Dem Gedenken an die Opfer der Norwegen-Attentate im Juli 2011 gewidmet
SYNNES WANDEL
Es war einer jener dunklen Momente des Lebens, der mich in den frühen Abendstunden des 22. Juli 2011 an die beeindruckende Küste des norwegischen Geirangerfjords geführt hatte. Meine Existenz war meines Erachtens am Ende einer Sackgasse angelangt - so daß ich sie mit jedem weiteren Schritt nach vorn unweigerlich gegen die Wand setzen würde. Seit mehr als 7 Jahren fristete ich irgendwo im Norden Berlins eingefercht zwischen den vier Wänden meiner kleinen Einraumwohnung, wo mir oftmals die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, mein einsames Singledasein. Meine inzwischen fast zehnjährige Tochter, die mit ihrer Mutter und derem neuen Lebensgefährten scheinbar recht glücklich gleich nebenan im Nachbarhaus wohnte, bekam ich nur einmal im Monat zu Gesicht. Die Arbeit in der Altenpflege, die mich einst so sehr ausgefüllt hatte, diente inzwischen fast nur noch dazu, mir mein ohnehin kärgliches Leben zu finanzieren. Und auch das mir so liebgewordene Geschichtenschreiben, mit dem ich schon so manche Stunde meinem grauen Alltag für ein kleines Weilchen zu entfliehen vermocht hatte, war an einen toten Punkt gekommen. Kurzum: Ich hatte das Leben einfach satt. Eine Bekannte hatte mir dann irgendwann von ihrem Norwegenurlaub und der atemberaubenden Schönheit eines Sonnenaufgangs am Geirangerfjord mit den Worten vorgeschwärmt: "Es gibt wohl keinen schöneren Moment und kein schöneres Bild, um seine Augen für immer zu schließen!". Seitdem ließ mich jener Gedanke einfach nicht mehr los: An den steilen Abhängen des Geirangerfjords jenen einmaligen Sonnenaufgang erleben, ihn festhalten und dann einfach alles loslassen, die Augen zumachen und den einen kleinen Schritt zu weit gehen. Und so hatte ich mir am Morgen jenes sonnigen Junitags kurzentschlossen meine abgewetzte schwarze Lederjacke übergeworfen und mit einer Digitalkamera und einer alten Ausgabe der Heiligen Schrift im spärlichen Gepäck eine einfache Hinfahrt ins Norwegische gebucht und auch sofort angetreten. Und am Ende stand ich dann nach einer recht imposanten Reise mit Bus, Bahn und Schiff in schwindelerregender Höhe am Rande des Fjords und schaute lang und tief in den Abgrund, der - ganz den Worten Nietzsches folgend - dabei auch mehr und mehr in mich hineinschaute. Es reizte mich in diesem Moment, wie schon sooft in meinem Leben, die furchterregende Höhe einfach durch einen raschen Sprung in die Tiefe zu überwinden. Dennoch trat ich zunächst von jenem Abgrund wie auch von meinem Vorhaben zurück, hatte ich doch noch nicht jenen ultimativ letzten Sonnenaufgang genossen.
Langsam brach inzwischen die Nacht über mir und damit auch über dem Fjord herein. Es wurde mit einem Male spürbar kälter. Und so entschloß ich mich, mich für die verbleibenden Stunden bis zum Tagesanbruch in wärmere Gefilde zu begeben. Ein Hotel oder eine Pension kamen dabei für mich angesichts meines spärlich gefüllten Geldbeutels von vornherein gar nicht erst infrage, aber um die Zeit mit einer Tasse Milchkaffee und einem Whiskey in einer nahegelegenen Gaststätte mit dem verheißungsvollen Namen "Last Stop B4 Heaven" zu überbrücken, sollte es doch wohl reichen. Und so hielt ich Einkehr in jene kleine Lokalität, die mit ihren roten Polstersitzbänken und den dazwischen angebrachten Sprelakat-Tischplatten wie eine Mischung aus zeitloser US-Gemütlichkeit und längst vergangenem DDR-Schick anmutete. Gedankenversunken schlurfte ich über den weißgekachelten Boden hinweg, wobei ich mich schon einmal meiner Lederjacke entledigte und zwängte mich schließlich an einer jener Tischplatten auf ein Sitzbankpolster. Von meinem gewählten Platz am Fenster hatte ich freie Sicht auf das Fjord wie auch auf die drei Zapfsäulen der Tanke, die zu dem Lokal zu gehören schien. Dabei staunte ich nicht schlecht, als ich an einer jener Säulen sogar die Aufschrift "Cerosin" entdeckte. Viel Zeit zum Staunen blieb mir freilich nicht, denn noch während ich meine Jacke neben mir auf die Bank fallen ließ und meine Kamera wie auch die mitgeführte Bibel auf der Tischplatte ablegte, trat von seinem Platz hinter der Theke ein Mann an mich heran, der mich sogleich auf Norwegisch ansprach. Ich antwortete ihm mit ein paar hingeworfenen und sicher keineswegs akzentfreien Brocken meines Schulenglisch, daß ich seine Sprache nicht verstünde und vorerst gern einen schönen warmen Milchkaffee trinken würde. Der Mann nickte kurz und erwiderte in ebenfalls gebrochenem Englisch: "Allrite, Sir! One Coffee 4 you with some milk and no sugar! Makes 2 point 40 Euros @ all!". Ich kramte kurz in der Hosentasche meiner Jeans und zog schließlich ein wenig Klimpergeld hervor, alles in allem zwei 1-Euro-Münzen und drei 50-Cent-Stücke, die ich vor mir auf den Tisch legte. Der Mann griff sich in Windeseile die beide Euromünzen und zwei der anderen Geldstücke, wobei er sogleich auf dem Hacken kehrt machte und im Gehen noch rasch verkündete: "God bless you, Sir!".
Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf, dann nahm ich meine Bibel zur Hand und schlug sie an jener Stelle auf, wo zwischen zwei Seiten als Lesezeichen ein Brief mit der handgeschriebenen Widmung "Für meine Tochter" eingeschoben war. In jenem kurzen Schreiben hatte ich versucht, ihr die Beweggründe meines unmittelbar bevorstehenden Handelns verständlich zu machen. Mehr als einmal war bei diesem schwierigen Unterfangen die eine oder andere Träne auf das frischbeschriebene Papier herabgefallen, was die Zeilen letztlich an mehreren Stellen doch recht unleserlich werden ließ. Und dennoch hoffte ich, wenigstens sie würde mich verstehen, wenn es dafür auch sicher einiges an Zeit bräuchte. Sanft, ja fast zärtlich, strich ich bei dem Gedanken an sie über den fest verschlossenen Briefumschlag, dann widmete ich mich den dick angestrichenen Versen des Bibeltextes unmittelbar daneben. Dort sprach Hiob einst im gleichnamigen Buch am Ende des 17. Kapitels: "Vorbei sind meine Tage. Meine Pläne, die Wünsche meines Herzens, sind zunichte. Die Freunde sagen mir, die Nacht sei Tag. Das Licht sei mir ganz nah, behaupten sie, obwohl die Finsternis mich überfällt. Mir bleibt als Wohnstatt nur die Totenwelt, im Dunkel dort kann ich mich niederlegen. Das kalte Grab - ich nenn es meinen Vater, die Maden meine Mutter, meine Schwestern. Da sollte es für mich noch Hoffnung geben? Kann jemand nur ein Fünkchen davon sehen? Sie steigt mit mir hinunter zu den Toten und wird dort mit mir in den Staub gelegt". Mein Kaffee kam - schwarz wie die Nacht, die mich umgab. Ich schlug die Bibel zu und legte sie beiseite. Stattdessen ergriff meine rechte Hand nun das meiner Kaffeetasse nahestehende Porzellankännchen mit der Milch, von der ich dem bitteren Heißgetränk einen kleinen Schluck zufügte. Sofort verteilte sich die Milch im Kaffee und erhellte ihn damit zusehends. War die Nacht am Ende vielleicht doch Tag? Und reichte so ein kleines Fünkchen milchigweißer Hoffnung, um auch in meinem verfahrenen Leben noch eine ähnliche Wandlung zu bewirken? Ich war bereit, es darauf ankommen zu lassen in den verbleibenden Stunden bis Sonnenaufgang. Und so faltete ich unter der Tischplatte die Hände ineinander, schloß meine Augen und betete innerlich: "Herr, ich bin müde! Wenn Du mein Leben retten willst, dann schick mir doch ein solches Fünkchen Hoffnung - etwas, das meinem Leben wieder neuen Sinn gibt!". Ein leises Gähnen aus meinem Innern heraus verlieh dem Unausgesprochenen noch zusätzlich Nachdruck, während sich mein Kopf dabei - von mir unbemerkt - langsam immer weiter der Tischplatte näherte und letztlich auf ihr gänzlich zum Erliegen kam. Sanfter Schlummer umfaßte mich umgehend und hielt mich wohl mehrere Stunden gefangen, denn als ich durch ein brummendes Geräusch wieder hochschreckte, zeigte die Uhr an der Wand neben der Theke bereits 3:42 Uhr.
