INSPEKTOR SVENSSON: FLITTERWOCHEN-TAGEBUCH
Eintrag 6
24. September 2009. München - Tag 1. Dritter Akt.
Während wir so gemeinsam die Straße entlangliefen, erzählte ich Anne-Marie Septus die ganze Beziehungsvorgeschichte von Yelena und mir, und sie offenbarte mir im Gegenzug ihre halbe Lebensgeschichte. So etwas wie zwischen ihr und mir gab es nur bei einer Handvoll Menschen auf der ganzen Welt. Trotz unserer erst kurzen Bekanntschaft war da sofort das Gefühl einer engen Vertrautheit, wie sie sonst nur langjährige gute Bekannte oder ganz enge Blutsverwandte zu haben pflegen und wie man sie wohl mit Fug und Recht auch als Seelenverwandtschaft bezeichnen konnte. Der lange Nachhauseweg führte uns nun durch breite Straßen mit größeren und kleineren Häusern und ein paar kleinen Geschäften. Hier und da gab es eine U-Bahnstation oder eine Bushaltestelle. Als wir zum wiederholten Male an einer jener Haltestellen vorbeikamen, fragte ich Anne-Marie, warum sie eigentlich vom Friedhof aus kein öffentliches Verkehrsmittel nähme, was doch sicher viel bequemer sei als der bescherliche Fußmarsch, worauf sie mir mild zulächelnd antwortete: "Ich bin zwar schon ein wenig betagt, gehöre aber noch lang nicht zum alten Eisen. So ein hübscher kleiner Spaziergang jeden Tag, das hält den Körper in Schwung. Und man kann nebenbei noch jede Menge frische Luft tanken. Ich bin nämlich eigentlich gar kein Stadtmensch. Gebürtig stamm ich vielmehr sogar aus der Wachau in Niederösterreich, warum mein Herrmännchen mich auch immer scherzhaft sein Marie-Andl aus dem Wachauer Landl genannt hat. Und zu guter Letzt, um wieder zu den Gründen für meine Bevorzugung eines Fußmarsches zurückzukehren, sind bei uns in München die Öffentlichen auch nicht grad ganz billig".
Wieder liefen wir ein Weilchen und plauderten angeregt über Gott und die Welt, als Anne-Marie plötzlich vor einem kleinen Laden Halt machte und dann bedächtig die drei kleinen Stufen beschritt, die zu seinem Innern führten. Über der Tür des Ladens hing ein weißes Schild, auf dem in herrlich verschnörkelter blauer Schrift zu lesen war: "Zeitschriften, Getränke, Süß- und Tabakwaren, Inhaber: Florentina & Seppl Huth". Yelena und ich waren zunächst unschlüssig vor dem Laden stehengeblieben, während Anne-Marie schon oben auf dem Treppchen angekommen war. Dort drehte sie sich zu uns um und winkte uns aufmunternd zu, wobei sie auf ein kleines Schild an der Tür verwies, welches sowohl symbolisch als auch schwarz auf weiß jede Art bellender Vierbeiner zum Draußenbleiben verurteilte. Und mit einem schelmischen Augenzwinkern meinte sie: "Na, Ihr seid doch wohl keine Hunde, oder?! Also kommt schon mit rein, ihr Zwei!". Im Ladeninnern war es aufgrund der nur spärlich vorhandenen und zudem noch mit Zeitungsständern und Regalen aller Art zugestellten Fenster ein wenig schummrig, was dem Geschäft aber zugleich auch eine anheimelnde Atmosphäre verlieh, ebenso wie der dezente Duft, welcher - wie nicht anders zu erwarten - aus einer Mischung von Tabak, gemahlem Bohnenkaffee, sauren Fruchtdrops und frischer Druckerschwärze bestand. Yelena und ich schauten uns ein wenig um, während Anne-Marie mit