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sven1421

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Samstag, 15. September 2012, 09:43

[E] Wannabe Svensson (Adventskalender No.2)

Nun ist es wieder soweit! Zum zweiten Mal liefern Dir Ex-Inspektor Svensson und sein gesitiger Schöpfer einen ganz speziellen Adventskalender - mit 24 kleinen Episoden eines Miniromans, die je eine Stunde des 23. Dezember 2009 widerspiegeln, hinter je einem Türchen versteckt.
Freuen wir uns also gemeinsam auf die Vorweihnachtszeit, gewürzt und verziert mit ein paar kostbaren Überraschungsmomenten aus dem Leben von Lukas Svensson und Charles Wannabe - der diesmal auch mal eine Hauptrolle spielen darf - sowie vielen, vielen anderen ...


WANNABE SVENSSON

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 0 und 24 Uhr am Vortag zum Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt.
Alles, was Sie lesen, ereignet sich in Koordinierter Weltzeit UTC.

MITTERNACHT - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Dem Einen öffnet sich die Tür zu einem Neubeginn, der Andere erstrahlt plötzlich in ganz neuem Licht]

Das nächtliche London wurde von dichten Nebelschwaden durchzogen. Vor dem zweistöckigen Gebäude in der Baker Street 221B lehnte ein junger Mann mit einem Saxophon an der vor ein paar Tagen frisch gestrichenen Hauswand und spielte ununterbrochen die jazzige Melodie von Earle Hagens Klassiker "Harlem Nocturne". Nur spärlich erreichte ihn das Licht der Straßenlaternen durch jenen natürlichen Schleier des Nebels hindurch - ebenso spärlich, wie es in den Flur im Obergeschoß des Gebäudes schien. Und doch konnte man in jenem Schummerlicht vor der Milchglasscheibe der Tür eines sich dort befindlichen, verschlossenen Büros deutlich zwei unterschiedlich große menschliche Schatten erkennen. Und während in der Ferne gerade das Glockenspiel Big Bens den Anbruch eines neuen Tages einläutete, verkündete der kleinere Schatten mit stolzgeschwellter Brust: "Ah, Mitternacht! Kommen wir also zu Punkt 1 meines Zeitablaufplans für den heutigen Abend ...". Der größere Schatten schüttelte etwas schwerfällig den Kopf hin und her: "Sie haben doch jetzt nicht wirklich einen Zeitablaufplan entworfen für unser zwangloses Zusammentreffen heute abend, oder?!". Der kleinere Schatten reagierte sichtlich erstaunt: "Ja, selbstverständlich! Aber unterbrechen Sie mich bitte nicht! Also: Diese kleine schwarze Metallbox rechts neben der Bürotür, die auf den ersten Blick den Eindruck einer simplen Wechselsprechanlage macht, ist in Wirklichkeit das inovative Türverriegelungssystem KEYWORD 2010 von der Firma LOG-IN mit integriertem Stimmerkennungsmodul. Ich demonstriere Ihnen mal die einfache und dennoch geniale Funktionsweise, die für jedes kriminelle Element eine unüberwindbare Barriere darstellt". Damit drückte der kleinere Schatten den Sprechknopf jenes metallenen Kästchens und raunte: "Mein Name ist Watson, Doktor Watson!". Alles, was der Blechkasten dazu vermeldete, war ein kühles, computergeneriertes "Zutritt verweigert!". Etwas kleinlauter wiederholte der kleine Schatten seine Ansage, die Reaktion der Metallbox aber blieb dieselbe. Einen Moment lang herrschte bedrücktes Schweigen, dann wandte sich der kleine Schatten zögerlich dem größeren zu: "Ich fürchte, meine Stimme ist wohl heut ein wenig heiser. Vielleicht könnten Sie es jetzt mal versuchen?!". Grinsend erwiderte der große Schatten: "Wahrlich eine unüberwindbare Barriere für jedes kriminelle Element. Oder liegt Ihr Scheitern doch eher daran, daß Ihre Stimme keinen allzu großen Wiedererkennungswert hat?! Wie dem auch sei: Sie erinnern sich doch noch daran, was ich zu Ihnen sagte, als Sie am Nachmittag des ersten Advent mit der Broschüre jenes vermeintlichen Meisterwerks modernster Schlüsseltechnologie mein vorweihnachtlich gestimmtes Zuhause stürmten?!". Der kleine Schatten nickte und murmelte dazu leise: "Äh ja ... Also ich glaube, Sie meinten, daß es sich bei unserem Büro ja schließlich nicht um Ford Knox handle und daß es daher auch einfach ein ganz altmodisches Schloß mit zwei Schlüsseln und einem Ersatzschlüssel tun würde". Der große Schatten nickte: "Ganz recht! Aber Sie taten meinen Einspruch mal wieder damit ab, derartige Schlösser seien wie ich selbst Reliquien einer längstvergangenen Zeit und die zugehörigen Schlüssel hätten auch alle so einen unschönen Bart wie ich. Und nun stellt sich scheinbar mal wieder heraus, daß ich recht hatte, und daß Ihr modernes Schließsystem mehr was für den Schließmuskel und die ihn umgebene Körperregion ist ... Aber gut, ich will hier mal nicht den Besserwisser spielen. Stattdessen sag ich Ihnen jetzt etwas, was ich Ihnen schon früher immer mal während unserer gemeinsamen beruflichen Tätigkeit sagen wollte: Treten Sie doch einfach mal zurück!". Damit schob der große Schatten den kleinen beiseite und sprach in Richtung der eigensinnigen Blackbox: "Gestatten, Sherlock Holmes!". Die kühle Computerstimme aber vermeldete augenblicklich: "Herzlich Willkommen, großer Meister! Ich bitte einzutreten!". Wie von Geisterhand öffnete sich mit einem leisen Surren die bis dato festverschlossene Bürotür. Während der kleine Schatten sichtlich verdutzt stehenblieb, wagte der große Schattenmann sogleich einen beherzten Schritt ins Halbdunkel des Büroinnern. Dabei sprach er zufrieden: "Na, bitte, funktioniert ja doch tadellos, dieser neumodische elektronische Schlüsselkasten!". Der kleine Schatten aber knurrte in seinem Rücken leise: "Großer Meister?! Daß ich nicht lache! Aber das war ja klar, daß Sie auch hier mal wieder die erste Geige spielen müssen! Ganz genauso wie mein Vater früher! Ich wünschte nur, ich könnte Ihnen und allen anderen endlich ein für allemal beweisen, wozu ich wirklich fähig bin!". Der große Schatten drehte sich schlagartig zu dem hinter ihm Zurückgebliebenen um: "Haben Sie etwas gesagt, mein Allerwertester?! Nein?! Ich dachte! ... Naja, wie dem auch sei, ich werd jetzt hier erstmal ein wenig Licht ins Dunkel bringen. Ach je, wie ging das gleich nochmal, sagten Sie neulich?!". Das war das Stichwort für den kleineren Schatten, der sogleich aus dem Hintergrund verkündete: "Das wäre dann jetzt wohl Punkt 2 meines Ablaufplans. Und bei 3 Minuten nach Mitternacht liege ich da auch noch absolut in meinem Zeitfenster". Mit diesen Worten drängte er sich an dem größeren Schatten vorbei, nahm in Siegerpose inmitten des dunklen Büros Aufstellung und rief mit feierlicher Stimme: "Es werde Licht!".

