacher umgehend mit einem gezielten Genickschuß beantwortet worden.

Inzwischen war der Häftlingszug am Ufer des Sees angelangt. SS-Offizier Trittschlag gab das Kommando zum Halten und stellte sich dann mitsamt seinem wohlgenährten uniformierten Speckbauch breitbeinig vor die sichtlich erschöpften Häftlinge: "So, Ihr Bastarde, dank meiner unendlichen Güte habt Ihr jetzt die Gelegenheit, Euch mal so richtig sattzusaufen! Ich geb Euch fünf Minuten! Also macht hin!". Etwas zaghaft lösten die ausgemärgelten Gestalten ihre Marschformation auf und knieten sich Sekunden später dicht an dicht am sandigen Seeufer nieder. Sie versenkten ihre müden Gesichter im erfrischend kühlen Naß. Willi Krause aber kniete ganz links außen, wo auch die SS-Schergen ihre Hunde tränkten und zugleich ihre - vom ständigen Brüllen rauhgewordenen - Kehlen mit in ihren Feldflaschen mitgeführtem exquisiten französischem Rotwein spülten. Krause unterdess vergrub seine Hände tief im Seewasser, aus dessen Fülle er schöpfte und trank. Dabei schaute er auf die klare, zartblaue Wasseroberfläche, die vor ihm nun - infolge seiner Berührung - leichte Wellen schlug. Das strahlende Licht der Mittagssonne aber brach sich in dem Wellenspiel und blendete für einen Moment seine Augen, so daß er den Blick abwendte und zum anderen Seeufer schweifen ließ. Aus dem angrenzenden Waldstück ragte dort ein hoher Wasserturm heraus, der Willi Krause merkwürdig vertraut vorkam. Und wie er noch so auf den Turm starrte, da traf es ihn wie ein Blitzschlag. Aber natürlich ... Die Ortschaft, in der sie sich befanden, war zweifellos das Dörfchen Beetz, der Nachbarort seines Geburtsdorfes Sommerfeld. Und am Ufer des Beetzer Sees, vor dem er hier kniete, hatte er schon zu seiner Kinderzeit so manchen unbeschwerten sommerlichen Nachmittag verbracht. Zuletzt aber war er hier am 2. Juli 1932 gewesen, um auf Urlaub bei seinen Großeltern die wiederaufgetretene Verschwartung seines linken Lungenflügels auszukurieren. Jener seltenen Erkrankung, die schon seit seiner Kindheit immer mal wieder auftrat und ihm das Atmen erschwerte, verdankte er es auch, daß man ihn noch bis zum Zeitpunkt seiner Festnahme Ende 1944 trotz seiner 30 Lenze nicht zum Wehrdienst herangezogen hatte.

Und er verdankte seinem Lungenleiden sogar noch mehr, denn an jenem zweiten Julitag des Jahres 1932 hatte er sich hier am Ufer mit geschlossenen Augen im Gras liegend gesonnt, als ein fremder Fuß schmerzhaft gegen den seinen trat. Er hatte ruckartig die Augen geöffnet, wobei er unmittelbar in die strahlende Sonne schaute, vor der im selben Moment die Silhouette eines schlanken, weiblichen Wesens ins Straucheln geriet und dann direkt auf ihm zu liegen kam. Geistesgegenwärtig hatte er sich mit seinen muskulösen Armen aus dem körperlichen Übergriff des zarten Geschöpfes befreit, wozu er empört ausrief: "Hoppla, junges Fräulein, nun mal nicht so stürmisch mit den jungen Pferden!". Das gefallene Mädchen, dessen sommersproßiges Gesicht mit der Bubikopffrisur in dieser Sekunde deutlich über ihm erschien, aber hatte nur recht keck entgegnet: "Ist ja wohl eine unverschämte Frechheit, mich als Pferd zu bezeichnen. Und damit Du das auch gleich weißt: Ich heiße Luise, Du oller Esel, Du!". In diesem Augenblick trafen sich die Blicke der beiden jungen Leute, und es war um sie geschehen. Das Pferd Luise und der Esel Willi kamen recht rasch angeregt ins Plaudern, man scherzte und verbrachte schließlich dicht nebeneinander liegend noch einen herrlich verträumten Nachmittag miteinander. Irgendwann machten sich Willis Fingerspitzen auf dem grünen Gras auf die Suche nach denen Luises und wurden dabei rasch fündig. Wie es sich für ein anständiges Mädel gehörte, entzog sich Luise dem forschen Vordringen des Jünglings zunächst, nahm aber kurz darauf ihrerseits die unterbrochene Kontaktaufnahme wieder auf. Hand in Hand spazierten die Beiden schließlich im Sonnenuntergang am Seeufer entlang, bevor sich - mit einem scheuen Gute-Nacht-Kuß besiegelt - ihre Wege bei Anbruch der Dunkelheit fürs Erste trennten ...

Willi Krause hatte angesichts jener angenehmen Erinnerung für einen Augenblick alles um sich herum vergessen und ließ sich völlig unbekümmert rücklings ins Gras des Seeufers fallen. Dabei blickte er zur Seite, wo die Silhouette eines uniformierten Mannes neben einem Hund kniete und geradezu liebevoll über dessen seidig glänzendes Fell streichelte. Der Kopf des Uniformierten aber drehte sich langsam in Willi Krauses Richtung. Dann schnellte der Mann, der niemand anders als SS-Mann Trittschlag war, plötzlich wie eine abschußbereite Rakete nach oben und brüllte: "Was gibts denn da zu glotzen? Da hört sich einem doch alles auf, suhlt sich das Dreckschwein hier doch saufrech im Gras und glotzt mich stundenlang mit seinen dämlichen Schweinsäuglein an! Bist wohl am Ende gar kein Politischer, sondern einer von diesen perversen Hinterladern, wie! Mann, sieh bloß zu, daß Du Land gewinnst! Und überhaupt ist das gemütliche Picknick hier jetzt zuende! Na los, alles in Marschordnung antreten, aber dalli!". Mühsam erhoben sich die knienden Häftlinge vom Ufer des Sees und nahmen - so rasch es ihnen eben möglich war - auf dem nahegelegenen Sandweg Aufstellung. Und unter dem Gebrüll, den Tritten und den Schlägen ihrer Bewacher setzten sie schon wenige Augenblicke später ihren Marsch in Richtung Norden fort.