ausgebreiteten Armen verkündete: "Ja, da wären wir also, bei meinem Zeitungstandler - im Hochdeutschen auch Zeitschriftenhändler genannt. Da staunt Ihr, was?!". Und ob wir staunten! Ich vor allem über das breitgefächerte Angebot an Tabakwaren - welches vom Schnupftabak und Kautabak über Zigaretten und Zigarren bis hin zum Tabak für Pfeifen reichte und somit alles im Angebot hatte, vor dem die EU-Gesundheitsminister unter Todesandrohung seit Jahren mehr oder minder erfolglos warnten. Anne-Marie hatte an derart starken Tobak momentan wenig Interesse. Sie angelte sich stattdessen zielsicher einen "Merkur" und legte ihn der zünftig in ein enges Trachtenkleid gehüllten Dame auf die Theke, um in ihrer Geldbörse das passende Kleingeld zu suchen. Dabei sah sie sich noch einmal nach Yelena und mir um und fragte: "Hättet Ihr vielleicht noch Lust auf einen heiße Zitrone. Das löscht nicht nur den Durst, sondern beugt bei dem naßkalten Wetter draußen in den meisten Fällen auch noch einer handfesten Erkältung vor!". Diesem Argument konnten weder Yelena noch ich mich wirklich verschließen, und so nickten wir einträchtig, worauf unsere neue, alte Bekannte der Frau hinter dem Thresen zuzwinkerte: "Na dann, Frau Rehbein, noch drei Tassen heiße Zitrone, wenns recht ist!". Die Verkäuferin aber nickte freundlich und erwiderte kurz und bündig: "Paßt scho! Des macht dann 4 Euro und 21 Cent", worauf sie Anne-Marie und uns sogleich drei Tässchen aus feinstem Porzellan mit zitronig-sauer riechendem, dampfenden Inhalt auf die Glasplatte der Theke stellte.
Wir nahmen direkt vor unseren Tassen Aufstellung. Und während Anne-Marie neben uns immer noch ihr Portemonnaie auf der Suche nach einer ausreichenden Menge Klimpergeld durchforschte, betraten wie aus dem Nichts vier Männer mit schwarzgrauen Anzügen das Geschäft. Alle hatten blaßgraue, ja geradezu farblos erscheinende Gesichter und trugen Pomade in ihrem streng zum Seitenscheitel gekämmten Haar. Lediglich bei dem jüngsten der dem ersten Anschein nach reserviert-freundlich erscheinenden Herren hatte sich eine einzelne Haarsträhne gelöst und tiefer ins Gesicht verirrt. Der älteste der Männer trug zusätzlich noch einen altmodischen grauen Filzhut auf dem Kopf und nicht minder unmoderne Gummi-Überschuhe über seinen schwarzen Lackschuhen. Er mußte wohl aus dem Augenwinkel heraus bemerkt haben, daß ich ihm einen Moment lang erstaunt auf eben jenen gummierten Schuhüberzug starrte, denn mit einer lässigen Drehung kehrte er sich zu mir um und bemerkte: "Tja, meine Frau Franziska glaubt halt immer gleich, es könnte Regen geben. Da kann Mann nichts machen!". Dann drehte er sich wieder zurück und richtete seinen Blick auf die Ladentheke, wo einer seiner beiden mittelalten Kollegen mit einer Pfeife in der Hand Anne-Marie sacht auf die Schulter klopfte und sie fragte, ob er vielleicht mal vor dürfe, man habe es ziemlich eilig. Anne-Marie trat mit freundlichem Lächeln höflich einen Schritt zur Seite und der Mann im gleichen Atemzug einen nach vorn, so daß er direkt vor der gläsernen Theke und der Verkäuferin zu stehen kam. Die gute Frau hinter dem Tresen aber sprach: "Grüß Gott, die Herren