Ich reckte und streckte mich kurz, dann rieb ich mir mit beiden Handrücken über die verschlafenen Augen und blinzelte mit ihnen zum Fenster hinaus. Draußen goß es inzwischen in Strömen. Ein großer sonnengelber Reisebus, in dem schätzungsweise an die 90 junge Leute in strahlendweißen Kleidern und Anzügen saßen, sowie ein Meer von großflächig aufgezogenen dichten Nebelwolken versperrten mir dabei komplett die Sicht auf das Fjord. Der rauschebärtige Busfahrer öffnete unter lauten Zischen die Tür seines fahrbaren Untersatzes, wozu er - an seine Fahrgäste gewandt - lauthals verkündete: "Letzter Zwischenstop auf unserem langen Weg, Kinder! Eine Dreiviertelstunde bis zur Weiterfahrt!". Keiner der Reisenden machte jedoch verständlicherweise bei dem anhaltend starken Regenschauer Anstalten, sein trockenes Pätzchen im Bus zu verlassen. Lediglich ein einzelnes Mädchen mit roten Haaren, einer Stupsnase und unzähligen Sommersprossen, dessen Alter ich auf etwa 16 bis 18 Jahre schätzte, entstieg gleich nach dem Fahrer dem Bus. Und während der bärtige Mann unter dem Schutz einer himmelblauen Regenkutte zu meinem Erstaunen schnurstracks zur Zapfsäule mit dem Kerosin stiefelte, lief die junge Dame - der unfreundlichen Witterung um sie herum völlig schutzlos ausgeliefert - ganz gemütlichen Schrittes und erhobenen Hauptes in meine Richtung. Fast sah es so aus, als genieße sie das Herabprasseln des Regens auf ihr Gesicht und ihren Körper. Einen Moment lang blieb sie sogar mit weit ausgestreckten Armen und ebenso weit herausgestreckter Zunge stehen. Dann aber lief sie umso schneller weiter und betrat schließlich in ihrem langen, dünnen, blütenweißen Kleidchen das Lokal. Sie schaute sich dabei in alle Richtungen ganz genau um. Scheinbar suchte sie nach einem freien Sitzplatz. Und auch wenn es davon hier um diese Zeit bei nur einem knappen Dutzend Gästen jede Menge gab, steuerte sie letztendlich ganz zielgerichtet auf meine Sitzbank zu. Direkt neben mir blieb sie unvermittelt stehen, streckte mir ihre rechte Hand entgegen und verlautbarte: "Hallo Fremder! Ich heiße Synne! Du siehst mir so aus, als quälten Dich gerade eine Menge trüber Gedanken, und Du könntest ein bißchen Aufmunterung gebrauchen?!". Sichtlich perplex darüber, daß jene schöne Unbekannte mit dem roten Haar scheinbar in mir wie in einem offenen Buch zu lesen vermochte, brachte ich zunächst kein einziges Wort heraus. Und so fügte sie schließlich mit einem entzückenden Augenzwinkern und einem strahlenden Lächeln, welches sämtliche Sommersprossen auf ihren blaßrosanen Wangen zum Tanzen brachte, hinzu: "Na, hab ich nun recht?! Oder hab ich recht?!". Das Eis zwischen uns hatte sie damit gebrochen, und so erwiderte ich: "Hast schon völlig recht, irgendwie! Und vielleicht ist so eine kleine Unterhaltung mit Dir ja auch genau das Richtige, um mir meine noch verbleibende Zeit sinnvoll zu vertreiben". Das Mädchen Synne tat ein wenig überrascht: "Ach, dann bist Du also auch in einer Art Aufbruchstimmung?! Willst Du etwa auch verreisen? Wohin solls denn gehen? Weiter weg? Für längere Zeit?". Schwermütig schüttelte ich vor ihren erwartungsvoll leuchtenden Augen mein sich langsam senkendes Haupt hin und her: "Ach, laß uns doch nicht von mir reden. Sprechen wir lieber von Dir! Woher kommst Du? Und wohin führt Dich Dein Weg schon zu so früher Stunde?". Synne zuckte mit ihren breiten Schultern und erwiderte schließlich: "Nun, ich komme von einer Freiluft-Party auf einem Eiland, die für mich und all die anderen dort im Shuttlebus ganz plötzlich und unerwartet endete ...".