Und tatsächlich, es ward Licht. Der Kronleuchter an der Decke, der mit einem sprachgesteuerten Schalter ausgestattet war, erhellte schlagartig den Raum. Die beiden Schattenmänner aber verwandelten sich in seinem Lichte von einer Sekunde auf die andere in den großgewachsenen Lukas Svensson und den neben ihm etwas kleiner geratenen Charles Wannabe. Beide waren festlich in weiße Oberhemden und schwarze Anzüge gekleidet, die sich nur dadurch unterschieden, daß Svenssons Anzug inklusive Krawatte und Oberhemd von der Stange war und nur einen Bruchteil von dem kostete, was Wannabe in seinen maßgeschneiderten Markenzwirn investiert hatte. Lukas Svenssons Aufmerksamkeit und Staunen galt momentan allerdings weniger dem Chickie-Mickie-Outfit Wannabes als vielmehr der Einrichtung des kleinen Büros, in dem laut dem englischen Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle bereits dessen berühmter Meisterdetektiv Sherlock Holmes seine Fälle gelöst haben sollte. Wannabe, der die sprachlose Begeisterung seines nächtlichen Begleiters beim Anblick des von ihm in den letzten Wochen mühsam eingerichtete Büro sichtlich zufrieden registrierte, vollführte mit beiden Händen eine einladende Geste und sprach dazu bedeutungsschwanger: "Das alles hier ist jetzt quasi unser neues berufliches Zuhause. Sehen Sie sich nur ruhig um! Oder um es mal mit dem Lieblingsmotto unseres neuen, stets wohl parfümierten Yardchefs Sir Douglas zu formulieren: Come in and find out!". Lukas Svensson folgte der Einladung, trat ein und schaute sich genau um. Auf den ersten Blick war es eines dieser Detektivbüros, wie man sie von Groschenromanen und alten Schwarz-Weiß-Filmen her kannte. Zwischen zwei - mit blauen Metalljalousien verhangenen - Fenstern stand, ein wenig von der Wand abgerückt, ein großer herrlich altmodischer, hölznerner Schreibtisch mit jeweils drei schlichten Holzstühlen auf beiden Seiten. Dahinter an der Wand neben einem der Fenster war ein kleiner Aktenschrank aufgestellt, wie ihn Lukas Svensson noch aus seiner Anfangszeit beim Yard kannte. Aus der guten alten Zeit ohne Computer, ohne Bits und Bytes - als Files noch Akten hießen und Notebooks einfach nur Notizbücher waren. Heute hingegen stand an jedem noch so kleinen Arbeitsplatz nicht mehr der Angestellte im Mittelpunkt, sondern ein möglichst leistungsstarker Rechner. So auch hier: Inmitten der antik anmutenden, gebeizten Schreibtischplatte machte sich als Fremdkörper ein Laptop in Marmoroptik breit, der aus Lukas' Sicht wie der Grabstein für den hinter ihm sofort ins Abseits tretenden Aktenschrank wirkte. Wannabe hatte inzwischen voller Eifer vor jenem Designerlaptop platzgenommen und ihn aufgeklappt. Seine Augen glitzerten wie Edelsteine, während der Rechner leise schnurrend hochfuhr. Eine Glockenton verkündete schließlich schon eine Minute später den erfolgreichen Start des Betriebssystems, und auf dem Bildschirm erschien zwischen mehreren Symbolen zum Öffnen von Programmen und Ordnern der goldfarbene Schriftzug "Wannabe Svensson - Private Ermittlungen aller Art". Charles Wannabe jubelte: "Hurra! Exakt 0 Uhr 5, und wir kommen zu Punkt 3 meines Ablaufplans. In diesem edlen Computer vereint sich in Zukunft unser gesamtes Rechnungswesen, unsere komplette Korrespondenz und sämtliches Aktenmaterial über unsere Klienten und Fälle. Ist das nicht wunderbar?! Früher hätte das riesige Aktenschränke gefüllt, heute paßt alles auf nur eine einzige Festplatte. Und den Rechner hab ich dabei sogar echt billig erstanden, nur weil er noch unter Windows 95 läuft". Letzteres hätte Wannabe wohl lieber nicht sagen sollen, denn im gleichen Moment erschien inmitten des eben noch so farbenfroh goldigen Rechnerdisplays ein recht eintöniges dunkelblaues Hinweiskästchen, das anschaulich und wortgewaltig weiß auf blau von einem fatalen Fehler sprach. Sekunden später verfinsterte sich der Bildschirm komplett, und der Rechner hing sich auf. Wenn man Charles Wannabe in diesem Moment ins entsetzte Gesicht sah, konnte man meinen, er würde es dem Rechner am liebsten gleichtun. Das Edelsteinglitzern seiner Augen war gänzlich verschwunden und wurde Sekunden später durch ein zorniges Funkeln ersetzt. Die Gesichtszüge entgleisten ihm, und dem offenstehengebliebenen Mund entfuhr ein: "Du elendiger Versagerkasten, was soll denn der Blödsinn! Ich hab die Faxen jetzt so langsam dicke! Alles läuft heute schief! Einfach alles!".