Kriminalisten! Was darfs denn heute sein?". Der Mann an der Theke drehte sich zu dem Filzhut um und fragte nun seinerseits: "Chef, die Rehbein fragt, was es heute bei uns sein darf". Der Angesprochene aber strich sich kurz nachdenklich mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand über die wohlbehütete Stirn und meinte dann: "Na, Robert, ich würde sagen, wir nehmen vier extrastarke Kaffee und eine Packung Zigaretten. Ach nein, laß uns lieber gleich eine ganze Stange Zigaretten kaufen, das wird heute gewiß noch ein langer Arbeitstag". Jener als Robert angeredete Herr wandte sich nun wieder der Dame hinter der Theke zu und sprach: "Sie habens ja gehört, Rehbeinchen! Vier Kaffee extrastark und eine Stange Zigaretten. Na, Sie kennen ja unsere bevorzugte Sorte, nicht wahr?! Ach und für mich bitte noch eine extragroße Packung Pfeifentabak. Sie hören ja, der Kommissar sagt, vor uns liegt ein langer Tag!". Mein Blick haftete während der ganzen, etwas ungewöhnlich anmutenden Konversation an dem Filzhut, den die anderen als den "Chef" und den "Kommissar" bezeichneten, und der die ganze Zeit über seine nähere Umgebung sowie alle Anwesenden gleichzeitig aus dem Augenwinkel heraus mit prüfenden Blicken zu betrachten schien. Man spürte ihm dabei sofort ab, daß er mit Sicherheit jene Gabe besaß, die einen guten Kriminalisten auszeichnete - nämlich, einen Menschen blitzschnell und dennoch präzise einzuschätzen. Frau Rehbein reichte dem Mann an der Theke inzwischen die Tassen mit dem herrlich duftenden Kaffee herüber, die dieser nacheinander auf einem nahegelegenen runden Stehtisch abstellte, um den sich dann auch die restlichen drei Männer einfanden.
Langsam und genüßlich tranken die Vier schließlich ihr extrastark koffeinhaltiges Heißgetränk. Dabei schwärmten sie nach jedem Schluck abwechselnd von dem vollen Aroma, das für den verwöhnten kriminalistischen Gaumen eine wahre Ode an den Genuß sei. Schließlich waren die Tassen der Herren restlos geleert, worauf die Vier nun immer wieder auffällig zu uns herüberschauten und dabei aufgeregt miteinander tuschelten. Schließlich stieß der Chef dem zweiten seiner beiden mittelalten Kollegen in die Seite und sprach: "Nun frag sie doch schon, Walter! Die netten Herrschaften werden uns schon nicht gleich den Kopf abreißen, wenn wir ganz höflich um ihre Erlaubnis bitten". Der Angesprochene warf noch einmal einen Blick auf den Kommissar und sagte dann schulterzuckend: "Ja, wenn Sie meinen Chef!". An uns gewandt aber stellte er die Frage: "Entschuldigen Sie, hätten Sie etwas dagegen, wenn wir hier rauchen? Wir wissen natürlich, daß es heutzutage in der Öffentlichkeit nicht mehr so gern gesehen ist, aber was das Rauchen angeht, so sind wir leider echte Serientäter". Da sich die beiden Frauen zu meiner Rechten und Linken zitroneschlürfend in Schweigen hüllten, ergriff ich die Gelegenheit und das Wort und erwiderte schmunzelnd: "Ein kleines Laster hat doch wohl jeder von uns. Rauchen Sie nur, mich stört es nicht! Und ich denke, die Damen an meiner Seite haben sicher auch nichts dagegen, oder?!". Sowohl Yelena als auch Anne-Marie schüttelten eifrig die Köpfe, und so kam