Hier unterbrach ich sie in ihrem herrlich ungestümen Redefluß, indem ich mit ausgesteckter Hand auf den anhaltenden Regen vor dem Fenster deutete und dazu raunte: "Verstehe! Ihr seid da draußen wohl ganz böse überrascht worden, wie?!". Wie von Geisterhand bewegt, senkte sich in diesem Moment ihr Haupt mit dem triefendnassen Haar. Unzählige der bis dato darin gefangengenommen erscheinenden Himmelstränen lösten sich schlagartig und rannen in Dutzenden von kleinen Bächen an ihrer Stirn und ihren Wangen herab, wobei es mir beim Passieren der niedergeschlagenen Wimpern so vorkam, als gesellte sich von dort zugleich auch noch ein wenig eigenes salziges Augenwasser hinzu. Wie ein kleines Häufchen Elend stand das zitternde Geschöpf mit schlaff herabhängenden Schultern so nun eine kleine Ewigkeit vor mir, und es herrschte ein geradezu bedrückendes Schweigen zwischen uns. Ein Zustand, dem ich schließlich ein Ende zu setzen versuchte, indem ich ihr meine abgelegte Lederjacke über die hauchdünn verschleierten Schulterblätter warf ein und ihr aus meiner Hosentasche hervorgeholtes und rasch entfaltetes Papiertaschentuch entgegenstreckte mit einem dazu gehauchten: "Bitteschön! Für Dich!". Eine ihrer schmalen Hände ergriff zögernd das dargebotene Tuch und leise schluchzend verkündeten ihre blaßroten Lippen: "Danke, mein Herr!". Ich hatte nicht die geringste Ahnung warum, aber während sich das junge Mädchen verstohlen mit dem weißen Papiertuch übers Gesicht und die Haare fuhr, schoßen mir jene Worte aus der biblischen Offenbarung des Johannes in den Kopf, die da lauten: "Und Gott wird alle ihre Tränen abwischen Es wird keinen Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine Quälerei mehr. Was einmal war, ist für immer vorbei". Kaum hatte ich dies zuende gedacht, da legte sie auch schon das feuchte Tuch aus ihrer Hand zusammengeknüllt vor mir auf den Tisch, wobei sie gleichzeitig ihren Kopf ruckartig hochriß, ihre feucht glitzernden Augen weit aufschlug und mit nun langsam zurückkehrendem Lächeln gen Lokaldecke und darüber verborgenem Himmelszelt erhobenem Blick verkündete: "Aber nun sind wir allesamt bereits unterwegs zu einer anderen, unendlich schöneren himmlischen Open-Air-Feierlichkeit, welche von niemandem anders als von einem meiner Väter höchstpersönlich ausgerichtet wird".
Auf den letzten Teil ihrer Ausführungen reagierte ich doch sehr erstaunt: "Einem Deiner Väter?! Hast Du denn mehrere?!". Synne sah mich entgeistert an und nickte dann lächelnd: "Ja, zwei! Einen, der in Oslo wohnt, und einen weiter oben". Während sie diese Worte sprach, betrachtete ich ihr dünnes weißes Kleidchen von oben bis unten, und meinte verblüfft: "Weiter oben als hier?! Aber ist es denn da nicht bitterkalt um diese Jahreszeit?". Synne schüttelte ihren Kopf wild hin und her, wobei ihr langes Haar die noch in ihm verbliebene Feuchtigkeit nun in Form eines feinen wäßrigen Nebels in alle Richtungen des Raumes versprühte. Und auch ihr ansteckender Charme begann zu sprühen, als sie mir augenzwinkernd entgegenhielt: "Nein, ganz im Gegenteil! Soweit ich den unzähligen Schreiben meines Vaters entnehmen durfte, erwarten mich dort sogar ganzjährig wahrhaft paradiesische Zustände und ein warmer, lauschiger Platz an einem stets überreich gedeckten Tisch". Ich nutzte jene Äußerung umgehend, um die junge Dame nunmehr endlich mit einer ausladenden Bewegung meiner ausgesteckten Hand einzuladen, mir visavis am Tisch Platz zu nehmen. Eine Sekunde lang zögerte sie noch, dann entdeckte sie vor mir auf der Tischplatte die dort abgelegte Digitalkamera und das in Leder eingebundene Büchlein mit dem goldfarbenen Kreuz und ließ sich sichtlich erschöpft auf den Sitzplatz mir gegenüber sinken. Das leise Seufzen, das sich - wohl ihrem tiefsten Innern entspringend - dabei durch ihre trockenen Lippen