Damit wanderte Wannabes entrüsteter Blick auch schon weg vom unverändert schwarzen Bildschirm auf die goldene Rolex an seinem Handgelenk. Seine Stirn legte sich dabei nur noch mehr in Falten, und er murmelte verärgert: "0:07. Na bitte, sag ich's doch! Alles läuft schief! Laut Punkt 4 meines Zeitplans sollte der bestellte Cateringservice schon längst da sein. Ich hatte diesem Herrn Booker doch ganz deutlich 0 Uhr und 6 als Liefertermin genannt. Ich glaub, ich muß da noch mal anrufen! Sie gestatten doch?!". Lukas Svensson, der Wannabes steigender Erregung und den damit verbundenen Gefühlsausbrüchen die ganze Zeit sichtlich gelassen - wenn auch ein wenig erstaunt - gegenüberstand, nickte nur stumm. Charles Wannabe aber kramte aus seiner Anzugjackentasche sogleich nervös ein diamantbesetztes Smartphone hervor, tippte ein paar Ziffern auf dem bernsteinfarben hinterlegten Display an und führte es schließlich zum Ohr. Am anderen Ende meldete sich eine jugendliche Stimme: "Cateringservice Booker. Einen wunderschönen Guten Morgen! Was kann ich für Sie tun?". Wannabes verärgerte Antwort auf diese Frage ließ nicht lang auf sich warten: "Sie können mir zum Beispiel einmal sagen, wo meine Bestellung bleibt! Charles Wannabe hier! Sie erinnern sich vielleicht noch dunkel: Zwei Dutzend Lachs- und Kaviarschnittchen sowie eine Flasche edelster französischer Champagner um Mitternacht plus 6 an die Adresse 221B Baker Street". Am anderen Ende der Leitung waren ein Rascheln und ein verlegenes Räuspern zu vernehmen, dann meldete sich der Lieferant mit entschuldigendem Tonfall: "Oh, das tut mir aber leid! Da hab ich jetzt wohl die Adressen verwechselt. Ich hab die Bestellung nämlich gerade ausgeliefert, nur in die Jump Street Nummer 21 im Londoner Stadtteil Ratcliff. Muß wohl die Macht der Gewohnheit sein, denn 21 Jump Street war früher in den Staaten sozusagen mal jobtechnisch meine Stammadresse. Und ich hab mich schon gewundert, weil solch zwielichtige Gestalten, wie ich sie dort unter dem mysteriösen Firmenlabel 'F.C.Europe' eines gewissen Lou antraf, eigentlich seit meinem Ausscheiden aus dem amerikanischen Polizeidienst gar nicht zu meiner sonst so erlesenen Clientel gehören. Ich hoffe, Sie nehmen mir den kleinen Fauxpax nicht übel und erstatten mir trotz allem meine gesamten Unkosten in Höhe von ...". Weiter kam er nicht, da Wannabe bereits wutentbrannt sein Handy auf den Tisch geknallt hatte. Wild schnaufend murmelte er: "Exakt 241 Pfund ... Ich hätte es wissen sollen, schon sein Vorgänger bei dieser ominösen Partyservicefirma namens Johnny war ein unfähiger Depp! Und ich hab für unseren geplanten luxoriösen Mitternachtsimbiß extra auf mein allabendliches Dinner im Ritz verzichtet. Ich könnt mich echt in den versaceverhüllten Hintern beißen!". Lukas Svensson schüttelte augenzwinkernd den Kopf: "So verlockend dieser Anblick auch sein mag, ich hab da - glaub ich - eine wesentlich bessere Idee, die alle unserer momentanen Probleme mit einem Mal löst". Und schon angelte er seinerseits aus seinem - die ganze Zeit über den Arm gelegten Regenmantel - sein Klapphandy samt einem zusammengeknüllten Notizzettel. In aller Seelenruhe tippte er die Ziffernkombination des Zettels in das Tastenfeld des Handys ein und drückte abschließend die grüne Wähltaste. Bei ihm meldete sich am andern Ende eine für die fortgeschrittene Uhrzeit noch recht wache Stimme, die erstaunt fragte: "Hallo, Lukas, weißt Du eigentlich, wie spät es ist?! Was gibt es denn so Dringendes?!". Lukas Svensson erwiderte: "Also erstmal ist es nicht spät, sondern - ganz im Gegenteil - früh am Tage. Und zum anderen könnte ich hier gleich in doppelter Hinsicht Deine Hilfe gebrauchen. Sir Wannabe ist nämlich mal wieder mit seinem Latein so ziemlich am Ende, was die Tücken der modernen Technik angeht. Und der Magen hängt ihm auch schon in den Kniekehlen, was eine leichte Verstimmung desselbigen sowie seines Besitzers zur Folge hat. Vielleicht könntest Du ja beim Herkommen vom 'Ristorante Mama Lucia' noch drei Pizzen und einen dazu passenden Wein besorgen". Mit einem Blick auf den völlig niedergeschlagen wirkenden Wannabe fragte er: "Charles, für Sie mit extra viel Käse?!". Wannabe aber winkte nur müde ab: "Egal, ist ja eh alles Käse! Mein schöner Zeitplan!". Lukas Svensson grinste und beendete dann sein Telefonat mit den Worten: "Ok, Du hast es ja gehört! Dann bis gleich, mein Freund!".

Deprimiert ließ Charles Wannabe vor Svenssons Augen den Kopf auf die Tischplatte sinken, wobei er maulte: "Sie haben es gut, Sie haben wenigstens noch Freunde, die für Sie da sind, wenn Sie sie brauchen! Ich hab gar nichts! Keine Familie, keine Freunde, nicht mal mehr meinen Zeitplan!". Lukas spürte in diesem Augenblick ein Gefühl in sich aufkommen, das er in Verbindung mit Wannabe noch nie zuvor so gehabt hatte - Mitleid. Und so bewegte er sich, dieser Empfindung nachgehend, langsam auf Charles zu und legte ihm behutsam die rechte Hand auf die Schulter. Und mit beruhigender Stimme sprach er: "Sie haben sich in der Vergangenheit mit Ihrer recht eigentümlichen Art aber auch nicht gerade darum bemüht, sich Freunde zu machen". Erstaunt hob Wannabe sein gesenktes Haupt wieder ein wenig: "Mit meiner eigentümlichen Art?! Wie bitteschön meinen Sie denn das?!". Lukas zuckte leicht mit den Schultern: "Nun ja, um ehrlich zu sein, waren Sie, solange ich Sie kenne - wie formulier ich das jetzt bloß, ohne sie allzusehr zu beleidigen - naja, ein fieser Kotzbrocken eben. Ein eingebildeter, arroganter Schnösel. Ein echter Armleuchter ...". Wannabes herabgesenkter Kopf schnellte augenblicklich wieder in die Höhe: "Danke, das reicht schon! Ich glaube, das deckt sich eh so ziemlich mit dem Bild, das ich bislang von Ihnen hatte. Und bevor wir uns - wie einst in Yardtagen - jetzt gegenseitig noch mehr unschöne Dinge an den Kopf werfen, lassen Sie uns doch lieber schweigend auf das Eintreffen Ihres Freundes warten". Lukas Svensson nickte: "Mir solls recht sein. Das wird für uns beide bestimmt eine ganz neue Erfahrung. Über eine längere Zeit auf so engem Raum zusammen, ohne von beiden Seiten ausgehend eine verbale Schlammschlacht anzuzetteln?!". Und so verbrachten die beiden Ex-Kriminalisten die nächste Viertelstunde gemeinsam einträchtig in aller Stille, ohne auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Wannabe trommelte stattdessen zum Zeitvertreib mit den Fingerspitzen auf der Tischplatte, während Svensson leisen Schrittes im Büro auf und ab ging und hin und wieder die Lamellen der blauen Jalousien auseinanderdrückte, durch die er dann gedankenversunken hinaus ins Dunkel der Nacht schaute.