es, daß die vier gestandenen Mannsbilder am Nebentisch eine Packung von der Stange - die sie eben erstanden hatten - aufrissen, um sich sodann je eine Zigarette in den Mundwinkel zu schieben. Einzig und allein der Mann mit der Pfeife verzichtete auf die Dekoration seiner Gesichtszüge mit so einem Glimmstengel. Stattdessen gab er den anderen mit einem silbernen Feuerzeug aus seiner Anzugjackentasche Feuer und stopfte sich anschließend mit einer Prise von dem gekauften Tabak sein Pfeifchen, welches er ebenfalls anzündete. Binnen weniger Minuten hatten die Kriminalbeamten die ganze Zeitschiftenbude derart vollgepafft, daß man sie nun eher als Räucherkammer bezeichnen konnte. Blauer Dunst durchzog in großen nebligen Schwaden den gesamten Raum, so daß man kaum noch etwas erkennen konnte und sich an den berühmtberüchtigten Londoner Nebel erinnert fühlte. Draußen von der Straße her aber war plötzlich unterschwellig ein schriller Signalton zu vernehmen. Silhouettenhaft sah ich den Mann, der von seinem Chef Walter genannt worden war, hinaus zum einem direkt vor dem Laden abgestellten Wagen rennen, von wo er schon eine Minute später wieder zurückkehrte. Atemlos vermeldete er seinen am Stehtisch wartenden Kollegen: "Helga war dran. Sie lag ja in Ihrem Auftrag, Chef, im Büro auf der Lauer. Und nun gibt es aus der Rechtsmedizin anscheinend neue Erkenntnisse in der Mordsache Siska". Der Chef räusperte sich kurz, dann raunte er dem jüngsten seiner Männerriege - welcher gerade erst zu Ende geraucht hatte - zu: "Harry, lauf doch schonmal zum Wagen und starte den Motor!". Mit wenigen raschen Schritten war Harry aus den Laden heraus und hatte das Auto abfahrbereit gemacht. Der Kommissar aber wandte sich nun wieder seinen beiden verbliebenen Männern zu: "Ahc, und Robert und Walter, beeilt Euch doch bitte!". Damit drückte der Chef seine Zigarette im vor ihm stehenden Aschenbecher aus. Robert tat es ihm gleich, und auch Walter klopfte seine Pfeife am Aschenbecherrand aus. Dann liefen die Drei gemeinsam bedächtigen Schrittes ins Freie. Einzig Walter kehrte einen Augenblick später noch einmal schulterzuckend in den Laden zurück und bekannte der Dame hinterm Tresen reumütig: "Na das wär ja was geworden, was Rehbeinchen?! Da hätten die Herren von der Mordkommission im Eifer des Gefechts doch beinahe die Zeche geprellt. Was machts denn?". Frau Rehbein überlegte kurz: "Vier Kaffee extrastark ohne alles, eine Stange Zigaretten und eine King-Size-Packung Pfeifentabak ... 24 Euro und 1 Cent". Der Kriminalbeamte aber zog lächelnd zwei Geldscheine aus der Anzughose heraus und überreichte sie der Verkäuferin mit den Worten: "Einmal 20 und einmal 5. Stimmt so!". Und ein letztes Mal in die Runde blickend, ergänzte er: "Servus, die Damen und der Herr! Entschuldigen Sie bitte unser fluchtartiges Aufbrechen. Aber wenn der Leichen-Keller ruft, dann gibt es in der Folge immer viel zu tun für uns". Damit war er auch schon wieder entschwunden. Draußen am Straßenrand aber klappte Sekunden später eine Autotür, und der dunkelgraue Wagen der vierköpfigen Kriminalistentruppe rauschte konstant mit vorschriftsmäßigen 50 Stundenkilometern davon.