hindurch Bahn brach, nahm ich sogleich zum Anlaß unsere kurzzeitig unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen, indem ich fragte: "Möchtest Du vielleicht etwas trinken?! Eine Coke oder eine Selters?!". Synne überlegte kurz, dann erwiderte sie: "Durst hätte ich schon, war nämlich ein langer und anstrengender Tag für mich, aber ...". Bedrückt deutete sie auf den unteren Teil ihres dünnen Kleidchens, wobei sie nun zugleich ihre beiden Arme in die Ärmel meiner übergeworfenen Lederjacke eintauchen ließ. Ich schmunzelte: "Versteh schon, was Du meinst! Das letzte Hemd hat keine Taschen, wie?! Weißt Du was?! Ich lad Dich ein! Also, was darfs denn sein? Cola, Wasser oder Wein?!". Synnes Augen schauten fragend: "Ginge auch ein Bier aus der Dose?". Sichtlich beeindruckt antwortete ich: "Tja, warum denn nicht! Da nehm ich auch eins". Synne reckte daraufhin prompt den Arm in die Luft und rief aus voller Kehle in feinstem Norwegisch: "Herr Ober, zwei Dosen von Ihrem besten Hopfentrank bitte!". Der Mann hinter der Theke nickte und rückte daraufhin prompt mit zwei Literdosen Markenbier und zwei Gläsern an. Wieder kassierte er sofort ab, und wieder rundete er den Betrag zugunsten seines Trinkgeldes von sich aus nach oben auf - ein Umstand, der bei Synne wie auch bei mir nur für ein weiteres schmunzelndes Kopfschütteln sorgte. Im nächsten Moment schob mein Gegenüber zu meiner Verwunderung ihr Glas achtlos beiseite, öffnete mit geübtem Griff den Verschluß an der Oberseite ihrer Bierdose und prostete mir breit grinsend zu. Ich tat es ihr gleich, während sie ihre Dose bereits an ihrem Mund angesetzt hatte und in einem einzigen Zug leerte. Ein unterdrücktes Aufstoßen folgte, dann wischte sie sich mit dem Rücken ihrer rechten Hand über die noch schaumbedeckten Lippen und raunte: "Ah, das hat aber gut getan! So schnell wird es für mich wohl jetzt kein gutes norwegisches Bier mehr geben".
In diesem Moment entdeckte ich das Tatoo mit einem Schriftzug auf Norwegisch an ihrem rechten Unterarm, und fragte neugierig: "Was bedeutet das da auf Deinem Arm?". Synne schaute mir ganz tief in die Augen und antwortete: "Liebe. Das ist, ganz gleich in welcher Sprache auch immer, nämlich ein wahrhaft allmächtiges Wort, weißt Du?! Hat es doch die Macht, alles Böse auf dieser Welt mit Gutem zu überwinden - selbst den Haß wie er einer solch grauenvollen Tat entspringt, wie jener!". Damit schnellte ihr linker Zeigefinger in die Höhe und deutete auf den Fernseher über der Theke, über dessen Bildschirm einmal mehr in dieser Nacht all die schrecklichen Bilder vom blutigen Massaker auf der norwegischen Insel Utoya flimmerten. Ein als Polizist verkleideter Täter hatte bei einem Fest mit Zeltlager ohne jeden Grund mit einer Automatikwaffe das Feuer auf die dort friedlich versammelten Jugendlichen eröffnet und nach ersten Zeugenaussagen von Überlebenden einen nach dem anderen förmlich hingerichtet. Dem Nachrichtensprecher zufolge bezeichnete sich der brutale Mörder nach seiner Festnahme vor Ort durch ein Sondereinsatzkommando der norwegischen Polizei selbst als christlicher Fundamentalist. Meine bis dahin reglos auf der Spelakattischplatte vor mir ruhenden Hände ballten sich in diesem Augenblick wutentbrannt zu Fäusten. Erst Synnes sanfte Berührung meines Handrückens durch ihren zitternden Finger und das Erschrecken, das ihr Gesicht - wohl ausgelöst durch den Anblick meiner so plötzlich veränderten Gemütslage - befallen hatte, lösten jene zornige Verkrampfung in meinen Händen wieder. Und um eine Erklärung bemüht, stotterte ich: "Ich ... ich werde eben ... naja immer wütend, wenn ... wenn eine solche Bestie wie dieser Typ da ... wenn so jemend versucht, sich einen christichen Deckmantel überzuhelfen". Und meine Fassung langsam wiederfindend, ergänzte ich: "Das, was da auf Utoya