Es war schließlich Charles Wannabe, der das wohltuende Schweigen brach und die zuvor unterbrochene Unterhaltung wieder aufnahm: "Entschuldigen Sie, aber gestatten Sie mir doch bitte eine Frage! Wer ist es überhaupt, den Sie da mitten in der Nacht bei Eiseskälte durch halb London jagen? Muß wohl ein ziemlich guter Freund sein?!". Lukas Svensson nickte: "Ja, ein sehr guter! Einer, der im Moment gerade selbst eine unheimlich schwere Zeit durchmacht, auch wenn er nicht gern darüber redet. Und einer, dem dennoch für seine Freunde nie ein Opfer zu groß war und ist". Leise seufzend schaute Wannabe zu dem immer noch hinter ihm auf und abgehenden Svensson: "Was meinen Sie, Lukas, ob wir Beide jemals auch so etwas wie Freunde werden könnten?! Oder glauben Sie, dieser Gedanke ist einfach zu abwegig und absurd?". Lukas blieb unvermittelt stehen. Mit so einer Frage hatte er aus dem Munde Wannabes jetzt am allerwenigsten gerechnet. Der pensionierte Beamte grübelte einen Moment, dann erwiderte er: "Im Grunde genommen lautet meine Devise in dieser Hinsicht ja immer: Nichts ist unmöglich! Denken Sie doch zum Beispiel an so unterschiedliche Persönlichkeiten wie Sherlock Holmes und Doktor Watson". Charles Wannabe nickte: "Ja, oder Simon und Simon, Starsky und Hutch, Jack und McCabe, Bodie und Doyle, Crockett und Tubbs, Hardcastle und McCormick, Mike Stone und Steve Heller. Oder aber auch Dick und Doof". Einen Augenblick stutzte Lukas Svensson, hatte doch die letzte der von Wannabe aufgezählten Paarungen erst einmal gar nichts mit Krimi zu tun. Doch dann erkannte er darin die Gelegenheit, Charles Wannabe gehörig aufs Korn zu nehmen, indem er mit einem kurzen Blick herab auf sein stattliches Bäuchlein bemerkte: "Na, das war ja wohl eher ein Eigentor, Charlieboy! Denn dick sind Sie ja nun keinesfalls und schon gar nicht im Vergleich zu mir! Damit bliebe für sie wohl nur noch der andere Part. Doof gelaufen, was?!". Charles Wannabe ging nicht weiter auf Lukas Svenssons Bemerkung ein, bei ihm lag das Gewicht längst auf einer ganz anderen Frage: "Und wenn auch gemischtgeschlechtliche Paarungen gingen?! Dann hätte ich da nämlich noch Miss Marple und Mister Stringer, Dempsey und Makepeace, Hunter und DeeDee McCall oder das Model und der Schnüffler anzubieten".