Anne-Marie Septus, Yelena und ich leerten die letzten Schlucke unserer inzwischen nicht mehr ganz so heißen Zitrone. Dann verabschiedeten wir uns von der Verkäuferin mit einem abschließenden "Grüß Gott". Der Nachmittag neigte sich langsam seinem Ende zu, und es schickte sich an, Abend zu werden, als wir wieder auf die Straße zurückkehrten. Yelena und ich nahmen Anne-Marie in unsere Mitte und hakten uns bei ihr ein. Gemeinsam stiefelten wir erneut an unzähligen kleinen und großen Häusern vorbei und gelangten schließlich an einen größeren Platz, dessen sich kreuzende Straßen stark vom Verkehr frequentiert waren. Der Platz trug den Namen Luise Kiesselbachs, einer Münchner Politikerin und Frauenrechtlerin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu unserer Rechten bemerkte ich dabei ein großes, mehrstöckiges Gebäude, über dessen Eingangsportal ein breiter Schriftzug die derzeitige Bestimmung des Gebäudes preisgab: "Städtisches Altenheim Sankt Josef". Ich blieb einen Augenblick lang stehen und beobachtete eine ältere Frau, die sich - einen Mann etwa gleichen Alters im Rollstuhl vor sich her schiebend - auf dem Weg in das Gebäude befand. Anne-Marie Septus seufzte: "Ja, so hab ich meinen Herrmann auch immer herumgefahren. Am liebsten sind wir im nahegelegenen Westpark spazierengefahren und haben dort die Schwäne und Enten beobachtet oder uns die wunderschönen Blumen angeschaut. Heut geh ich oft allein dort spazieren, aber zu zweit war es halt viel schöner. Ach, er fehlt mir so!". Ein Tränchen kullerte ihre Wange herab und fiel von dort auf den Gehsteig. Ich aber sagte, an meine Yelena gerichtet: "Weißt Du, mein Schatz, irgendwann ereilt vielleicht auch mich so ein Schicksal, daß ich professioneller Pflege bedarf. Man spricht zwar nicht allzugern darüber, weil es einem viel leichter erscheint, diese Möglichkeit zu verdrängen. Aber wichtig ist es schon, wenn man bedenkt, wie schnell so etwas gehen kann. Also, sollte bei mir solch ein Fall eintreten, dann möchte ich nicht, daß Du Dich aus falschverstandenem Pflichtgefühl mir gegenüber ganz allein mit mir abmühst. Ich hab nämlich gar keine Angst davor, meine letzten Jahre in einem Heim zu verbringen, solang ich Dich dabei an meiner Seite weiß. Das solltest Du einfach wissen, nur für den Fall der Fälle!". Yelena nickte: "Gut, Luki! Ich werden Dein Wunsch zu mein Herz nehmen, auch wenn ich hoffen, es niemals so kommen werden und wir noch leben lange ohne fremdes Hilfe zusammen". Anne-Marie, die in unserer Mitte unser Gespräch interessiert verfolgt hatte, zwinkerte uns zu und sprach: "Recht tut Ihr daran, Euch mit diesem ernsten Thema beizeiten auseinanderzusetzen. Da weiß man wenigstens schonmal, wie der andere darüber denkt, und kann dementsprechend handeln, wenn es plötzlich zum Äußersten kommen sollte". Damit setzten wir unseren Weg fort, der uns nun noch durch ein paar Seitenstraßen führte, bevor wir endlich an dem kleinen Eigenheim von Anne-Marie Septus anlangten. Sie aber zog rasch ihr Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete uns erst das Tor zu ihrer Einfahrt und dann die Haustür. Eh wir es uns versahen, standen wir in ihrem Flur, von wo aus sie uns in ihr behaglich eingerichtetes Wohnstübchen einließ und uns platz zu nehmen bat. Während wir uns zögernd auf ihrem Sofa niederließen, war sie schon wieder in den Flur entschwunden, wo sie zu telefonieren schien. Nach ein paar Minuten war sie wieder bei uns und verkündete: "Also, meine Lieben, Ihr seid ja sicher - wie ich auch - schon ein wenig hungrig. Nur keine falsche Bescheidenheit, das Knurren Eurer Mägen auf dem Weg hierher hat Euch eh schon mehrfach verraten. Leider kann ich Euch selbst nichts anbieten, da ich heut gar nicht zum Einkaufen kam und mein Kühlschrank fast leer ist. Aber zum Glück hab ich da eine befreundete Familie, die mich heut abend eh zu sich eingeladen hat. Mit der Hausherrin hab ich eben telefoniert, und sie dehnt - großzügig und aufgeschlossen, wie sie nunmal ist - die Einladung zum Abendmahl auf Euch mit aus. Verschwenden wir also keine Zeit und machen uns auf den Weg! Es ist auch gar nicht weit, nur ein paar Schritte. Quasi gleich ums Eck!".