geschah, hat ganz und gar nichts mit dem Wesen eines Christenmenschen zu tun. Nein, das Töten von Menschen ist und bleibt, mit welcher Begründung man es auch im Nachhinein zu rechtfertigen versucht, ganz und gar antichristlich!". Synne nickte traurig: "Ganz recht! Du sollst nicht töten! Niemand hat das Recht, ein gottgewolltes Leben gewaltsam auszulöschen - kein fremdes und auch nicht sein eigenes!". Bei ihrem letzten Satz mußte mächtig schlucken. Daß sie das jetzt gerade in diesem Moment ansprach, fast so als würde sie wissen, daß ich ... Ich verdrängte jenen, mir äußerst unangenehmen Gedanken sogleich wieder und kehrte stattdessen zu dem zurück, was ich eigentlich noch hatte anmerken wollen: "Wie dem auch sei: Ich möchte jedenfalls mal wissen, was in so jemandem vorgeht, wenn er in ein liebenswertes Gesicht wie das Deine schaut und dennoch eiskalt den Abzug durchdrückt". Synne schüttelte sichtlich betroffen ihren Kopf: "Ich hab da nicht die geringste Ahnung. Und ich weiß auch gar nicht, ob man das als normal denkendes menschliches Wesen überhaupt nachvollziehen kann oder auch will. Aber ich kann dafür umso besser nachempfinden, was in einem der Opfer in diesem Moment vor sich geht. Man bekommt mit einem Male so schreckliche Angst, wenn man direkt in die kalte, lebensbedrohliche Mündung einer Waffe hineinschaut. Und man denkt nur noch eins: 'Nein, bitte tun Sie das nicht! Tun Sie mir das nicht an! Ich habe doch noch mein ganzes Leben vor mir. Ich will doch noch lieben. Ich will einmal einem Kind das Leben schenken und es in meinen Armen halten. Ich will es heranwachsen sehen und neben ihm an der Seite eines liebevollen Partners älter werden. Ich will lachen, weinen, träumen, arbeiten - Liebe geben und empfangen. Leben will ich, einfach nur leben!' Dann aber hört man diesen entsetzlich dumpfen, ohrenbetäubenden Knall und weiß, das all das mit einem Mal vorbei ist. Und während einem langsam die Sinne schwinden, versteht man, wie wertvoll das Geschenk des Lebens ist, das man bei seiner Geburt erhalten hat und das einem nun auf gewaltsame Weise wieder entrissen wird, ohne daß man es auch nur annähernd in vollem Umfang nutzen konnte. Nicht einmal Zeit zum Tschüßsagen hat man mehr!".
Noch einmal griff ihre Hand nach der meinen. Und während ihre Augäpfel ein merkwürdiges feuchtes Glitzern umspielte, flehten ihre bebenden Lippen leise: "Würdest Du mir bitte einen großen Gefallen tun?". Mein nickender Kopf bewegte sich langsam auf den ihren zu, wozu ich mich flüstern hörte: "Alles, was Du willst!". Synne schluchzte kurz auf, dann sprach sie mit umso festerer Stimme: "Leider konnte ich mich vor meinem Aufbruch gestern nachmittag nicht mehr von meinen Eltern und meinen Freunden in Oslo verabschieden. Richte ihnen allen doch bitte etwas von mir aus! Sag ihnen, daß all das Schreckliche, das einem Menschen zustoßen kann, nur von kurzer Dauer ist, im Vergleich zu dem, was einen danach noch an unendlich Schönem erwartet! Sag Ihnen, daß es keinen Grund gibt, sich für irgendetwas auf dieser Welt zu fürchten, nicht einmal vor dem Tod! Erkläre Ihnen, daß sie nicht so unendlich traurig darüber sein sollen, daß ich so plötzlich fort mußte von ihnen, sondern daß sie sich vielmehr auf unser Wiedersehen einst an einem anderen Ort freuen sollen - jenem Ort, an den ich heute nur schon einmal vorausgehe! Tust Du das für mich?!". Kurz entzog sich meine rechte Hand ihrem Zugriff. Wie zum Schwur legte sie sich stattdessen auf die Bibel vor mir, während meine linke Hand sanft Synnes Schulter berührte, wozu ich aus tiefster Seele erwiderte: "Ja, mein Kind, mit Gottes Hilfe!". Voll Dankbarkeit drückten mir Synnes Lippen in dieser Sekunde einen gehauchten Kuß auf die kahle Stirn. Ihre betörende Stimme aber raunte: "Du bist ein guter Mensch, das spürt man! Gott segne Dich!"