Das zufällig begonnene, heitere Paareaufzählen fing ganz offensichtlich an, Wannabe zu gefallen. Er, der sonst stets so kühl, steif und unnahbar erschien, wirkte plötzlich gelöst. Seine ernsthaften Gesichtszüge hatten sich entspannt und wurden nun von einem breites Grinsen geflutet. War das tatsächlich noch derselbe Mann, der Lukas Svensson mit seiner überheblichen, intriganten Art einst bei New Scotland Yard das Leben so schwer gemacht hatte?! Man mochte es in diesem Moment kaum für möglich halten, und dennoch war es so! Svensson betrachtete seinen neuen Partner intensiv. Ja, es war ein und derselbe Mann, der momentan ganz in der Aneinanderreihung der unterschiedlichsten Pärchen der Film- und Fernsehgeschichte aufzugehen schien, und schließlich mit einem Augenzwinkern meinte: "Bliebe nur noch die Frage, wer dann von uns die Hosen anhat". Lukas Svensson hatte natürlich auch darauf schon die passende Antwort parat: "Das bin dann natürlich ich! Und sie mit Ihrer eh schon recht dämlichen Art tragen die Kleider. Wobei ich das Attribut dämlich jetzt nicht als uncharmante Umschreibung für bescheuert sondern vielmehr als ein - von der ehrenvollen Bezeichnung Dame abgeleitetes - Synonym für fraulich verstanden wissen möchte. Nicht, daß wir uns da mißverstehen!". Charles Wannabe zwinkerte: "Ich hab Sie alten Gauner schon recht gut verstanden, denk ich mal! Apropos Miss Verstehen - ist das nicht die unverheiratete, alles immer gleich in den falschen Hals bekommende Tochter von Mister und Misses Verstehen?! Aber nun mal wieder ernsthaft: Ich weiß gar nicht, wie Sie darauf kommen, daß ich irgendetwas Weibisches an mir hätte?!". Sich betont lässig und männlich auf seinen Stuhl lümmelnd, schaute er mit großen, erwartungsvollen Augen zu Lukas Svensson herüber, der daraufhin amüsiert anmerkte: "Nun ja, wer von uns beiden Hübschen hat denn schließlich, wie ich auf der Hinfahrt hierher zu meinem Erstaunen bemerken durfte, einen Schminkkoffer auf dem Rücksitz seines Autos liegen?! Und mal ehrlich: So gekonnt dezent, wie Sie sich schon zu unseren gemeinsamen Yardzeiten vor jedem Presseauftritt an einem stillen Örtchen nochmal die Wangen übergepudert haben, wären Sie mit ein paar zusätzlichen Accesoires wie Lippenstift, Perücke und Abendkleid ganz sicher auch gut und gern als ihre eigene Tante durchgegangen - Charlies Tante sozusagen. Vielleicht würde Ihnen ein derartiges Crossdressing am Ende sogar gefallen. Man weiß ja schließlich nie!". Charles Wannabe aber entgegnete sofort ein wenig empört: "Man vielleicht nicht, ich aber weiß das schon! Ich bin ja schließlich weder homosexuell noch sonst irgendwie pervers veranlagt". Damit verdrängte er diesen Gedanken auch gleich wieder und kam stattdessen unvermittelt noch einmal auf das Paarespiel von eben zurück. Wie ein Erstklässler riß er dabei mit geradezu kindlichen Eifer den Zeigefinger der rechten Hand in die Höhe und vermeldete: "Ein bedeutendes Pärchen der TV Krimihistorie haben wir übrigens eben bei unserer Aufzählung noch vergessen, mein Lieber! John Steed und Emma Peel". Lukas Svensson schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn: "Also Charles, wie konnte uns das nur passieren?! Wie kann man nur den zeitlosen Klassiker 'Mit Schirm, Charme und Melone' vergessen?! ... Also gut, in dem Fall bin ich dann aber John Steed. Einen Schirm hab ich nämlich zuhause, und Charme hab ich auch jede Menge ...". Hier fiel ihm Charles aufgeregt ins Wort, allerdings nicht, um ihm - wie sonst - zu widersprechen oder gar Beleidigungen an den Kopf zu werfen, sondern einzig und allein, um mit einem spitzbübischen Grinsen zu fragen: "Und was würden Sie dann sagen, wenn ich ganz beiläufig anmerke, daß ich schonmal als Baby eine Melone getragen habe, Johnny?". Lukas glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. Das war ja quasi die Traumvorlage zu einem cineastisch angehauchten Kalauer. Alle Achtung, soviel Humor hatte er dem ungehobelten Kauz Wannabe nun wahrlich nicht zugetraut. Andererseits war es ja vielleicht auch nur eine völlig ungewollte Doppelsinnigkeit, derer sich der gute alte Charles gar nicht bewußt war. Lukas beschloß, der Sache auf den Grund zu kommen und antwortete: "Nun, als Filmfan sähe ich mich versucht festzustellen, daß ich jetzt keinesfalls bereit bin, mit Ihnen ins Wasser zu gehen, um Hebefiguren zu üben?!". Charles Wannabe nickte wohlwollend - genau auf so eine Reaktion hatte er bei seiner kleinen filmreifen Anspielung ja gehofft - und brach dann allein bei der bildlichen Vorstellung jenes absurden Szenarios in ungezügelt schallendes Gelächter aus. Auch Lukas selbst mußte herzhaft lachen, wobei er schließlich bemerkte: "Entdecke ich da etwa am Ende sowas wie unerwartete Gemeinsamkeiten?! Ach Charles, wenn Sie wüßten! Gefühlte hundertmal hab ich mir mit meiner ersten Frau Nina 'Dirty Dancing' anschauen dürfen. Naja, ist nunmal ihr absoluter Lieblingsfilm, schon allein wegen Patrick Swayze. Ich steh ja mehr auf Julia Roberts in 'Pretty Woman'. Den liebt meine Yelena übrigens auch. Wenn auch wohl weniger wegen Julia, sondern eher wegen Richard Gere, dem Strauß roter Rosen und der schneeweißen Limousine am märchenhaften Happy End". Svenssons Blick verklärte sich mit einem Male. Er stand auf und ging wieder zum Fenster, wo er die Jalousien erneut mit seinen Fingern auseinanderpreßte und hindurchschaute. Sein Ohr lauschte dabei dem einsamen Klang des Saxophons, das unten auf der Straße gerade "Blue Moon" intonierte. Seine Augen wanderten dabei hinauf zu eben jenem Mond, der dank des anhaltenden Nebels heute nacht tatsächlich einen feinen blaugrauen Schleier zu tragen schien. Seufzend hauchte er: "Ach ja, meine Yelena. Sie liegt jetzt ganz allein in unserem warmen Ehebett, die Decke bis an die Nase hoch gezogen und wartet sehnsüchtig darauf, daß ich endlich nach Hause komme".

Auch in Lukas Svenssons Rücken seufzte es. Charles Wannabes eben noch so überschwengliche Heiterkeit kippte, und traurig sprach er: "Ach, wenn man Sie so reden hört, dann könnte man Sie glatt beneiden. Ich wünschte, auf mich würde heut nacht auch jemand warten: Jemand, mit dem ich nicht nur mein Bett, sondern auch meine Gedanken und all meine innersten Gefühle teilen könnte. Aber da gibt es leider niemanden! Meine Ehefrau Janet hat mich nach allen Regeln der Kunst belogen und betrogen. Sie war die Komplizin eines gemeingefährlichen Terroristen und ist durch ihn zur Mörderin an ihrem eigenen Vater geworden. Dann hat man sie angeschossen, und nun liegt sie schon seit drei Monaten unter polizeilicher Bewachung im Spezialtrakt eines staatlichen Pflegeheims im Koma. Manchmal bin ich ja fast versucht, sie dort zu besuchen, aber ich kann es nicht. Ich kann einfach nicht vergessen, was sie ihrem Vater und mir angetan hat. Und vergeben kann - nein, vergeben will ich es ihr erst recht nicht". Lukas Svensson drehte sich ruckartig zu Charles Wannabe um, und schaute ihn lange an. Die Ehe zu Janet Freakadelly, der eigensinnigen Tochter des späteren Yardchefs, war von Anfang an nur eine Zweckehe gewesen, die Wannabe als Sprungbrett für seine Karriere benutzt hatte. Die Beiden hatten nie eine wirkliche Liebesbeziehung zueinander gehabt, und ihre Scheidung war auch vor dem Mordanschlag auf sie ja schon beschlossene Sache gewesen. Mehr noch: Janet Wannabe hatte letzten Endes mittels einer fingierten Kurzmitteilung vom Handy ihres Mannes aus sogar versucht, ihm den skrupellosen Mord an ihrem Vater in die Schuhe zu schieben. Da konnte man Wannabes Unversöhnlichkeit irgendwie schon verstehen. Auch wenn sie ihn scheinbar doch sehr zu belasten schien, wie Lukas zwischen den Sätzen, die sein neuer Partner da so überraschenderweise ganz offen von sich gab, zu erkennen glaubte. Schon erstaunlich! Da dachte man, einen Menschen zu kennen, hatte sich über Jahre hinweg ein festes Bild von ihm gemacht. Dann kam eine Nacht wie diese. Die sorgsam aufgebaute Fassade des andern begann, langsam zu bröckeln. Und plötzlich entdeckte man an ihm ganz neue, unbekannte Seiten. Überaus menschliche, ja sogar fast liebenswerte Seiten, die einem den andern mehr und mehr symphatisch werden ließen.