Ebenso rasch wie wir vor wenigen Minuten nach drinnen gelangt waren, standen wir auch schon wieder draußen und stapften im Dämmerlicht die Straße entlang. Und tatsächlich waren es wohl kaum mehr als hundert Meter, und vor uns erhob sich ein dreistöckiges Häuschen mit Garten, an dessen Pforte schon eine freundliche Dame etwa in meinem Alter nach uns Ausschau hielt. Sie begrüßte erst Anne-Marie mit einer innigen Umarmung und dann uns mit einem kräftigen Händedruck, wobei sie sich uns Beiden vorstellte: "Herzlich willkommen! Oder sollte ich lieber Welcome sagen?! Ich bin die Frau Käsler. Kommen Sie doch bitte rein! Und Du natürlich auch Annemie!". Damit führte sie uns nach drinnen durch ihren Flur, wo wir unsere Mäntel und Jacken ablegen durften, direkt in die kleine Küche hinein, aus der es schon verführerisch nach gebratenem Fleisch und Backwerk duftete. In einer schmalen Sitzecke hockte vorm Küchentisch eine junge Frau, die uns bei unserem Eintreffen einladend zulächelte. Mir fiel dabei sofort das Strahlen ihrer Augen auf, das etwas unheimlich Schönes und Gewinnendes an sich hatte. Die Hausherrin aber vermeldete aus dem Hintergrund: "Das ist übrigens meine Tochter Sandra, die oben unter dem Dach lebt. Ich für meinen Teil bewohne das Erdgeschoß, und mittendrin im zweiten Stock lebt mein Sohn Alex. Der ist allerdings heute abend nicht da, weil er sich zweimal wöchentlich in der Innenstadt im Fitneßstudio - oder wie er sagt, in der Muckibude - verausgabt. Naja, was solls, da sind wir Frauen halt unter uns, von dem Herrn Lukas - wenn ich mir den Namen beim Anruf meiner Freundin Annemie recht verstanden hab - einmal abgesehen". Und an meine Frau gewandt, ergänzte sie: "Sie müssen nämlich wissen, werte Frau Yelena - der Name ist doch richtig?! - uns drei Frauen, also Annemie, Sandra und mich verbindet neben der unmittelbaren Nachbarschaft zueinander auch noch ein schweres schicksalhaftes Los. Wir sind allesamt viel zu früh Witwen geworden. So bitter das auch klingen mag und letztlich auch ist, so sehr versuchen wir doch inständig, dennoch gemeinsam das Beste aus unserer Situation und unserem Leben zu machen. Wir unternehmen viel zusammen, tauschen uns aus, feiern gemeinsam und helfen uns gegenseitig. Der schmerzliche Verlust unserer Männer hat uns letzten Endes sogar noch fester zusammengeschweißt. Aber genug geredet fürs Erste, sonst brennt mir unser Essen noch an! Und das wär ehrlich gesagt schad' drum. Wenn sich die Damen und der Herr schon einmal setzen möchten?!". Anne-Marie, Yelena und ich mochten. Und so nahmen auf der Ecksitzbank neben der Tochter des Hauses platz - Yelena und ich zu ihrer Rechten, Anne-Marie zur Linken. Frau Käsler machte sich derweil am Herd zu schaffen, aus dem sie wenige Augenblicke später ein eckiges, gebratenes Etwas hervorzauberte, das mich sofort an ein Kastenbrot erinnerte und einen herrlich Geruch in der gesamten Küche verbreitete. Dazu verkündete sie mit stolzgeschwellter Brust: "Das ist mein Leberkas. Außen braun und knusprig, und innen ganz wunderbar weich und saftig - halt so, wie er sein soll". Sie stellte ihn vor uns auf den Tisch und reichte ihrer Tochter dazu ein großes Messer aus dem Besteckkasten, welches diese anschließend reihum an einen jeden der Anwesenden weitergab. So konnte sich jeder von uns - wie Sandra