Als sie das Dorf Beetz schließlich schon wieder ein Weilchen hinter sich gelassen hatten und sich - umgeben von dichten Wäldern - langsamen Schrittes auf die nächste Ortschaft zuschleppten, bemerkte Willi Krause in seinem Rücken auf einmal ein mehrfaches, leises Räuspern. Dem Räuspern folgte ein Zischen, dem Zischen ein Flüstern. Das Flüstern aber verkündete: "Grüß Dich, Willi! Ich bin's, der Franz, Franz Eifrig!". Willi drehte sich vorsichtig um und lächelte. Es tat gut, einen Freund wie Franz in seiner Nähe zu wissen. Schließlich verdankte er ihm doch die Nachricht, daß seine Luise und seine kleine Kathrin noch am Leben waren - und damit das, was ihm Tag für Tag den Mut zum Durchhalten gab. Flüsternd erkundigte sich Willi nach dem Befinden seines Freundes. Der aber seufzte nur: "Ach, mir geht's gar nicht gut! Ich kann nicht mehr, Willi! Ich bin so müde! Ich will, daß endlich Schluß ist mit dem allen hier!". Willis bis dato recht erschöpft wirkenden Gesichtsausdruck befiel mit einem Male etwas Kämpferisches, während er raunte: "Franz, Junge! Es ist ja bald soweit! Du wirst doch jetzt nicht schlappmachen, wo wir das Ziel schon ganz nah vor Augen haben?!". Franz aber seufzte nur: "Was denn für ein Ziel? Ich will schlafen, einfach nur ausruhen und schlafen! Das ist mein einziges Ziel". Willi spürte, wie ernst es um Franz bestellt war. Sein Leidensgenosse war im Begriff, sich und das Leben aufzugeben. Das aber wollte Willi Krause auf keinen Fall zulassen, und so flüsterte er ein wenig barsch: "Nichts da! Los, Kamerad! Sing! Singen hilft, Du wirst sehen! Na los, unser heimliches Lagerlied. Ich fang an ... 'Wir schreiten fest im gleichen Schritt, wir trotzen Not und Sorgen' ...". Und Franz in seinem Rücken ergänzte leise: "... 'denn in uns zieht die Hoffnung mit, auf Freiheit und das Morgen' ...". Willi nickte zufrieden: "Na siehste, Franzmann, geht doch! Und gleich noch eine Strophe, weil's so schön ist ... 'Das Leben lockt hinter Drahtverhau, wir möchten's mit Händen greifen' ...". Und wieder stimmte Franz leise, am Ende kaum noch hörbar ein: "... 'dann werden unsre Kehlen rauh und die Gedanken schweif' ...".

Willi lauschte nervös, dann wisperte er: "In Ordnung, Franz, vergiß das Singen! Denk stattdessen einfach mal an was ganz Schönes, an etwas, das Du machen willst, wenn das alles hier endlich vorbei ist". Die schon verstummt geglaubte Stimme in seinem Rücken wurde mit einem Male doch wieder kräftiger und sprach: "Weißt Du, ich such mir eine Frau, eine wie diese Barbara. Dann fahr ich sonntags mit ihr ins Grüne raus. Und da geh ich dann stundenlang mit ihr spazieren und pflück ihr einen riesengroßen Strauß Schneeglöckchen. Genau solche wie das da, das da neben dem Baum dort ...". Willi nickte: "Ja, Franz, genau! Jetzt hast Du es endlich begriffen! Durchhalten mußt Du, nur noch ein kleines bißchen. Und dann kannst Du all das in die Tat umsetzen, in einem neuen, besseren Deutschland, ganz ohne Nazis und ohne Lager". Willis Schritt wurde mit einem Male wieder fester, dachte doch nun auch er wieder an all das, was er nach seiner bevorstehenden Befreiung mit seinen beiden Mädchen unternehmen würde. Da ließ ihn plötzlich ein Schuß ganz in seiner unmittelbaren Nähe zusammenzucken. Einen Moment lang saß Willi Krause der Schreck tief in den Knochen. Doch als er dann registrierte, daß die tödliche Salve nicht ihm gegolten hatte, fand er rasch seinen Mut und die Sprache wieder und flüsterte nach hinten: "Mensch, Franz, da hat es schon wieder so einen armen Kerl erwischt, der sich aufgegeben hat. Aber uns, uns Beiden kann das jetzt nicht mehr passieren. Da hab ich doch recht, oder?". Er wartete gespannt auf eine Antwort, doch die blieb aus. Nicht einmal ein Flüstern, ein Zischen oder auch nur das geringste Räuspern des Freundes waren zu hören. Vorsichtig drehte Willi seinen Kopf ein wenig nach hinten, doch Franz Eifrig war nicht mehr da. Er lag mit durchschossenem Kopf etwa hundert Meter hinter der Kolonne am Straßenrand - ein kleines, zartes Schneeglöckchen liebevoll mit seiner Hand umklammernd ...

[Wird fortgesetzt]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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