Noch einmal gab Charles Wannabe einen leisen Stoßseufzer von sich: "Wissen Sie, Svensson, darum hab ich mich ja auch Hals über Kopf in dieses Abenteuer einer gemeinsamen Zusammenarbeit mit Ihnen begeben. Ich hoffe, daß mich die Arbeit in unserer Detektei ein wenig ablenkt, indem sie mir wenig Zeit zum stumpfsinnigen Grübeln über die Ereignisse der letzten Wochen und Monate läßt. Natürlich wollte ich auch endlich mal mein eigener Herr sein, was mir weder als Chefinspektor beim Yard im Schatten meines allgegenwärtigen Schwiegervaters Harold Freakadelly noch als Chef der Antiterroreinheit - wo mir der Außenminister und der Innenminister andauernd aus politischen Erwägungen auf die Füße traten - vergönnt war". Lukas Svensson geriet aus dem Staunen einfach gar nicht mehr heraus. Der selbstverliebte Karrierist Wannabe erschien ihm jetzt plötzlich in einem ganz anderen Licht. Eine Frage stellte sich ihm ihm dabei allerdings doch noch - eine, die ihm schon seit Wochen und Monaten unter den Nägeln brannte und die er jetzt auch endlich einmal offen zu stellen wagte: "Tja, aber warum fiel Ihre Partnerwahl für den beruflichen Neuanfang da ausgerechnet auf mich, wo wir doch - solang wir uns kennen - stets wie Hund und Katze waren?". Wannabe schwieg einen Augenblick, dann antwortete er bedrückt: "Nun, um das hier allein durchzuziehen, fehlten mir letztlich der Mut und die Mittel. Ein Großteil meines Geldes steckte schließlich in meiner explodierten Yacht, den Rest verschlingt nun nach und nach die medizinische Versorgung meiner Noch-Ehefrau. Und wie ich dann so darüber nachdachte, wer mit mir in dieses gewagte Unternehmen Zeit und Geld zu investieren bereit wäre, fiel mir eben kein anderer auch nur annähernd so Gutgläubiger ein wie Sie. Freunde hab ich ja wie gesagt keine, und einen gänzlich Fremden wollte ich mir auch nicht mit ins Boot holen. Man braucht ja auch jemanden an seiner Seite, dem man ein wenig vertrauen kann, nicht wahr?!". Lukas' Antwort auf diese eh mehr rhetorisch gemeinte Frage blieb aus. Er war einfach sprachlos. Aus Wannabes Mund klang die Schlußbemerkung ja schon fast wie eine versteckte, zarte Liebeserklärung an ihn.

Langsamen Schrittes begab Svensson sich - von seinem bisherigen Standpunkt deutlich abrückend - wieder an den Tisch, schob den Stuhl zur Rechten Charles Wannabes ein wenig zurück und setzte sich. Dabei kramte er aus der Brusttasche seiner Anzugjacke einen Stapel Fotos hervor, den er Charles mit den Worten überreichte: "Ich glaube, Sie haben jetzt mal ein wenig Ablenkung und Aufheiterung nötig. Vielleicht bringen Sie ja die Bilder von der Hochzeit mit meiner Yelena und unserer anschließenden Flitterwochenweltreise auf andere Gedanken. Wenn Sie mal schaun wollen?!". Charles Wannabe nickte, und dann antwortete er mit einem leichten Augenzwinkern: "Ja, ich will!". So vertrieben sich die beiden Männer, die in dieser Nacht auf dem besten Wege waren, echte Partner und - wenn es so einträchtig mit ihnen weiterging - vielleicht sogar noch so etwas wie gute Freunde zu werden, die Zeit mit Hochzeitsreiseschnappschüssen und den dazugehörigen Geschichten ...

01 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas übernimmt einen neuen Fall, Wannabe ist mal wieder ganz der alte]

Just als vom Parlamentsgebäude Big Ben - The Voice of Britain - ein Uhr schlug, war von der Bürotür her ein deutliches Klopfen zu vernehmen. Lukas schaute kurz auf und rief: "Die Tür steht Dir offen, mein Freund! Also nur herein, wenn's kein Schneider ist". Langsam wurde die Tür geöffnet. Ein farbiger Mann im langen schwarzen Mantel trat ein, und sprach mit ruhiger, fester Stimme: "Nein, ein Schneider ist es nicht, sondern ein Hirte - und das gleich im doppelten Sinn und in dreifacher Ausführung!". Damit trat er ein paar Schritte vor und machte so zwei weiteren nächtlichen Besuchern platz. Lukas Svensson war sichtlich erstaunt: "Pastor Shepherd?! Entschuldigung, aber ich hatte mit jemand anders gerechnet. Was verschafft uns denn die Ehre Ihres nächtlichen Besuchs?". Der Pastor reichte Lukas und Charles die Hand und sprach: "Naja, wir kamen mehr oder weniger zufällig hier vorbei, entdeckten das Schild mit dem mir vertrauten Namen neben der Eingangstür und sahen einen schmalen Lichtstreif am Fenster. Aber eh ich nun zu meinem Anliegen komme, darf ich mich und meine Kollegen vielleicht dem Herrn an Ihrer Seite erst einmal rasch vorstellen. Also, mein Name ist Marc Sheppard von der Saint Pauls Cathedral. Sie erinnern sich vielleicht noch an mich?! Ich war derjenige, der vor guten drei Monaten das Brautpaar Svensson getraut hat. Und meine beiden Begleiter sind zu meiner Linken Matthew Grave und zu meiner Rechten John Baptist". Nacheinander reichten die drei Würdenträger Wannabe die Hand, wobei dieser jeweils meinte: "Charles Wannabe, der Jüngere - von 'Wannabe Svensson'. Bitte setzen Sie sich!". Schließlich saßen alle drei Pastoren Lukas und Charles am Tisch direkt gegenüber. Pfarrer Shepherd aber ergriff sogleich das Wort: "Was uns zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu Ihnen führt, ist ein sehr schmerzlicher Verlust. Die meiner Gemeinde einst vom britischen Thronfolger Prinz Charles und seiner Gemahlin Lady Di anläßlich ihrer Vermählung geschenkte hölzerne Statue des Heiligen Paulus, jenes Namensgebers unserer altehrwürdigen Kathedrale, ist spurlos verschwunden. Wir haben natürlich sofort die Polizei gerufen, aber die meinten nur, über die Feiertage sei da nichts zu machen, frühstens im nächsten Jahr. Nun müssen Sie allerdings wissen, daß wir seit 1981 noch nie ein Weihnachtsfest ohne unseren hölzernen Schutzpatron gefeiert haben. Und es würde unseren zahlreichen Besuchern und vor allem den festen Gemeindemitgliedern im Herzen wehtun, wenn wir am morgigen Heiligen Abend mit dieser liebgewordenen Tradition brechen müßten ...".