es vormachte - eine Scheibe von der Kochkunst ihrer Frau Mama abschneiden. Die war derweil damit beschäftigt, ein handgearbeitetes Körbchen mit Laugenbrezeln auf den Küchentisch zu stellen. Dazu reichte sie auch noch ein kleines Gläschen Senf, der etwas grobköring anmutete. Zu Trinken bot sie uns wahlweise Weißbier, Cola oder stilles Wasser an - wobei letzteres in den kommenden Stunden auch schon das einzige sein sollte, was an dieser reichhaltig gedeckten Tafel still blieb. Die Hausherrin setzte sich zu uns, und wir langten allesamt ordentlich zu. Wobei Yelena und ich nach dem Bestreichen des gebackenen Leberkäses mit dem seltsamen Körnersenf erstaunt feststellten, daß dieser süß schmeckte. Süßer Senf?! Davon hatten wir bis dato noch nie etwas gehört. Und doch tat diese ungewöhnliche Beigabe dem Geschmack des Leberkäses keinen Abbruch - im Gegenteil: der süße Senf setzte dem ganzen Mahl sozusagen die bayrische Krone auf. Schon während des Essens hatten wir munter zu plaudern begonnen, wobei ich noch einmal die bisherigen Erlebnisse auf unserer Reise Revue passieren ließ und vor unserem geistigen Auge in den prächtigsten Farben die zukünftigen Ziele unserer Flitterwochen-Welttournee ausmalte. Frau Käsler, Sandra und Anne-Marie lauschten gespannt und erzählten dann aus ihrem bisherigen Leben, das an vielen Stellen alles andere als leicht gewesen sein mußte. Dennoch strahlten sie dabei allesamt eine tiefe Lebensfreude und einen unheimlich mutmachenden Optimismus aus. Tochter Sandra berichtete außerdem von den vielen Reisen, die sie einst mit ihrem Mann unternommen hatte, bevor eine schwere Erkrankung ihn jäh aus ihrer Mitte herausgerissen hatte. Ich verstand dabei ihren Verlust nur allzugut, wurde ich durch ihre zu Herzen gehende Schilderung doch wieder an den plötzlichen Verlust meiner Eltern in den Tagen meiner Kindheit erinnert.
Mutter Käsler sah, daß unser bislang so angeregtes Gespräch von der Erinnerung an die leidvollen Momente unserer Vergangenheiten überschattet zu werden drohte, und hielt es daher für nötig, das Ruder gesprächstechnisch an sich zu reißen, um dessen Kurs zu verändern. Und so fragte sie Yelena und mich, ihr bisheriges tadelloses Hochdeutsch für einen Moment dezent über Bord werfend: "So, Ihr seids nun also das erste Mal bei uns im Freistaat, gell?! Wo habts eigentlich Euer Reisegepäck? Und habts denn schon an Eure Übernachtung gedacht, jetzt, wo's draußen scho anfängt recht dumpa und kalt zu werden?". Nun, das waren ja gleich drei Fragen auf einmal. Und ich versuchte gleich einmal, sie - so gut es ging - in genau dieser Reihenfolge zu beantworten: "Also, erstens ... Ja, sind wir! ... Zweitens ... In einem Schließfach im Hauptbahnhof ... und drittens ... nein, haben wir ehrlich gesagt nicht!". Man spürte förmlich, wie sich Frau Käsler in ihrem Kopf mühte, meine Antworten wieder den ihnen entstprechenden Fragen zuzuordnen, dann schlug sie mit der flachen Hand auf den Tisch und sprach: "Herrschaftszeiten, diese Touris! Machen sich um nichts einen Kopf. Aber laßts mal, des schaffen mir scho! Ich nehm das jetzt mal in meine organisatorisch nicht ganz unbegabten Hände. Also, die Frau Yelena bleibt hier bei meiner Sandy und der Annemie, und der Herr Lukas begleitet mich im Auto zum Bahnhof, das Gepäck abholen, wenn's Ihnen recht