Wie aus heiterem Himmel sprang sie mit einem Male auf und fragte: "Hättest Du vielleicht mal ein 50 Cent-Stück für mich?". Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit vorhatte, aber ich fing sofort an, voll Feuereifer mit den Fingern meine Jeanshosentaschen zu durchforsten, woraufhin ich binnen weniger Sekunden eine Handvoll Münzen hervorholte, die ich dann vor ihren erwartungsvollen Augen auf der Sprelacarttischplatte vor mir ablegte. Zielgerichtet entzogen Synnes schlanke Finger dem großen Kleingeldhaufen eine einzelne 50-Cent-Münze, mit der sie dann pfeilschnell die Jukebox in einer der düsteren Ecken des Lokals ansteuerte. Das Mädchen versenkte die das Geldstück im dafür vorgesehenen Schlitz, dann drückte sie einen der vielen Knöpfe an der Frontseite des nostalgisch angehauchten Musikgeräts. Und binnen weniger Sekunden fluteten die Schallwellen von Mindy Smiths "One Moment More" den Raum. Synne aber nahm inmitten des kleinen Lokals Aufstellung und begann, sich vor den Augen aller Anwesenden lächelnd wie in Trance im Kreis zu drehen. Ihre Füße vermochte man dabei unter dem Saum ihres hochgewirbelten langen weißen Kleides gar nicht zu erkennen, so daß es anmutete, als schwebe jenes reizende Geschöpf über den himmelblau gekachelten Fußboden. Wie grazil sie sich zu den gefühlvoll Klängen der Musik bewegte, verschlug einem dabei fast den Atem. Und das ging scheinbar nicht nur mir allein so, denn längst waren die Blicke aller Anwesenden, deren Münder weit offenstanden, nur noch auf sie und ihre unbeschwerte Tanzdarbietung gerichtet. Das strahlende Lächeln des Mädchens wirkte zudem scheinbar ansteckend, denn es zog innerhalb kürzester Zeit auch in den bis dahin wie versteinert wirkenden Minen sämtlicher Zuschauer ein. Irgendwann hielt Synne für einen Moment inne, streckte ihre Hand nach mir aus und winkte mich mit deren Zeigefinger zu sich heran. Was dann geschah, war einfach unglaublich. Denn war es bis dato nur einer Handvoll Damen gelungen, mich unter Anwendung aufwändiger Überredungskünste und all ihres weiblichen Charmes auf die mir stehts so fremde Tanzfläche zu locken, so zögerte ich in dieser einmaligen Situation auch nicht nur einen einzigen Moment. Ich stand auf und ging auf sie zu. Und während sie ihr schwereloses Schweben wieder aufnahm, begann ich sie mit den recht unbeholfenen und kantigen Bewegungen meines Körpers zu umrunden - wie ein grauer Planet, der auf fester elliptischer Bahn die strahlende Sonne umkreist ... wieder und wieder. Meine Augen nahmen dabei nur noch sie wahr. Und es war mir völlig gleichgültig, daß ich mich wohl wie der von einem Erdbeben der Stärke 10 durchgeschüttelte rostige Blechmann aus dem "Zauberer von Oz" bewegte uns etwa ein Dutzend Augenpaare anstarrten. Und in dieser - für Außenstehende sicher ohnehin schon recht bizarr anmutenden Situation - ergriff sie mit einem Male meine umhergeworfenen Hände, und wir drehten uns fortan im Kreis umeinander. Unsere Blicke versanken dabei immer tiefer ineinander. Und während ich so allein durch den intensiven Augenkontakt mehr und mehr den Eindruck gewann, die geheimsten Gedanken jener schönen Unbekannten enträtseln zu können, erschien es mir, als würde sie mit der Umklammeung meiner Hände gleichsam den Versuch unternehmen, diesen einzigartigen Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Diesen Moment, der für uns beide von so kurzer Dauer und dennoch so unglaublich voller Leben war, wie kein anderer je zuvor. Ein dumpfer, lauter Klang beendete den kostbaren Augenblick jäh. Er ließ uns aufschrecken und erzittern. Er trennte uns wieder voneinander. Jenes brutale Geräusch riß uns brutal heraus aus dem eben noch so intensiv empfundenen Gefühl des Einander-Gegenseitig-Haltgebens, und damit gleichsam auch aus dem Leben. Still standen wir sekundenlang da, und mit uns scheinbar auch unsere Herzen und die ganze Welt um uns herum. Dann blinzelte mir Synne mit einer kleinen Träne im Auge ein letztes Mal zu und lief ohne ein weiteres Wort nach draußen, wo der Busfahrer - dessen Hupen unsere gemeinsame Tanzdarbietung zuvor so jäh beendet hatte - nun bereits den Motor startete.
Leicht wie eine Feder entschwebte Synnes engelhafte Erscheinung vor meinen Augen über das Trittbrett ins Innere des Busses. Ich aber lief zurück an unseren Tisch, um meine Kamera zu ergreifen und ihr dann nach draußen nachzueilen. Als ich dort völlig außer Atem anlangte, hatte der Busfahrer mit dem ringförmigen Oberlicht über seinem Sitzplatz längst die Tür geschlossen und war losgefahren. Und so entfernte sich nun sein Gefährt und mit ihm auch die bezaubernde Synne, welche mir noch minutenlang durch das hintere Busfenster zulächelte und zuwinkte, im uns allesamt umgebenden dichten Wolkenmeer mehr und mehr meinem tränenverschleierten Blick. Ich aber stand die ganze Zeit nur wie erstarrt da, mit meinem kurzen Shirt und meiner Jeans inmitten der morgendlichen Kälte. Erst als das süße Antlitz Synnes in der Ferne am Horizont zwischen all der nebligen Wolken und vor der blendenden Silhouette der darin langsam aufgehenden Sonne komplett zu entschwinden drohte, löste sich meine Bewegungsunfähigkeit wieder. Mit wenigen Handgriffen machte ich meine Digicam betriebsbereit, richtete sie zwischen mir und dem wegfahrenden Bus aus und drückte auf den Auslöser. Ein kurzes Klicken signalisierte mir den Erfolg meiner Aufnahmebemühungen. Und als ich die Kamera wieder sinken ließ, waren Synne, all die anderen Fahrgäste und auch der Bus verschwunden - wie es mir schien, inmitten jenes strahlendblauen Himmels, an dem nun das helle Licht der sich Bahn brechenden Sonne das Leuchten in Synnes Augen zu ersetzen versuchte. Ein neuer Tag hatte begonnen, der erste ohne Synne.