Ohne weiter nachzudenken, unterbrach Charles Wannabe die Ausführungen des Pastors: "Was, um Himmels willen, ist denn so furchtbar tragisch, wenn Ihnen bei Ihrer kleinen alljährlichen Krippenshow um die nächtliche Stallgeburt Ihres christlichen Wunderknaben nun ein Holzkopf mehr oder weniger zuschaut?!". Den drei Geistlichen standen die Münder weit offen, und mit großen Augen schauten sie gleichzeitig zu Lukas Svensson herüber. Der hatte bislang nur dagesessen und nebenbei in aller Ruhe seine - über die komplette Schreibtischfläche verteilt liegenden - Flitterwochenfotos wieder in der Tasche seines Regenmantels verstaut. Jetzt aber warf der Pensionär einen gestrengen Blick auf Wannabe: "Nun, mein lieber Charlie, wenn es wirklich nur um einen Holzkopf mehr als Zuschauer ginge - ich glaube, ich könnte Sie morgen abend für ein oder anderthalb Stündchen entbehren. Ich weiß halt nur nicht, ob ich dem Herrn Pfarrer damit wirklich eine Freude machen würde". Und an Pastor Shepherd gewandt, ergänzte er schulterzuckend: "Sie müssen meinem neuen Partner die etwas abfällige Bemerkung schon verzeihen, aber er glaubt leider weder an Gott noch an dessen Sohn Jesus Christus". Pfarrer Goody Shepherd schaute mitleidig auf Charles Wannabe. Und während er sich eilends vor der Brust bekreuzigte, fragte er den ehemaligen kommissarischen Yardchef: "Ach je, und woran glauben Sie dann?". Wannabe dachte kurz nach, dann antwortete er: "Woran ich glaube? Nun, das ist einfach. Vor allem glaube ich an mich selbst und an die Macht des Geldes. Und ich glaube an die Theorie, daß das Universum durch einen Urknall entstand sowie daran, daß sich der Mensch mittels Darwinscher Evolution aus dem Affen entwickelte". Lukas Svensson schüttelte schmunzelnd den Kopf: "Ja, mein guter Charles, und wenn ich Ihnen manchmal so zuhöre, dann kommt es mir so vor, als stünden Sie mit Ihren teilweise recht affigen Ansichten noch immer ganz am Anfang jener Entwicklung".

Pastor Shepherd zugewandt, ergänzte Lukas: "Oh Gott, Herr Pfarrer! Ich für meinen Teil kann gut verstehen, wie bedauernswert dieser Verlust für Sie und Ihre Gemeinde sein muß! Ich hatte schließlich bei der Vorabbesichtigung Ihres Gotteshauses anläßlich meiner Trauung im September des Jahres ausreichend Gelegenheit, jene hölzerne Statue des Apostels Paulus zu bewundern. Ein wahrhaftes Meisterwerk der Holzschnitzerei und sicher von unschätzbarem Wert ...". Hier meldete sich nun wie auf Stichwort auch Charles Wannabe zu Wort: "Kann man diesen ach so unschätzbaren Wert nicht vielleicht doch mal in Zahlen ausdrücken, vorzugsweise in Englischen Pfund?!". Lukas schüttelte den Kopf über die kühle Berechnung, mit der sein Kompagnon auf die Kunde vom Verschwinden eines so wichtigen, gleichermaßen geistlichen wie nationalen Kulturgutes reagierte: "Aber Charles, es geht doch hier wohl um mehr als um schnöden Mammon, oder?!". Wannabe sah ihn verwundert an und zuckte mit den Schultern: "Wieso? Ich möchte doch nur wissen, was die olle verschwundene Holzfigur denn so wert ist, um daraus meine Schlüsse ziehen zu können, wieviel wir den Herren Schwarzröcken hier für die Wiederbeschaffung in Rechnung stellen können". Ein wenig beschämt schaute Svensson wieder zu den Geistlichen herüber und sprach: "Sie müssen schon verzeihen, meine Herren, aber mein Partner mit der kalten Schnauze ist heute mal wieder ein wenig sehr direkt. Natürlich geht es in erster Linie um die Wiederbeschaffung der verlorenen Figur. Und was die Kosten unserer Ermittlungen betrifft ...". Pastor Shepherd versuchte, an dieser Stelle einzulenken: "Nun ja, unsere Paulusfigur hat einen aktuellen reellen Schätzwert von 241 Pfund. Was allerdings den ideellen Wert für uns als Gemeinde betrifft, so liegt der sicher um ein Vielfaches höher". Wannabe rieb sich die Hände, wobei er zugleich klarstellte: "Ok, das freut mich zu hören! Bei einem für unser Gewerbe üblichen Kostensatz von 10 Prozent wären da sonst für unsere Detektei nur läppische 24 Pfund und 10 Pence herausgesprungen, aber so kann man sich sicher von vornherein auf 240 Pfund als Honorar einigen, zuzüglich einer Erfolgsprämie von weiteren 60 Pfund. Selbstverständlich dürfen Sie je nach Zufriedenheit auch gern mehr zahlen". Damit streckte er den Kirchenvertretern in freudiger Erwartung seine geöffnete rechte Hand entgegen, während Lukas Svensson zugleich peinlich berührt sein Gesicht in seinen beiden hohlen Handflächen zu verbergen suchte. Zögerlich starrten sich die drei Geistlichen gegenseitig an, schließlich sagte Pastor Shepherd: "Ehrlich gesagt hatten wir uns erhofft, daß Sie, weil doch Weihnachten ist ...". Wannabe zog seine ausgestreckte Hand wieder zurück und nickte nachdenklich: "Aber ja, natürlich. Morgen ist ja schließlich Heiligabend und übermorgen Weihnachten. Und weil das Weihnachtsfest das Fest der Liebe und des Schenkens ist, da dachten die Herren selbstverständlich, wir würden nun auch unsere Dienste verschenken. Was für eine schöne Idee ... Ne, meine Lieben, daraus wird nichts! Nur Bares ist Wahres! Und ob da nun Weihnachten oder Pflaumenpfingsten ist, das juckt einen Geschäftsmann wie mich herzlich wenig. Mir ist es auch egal, ob Sie dafür den Papst persönlich anpumpen müssen oder einfach Ihren Opferstock plündern. Fest steht auf jeden Fall: Entweder Sie zahlen, oder Ihr ganzes weihnachtliches Theater geht ohne uns und damit auch ohne den heißgeliebten Holzkasper über die Bühne. Was mich angeht, ist Weihnachten sowieso nur Humbug!".