is. Dabei machen wir noch einen Umweg über die Pension 'Liesl'. Da zur Zeit bei uns Wiesnzeit ist, dürften die zwar eigentlich gnadenlos ausgebucht sein, aber ich kenn ja zum Glück die Wirtsleut ganz gut. Und da findet sich dann bestimmt noch ein kleines Kammerl. Und da Ihr Zwoa ja noch ganz frisch verheiratet seids, habts gewiß nix dagegen, wenns dann ein wenig enger zugeht da herinnen, gell?!". Sie zwinkerte Yelena vielsagend zu, und die zwinkerte kaum weniger sagend zurück. Ich aber schaute wohl ein wenig verdutzt, so daß sie schulterzuckend ergänzte: "Naja, man war ja schließlich auch mal jung! So, und nun auf, junger Mann! Es gibt viel zu tun, packen wir's an!". Die Art, wie sie das sagte, hatte so etwas ungeheuer Mitreißendes, daß ich mich dem einfach nicht entziehen konnte. Ruckzuck stand ich im Flur, hatte meinen geliebten Regenmantel übergezogen und eilte mit ihr zu ihrem Auto, das direkt vorm Haus parkte. Wir stiegen ein und fuhren los. Zunächst zur Pension "Liesl". Dort bekamen meine Frau und ich dank Frau Käsler's Verhandlungsgeschick tatsächlich binnen kürzester Zeit noch eine kleine Kammer als Unterschlupf für eine Nacht. Und auch unsere Koffer waren dank ihrer hervorragenden Fahrkünste nach nur einer knappen halben Stunde an Ort und Stelle. Ebenso wie meine Yelena, die die wenigen Meter vom Hause Käsler zu der kleinen, herrlich familiär und urbayrisch wirkenden Pension "Liesl" mittlerweile an der Seite von Anne-Marie Septus zu Fuß zurückgelegt hatte. Mein Schatz fiel mir bei der Ankunft dann auch gleich freudestrahlend um den Hals, so als hätten wir uns eine Ewigkeit lang nicht mehr gesehen. Dabei hauchte sie mir zwischen zwei zärtlichen Küssen sanft ins Ohr: "Du wissen was?! Morgen wir gehen zusammen mit Sandra, ihr Frau Mutter und mit Annes Marie zu großes Wiese mit noch größeres Zelt, lautes Musik und viel, viel Bier. In München sie das nennen Oktoberfeier!". Neben uns grinste Frau Käsler verschmitzt: "Oktoberfest, meine Liebe, Oktoberfest heißt des! Und des is eine Pfundsidee und wird ganz bestimmt auch a Mordsgaudi, wie mir zu sagen pflegen! Vor allem, wenn wir Euch zwei Engeländer zuvor noch ganz zünftig ausstaffieren! Habts Lust?!". Yelena nickte eifrig: "Au ja, ich auch wollen so tolles ein Tracht wie Frau Rehbein aus Zeitungstandler von heutiges Nachmittag!". Auch mir gefiel die Idee einer passenden Verkleidung mit jeder Sekunde immer mehr. Nicht nur, weil ich mich auf meine alten Tage gedanklich schon in der Krachledernen herumhopsen sah, sondern auch weil mich bei meiner Yelena der tiefe Ausschnitt reizte, den derartige Trachten zu haben pflegten. Einzig und allein Frau Käslers Stimme vermochte mich noch aus der Vertiefung solcher nicht ganz jugendfreien Gedanken herauszuholen, indem sie Yelena und mir von hinten auf die Schulter klopfte und dazu ausrief: "Na dann aber husch ins Körbl, die Dame und der Herr, damit Ihr morgen auf der Wiesn topfit seids!". Wahnsinnig dankbar für die erwiesene Gastfreundschaft und Hilfe verabschiedeten Yelena und ich uns überschwenglich von Frau Käsler, ihrer Tochter und Anne-Marie Septus und begaben uns dann in unser enges Kämmerlein, auch wenn wir in dem rustikalen Bett mit der weißblaukarierten Bettwäsche in der anbrechenden Nacht dann doch nicht gleich zum schlafen kamen ...
[Wird fortgesetzt]