Das unsinnige Vorhaben, meinem Leben ein Ende zu setzen, hatte ich längst begraben. Die Begegnung mit Synne und ihre zu Herzen gehenden Worte hatten mich letztlich davon abgebracht. Ihre unbändige Lebensfreude hatte mich ergriffen und mitgerissen. Ja, ich wollte wieder leben - leben und jeden neuen Tag in vollen Zügen genießen. Und das tat ich auch, zuallererst schon wenige Stunden später bei meiner Heimreise nach Deutschland in den vollen Zug nach Berlin und dann weiter nach Hennigsdorf. Ich glaubte ehrlichgesagt nicht, das Mädchen Synne noch jemals im Leben wiederzusehen. Und doch begegnete mir ihr strahlendes Gesicht schon wenige Tage später. Es lächelte mich von einem kleinen unscheinbaren Bild auf dem Cover einer gleichnamigen deutschen Tageszeitung her an - schwarzumrahmt eingebettet in die Fotos von 43 anderen jungen Menschen. Jenes Blatt gedachte damit, so verriet es der Schriftzug in der Mitte der Titelseite, der Opfer von Norwegen - unter denen sich auch Synne befand. Synne Royneland - geboren am 18. Januar 1993 in Oslo, gestorben im Kugelhagel eines skrupellosen, geistesgestörten Attentäters am 22. Juli 2011 auf der Insel Utoya. Unter Tränen wurde mir dabei bewußt, daß ich wohl der Letzte und gleichzeitig der Erste nach ihrem gewaltsamen Ableben war, der hier auf Erden noch das Glück hatte, sie und ihre unwiederbringliche Art kennenzulernen. Sie, die am Vortag ihr eigenes Leben auf so tragische Weise verloren hatte, rettete auf ihrer Himmelfahrt das meine. Synne Royneland war für mich das Fünkchen Hoffnung, um das ich Gott in meiner dunkelsten Stunde gebeten und das den fast schon erloschen geglaubten Lebenswillen in mir neu entfacht hatte. Bei dieser Gelegenheit sollte ich vielleicht auch gleich noch erwähnen, daß aus meinem Foto von der samt Bus inmitten der Wolken in Richtung Himmel entschwindenen Synne nichts geworden ist. Entweder war die Aufnahme völlig überbelichtet, oder ich in meiner Kunst zu fotografieren, an jenem frühen Morgen einfach etwas zu unterbelichtet. Denn anstelle des herrlichen Panormas des Geirangerfjords, der darüber aufgehenden Sonne, des schleierhaften Nebelwolkenmeers und eines Busses mit einem lächelnden Engel offenbart der entsprechende Schnappschuß nur eine große weiße Leere. Eine große Leere, wie der Verlust eines liebenswerten Menschen sie wohl in jedem Zurückgebliebenen hinterläßt und wie sie erst im Laufe der Zeit nach und nach von all den verbleibenden, schönen Erinnerungen an den teuren Verblichenen auszufüllen vermögen. Bilder mit solch einem Erinnerungswert gibt es von Synne übrigens jede Menge zu entdecken, stößt man im Internet erst auf die Webseite mit ihrem Blog, wo sie all ihre Gedanken und Empfindungen sowie ihre herrlichen, von unbändiger Lebensfreude nur so strotzenden Fotos mit dem Rest der Welt geteilt hatte. In diesem Online-Fotoalbum-Tagebuch aber lebt Synne Royneland damit für alle Zeit weiter, ebenso wie in den Herzen ihrer Familie sowie all ihrer Freunde und Bekannten. Und auch in meinem Herzen hat sie längst ihren festen Platz - jenes junge Gotteskind, das die unbezahlbare Gabe besaß, die schönen Dinge dieser Welt fotografisch einzufangen und mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit all der irdischen Trübsal wie auch der meinen das scheinbar verlorengegangene Lächeln zurückzugeben ...
[ENDE]