Entsetzt schaute Lukas Svensson zur Seite. Da war sie also wieder, die altvertraute Maske des Sarkasmus und Zynismus, hinter welcher Charles Wannabe sich und seine eigene Verletzlichkeit vor seiner Umwelt zu verstecken suchte. Ebenso rasch wie er sie noch kurz zuvor gegenüber ihm endlich einmal hatte fallen lassen, hatte er sie nun wieder aufgesetzt. Seine zutiefst verletzende Spitzzüngigkeit ging sogar noch weiter, indem er - Lukas Svensson hämisch angrinsend - ergänzte: "Tja, da staunen Sie, mein Lieber, wie?! Als ob mir nicht längst klar wäre, daß Sie mit den Herren unter einer Decke stecken! Schließlich sind alle drei Gottesanbeter Ihnen ja keineswegs gänzlich unbekannt - der eine hat sie getraut, der zweite unseren Ex-Chef begraben und der dritte dürfte dann wohl Ihren Enkelsohn Luke getauft haben, wie ich annehme. Und nun machen sich jene drei Weisen aus dem Abendland - mit bürgerlichen Rufnamen Marc, Matthew und John - Ihren heimlichen Star Luke aufsuchend, auf den Weg in unseren eigentlich noch gar nicht eröffneten Ex-Bullen-Stall. Und hoffen tatsächlich, daß sich Klein Charlie von den drei Engeln unter Beigabe von etwas weihnachtlichem Weihrauchgeschwafel die Sinne vernebeln läßt. Der vereinte biblische Evangelisten-Vierer: Matthew, Luke, Marc und John - einfach himmlisch und doch auch leicht durchschaubar. Fehlt nur noch, daß jetzt Ihre dahingeschiedenen Eltern Maria und Josef auf einer Wolke hereinschweben und wir dann alle sieben gemeinsam um unsere sechs hölzernen Stühle herumtanzend zu den Klängen von 'Stille Nacht' die Reise nach Jerusalem spielen ...". Betrübt über Wannabes schwerwiegenden Rückfall in die Rolle des personifizierten Brechmittels erklärte Lukas Svensson, sichtlich um Sachlichkeit bemüht: "Daß sie bei dem Bittgesuch der drei hohen Herren eine Verschwörung mit meiner Person wittern, ist völlig aus der Luft gegriffen, mein lieber Charles - ebenso wie eben jene Wolke, mit der Sie meine toten Eltern unnötigerweise in die ganze Sache hineinziehen. Und wenn Sie sich nur um Ihren eigenen Profit sorgen, so kann ich Sie beruhigen. Ich komme für die gesamten Kosten der Ermittlungen auf, zuzüglich der von Ihnen geforderten Erfolgsprämie und allen weiteren noch anfallenden Spesen. Und nun kühlen Sie gefälligst mal ein wenig Ihr erhitzes Gemüt ab, das bei allem und jedem gleich eine bösartige Intrige gegen die eigene Person wittert. Und dann entschuldigen Sie sich erstmal in aller Form bei unseren Gästen. Ich für meine Person verzichte auf eine derartige Geste, ich kenne Sie ja schließlich schon lang genug, um auch mit Ihren häßlichen Seiten umgehen zu können".

Die kurze, ungewohnt eindringliche Standpauke Svenssons hatte gesessen. Wannabes Blick senkte sich reumütig der hölzernen Dielung des Fußbodens entgegen, und kleinlaut nuschelte schlußendlich sein zuvor so loses Mundwerk: "Na, also wenn das so ist, dann 'Schuldigung allerseits". Ein leichter Hieb traf den Ex-Yardchef im selben Moment in die Seite, und in sein rechtes Ohr raunte Lukas' Stimme leise: "Na bitte, geht doch, Sie oller geldgieriger Stinkstiefel!". Charles Wannabe hob sein gesenktes Haupt ein wenig und schaute zu Lukas herüber, der ihm - trotz des Bemühens um einen strengen Gesichtsausdruck - zuzublinzeln schien. Wannabe blinzelte vorsichtig zurück und knurrte etwas verlegen: "Das 'oller' verbitt ich mir aber, schließlich sind Sie der deutlich Ältere von uns Beiden". Svensson grinste nur: "Ersetzen Sie mal das Wort 'Ältere' durch das adäquate Wörtchen 'Weisere', und ich denke, man kann sich darauf einigen. So, und nun aber genug Süßholz geraspelt, mein Bester. Es gibt für uns schließlich einen Fall zu lösen, unseren allerersten gemeinsamen Fall. Und darum denke ich, sollten wir jetzt unser weiteres Vorgehen abstimmen. Wenn es Ihnen und unseren Klienten recht ist, dann treffen Sie sich mit Pastor Shepherd bei Tagesanbruch vor der Saint Pauls Kathedrale zu einem Lokaltermin. Und was mich angeht, ich hüte derweil hier unser Büro und sorge von hieraus für die notwendige Koordination der Ermittlungen". Lukas Svensson gähnte, während Wannabe zaghaft nickend verkündete: "Ok, einverstanden!". Auch die - ob der Ereignisse der letzten Minuten - noch immer sichtlich eingeschüchterten Geistlichen stimmten mit eindeutigen Auf- und Ab-Bewegungen ihrer mehr oder minder spärlich behaarten Häupter zu.

Die Kirchenvertreter wollten sich daraufhin schon zum Gehen wappnen, als Lukas Svensson sie mit einem beherzten Griff in seine Manteltasche kurzerhand doch noch ein wenig zum Bleiben aufforderte. Er hatte seine sicher verstauten Flitterwochenfotos wieder hervorgeholt und präsentierte sie nun auch den drei Pfarrern. Dazu erzählte er ihnen all die interessanten Erlebnisse, die sich während der Zwischenstops in Europa, Asien, Amerika und Afrika so zugetragen hatten. Die Gottesdiener gerieten dabei immer wieder ins Staunen, und Pastor Grave bemerkte schließlich am Ende der Fotoschau: "Was für eine Reise! Als jemand, der selbst recht wenig in der Weltgeschichte herumkommt, möchte man Sie fast beneiden. Und das nicht nur um Ihre Eindrücke, sondern auch um die Frau an Ihrer Seite, mein Lieber!". Lukas Svensson nickte: "Ja, meine Yelena ist zweifellos das Beste, was mir je passiert ist. Und ich bin froh, daß es sie gibt und daß ich sie mit Gottes Hilfe gefunden habe!". Anerkennend ergriff Pastor Baptist die Hand Svenssons: "Amen! Ein würdigeres Schlußwort für unseren Besuch bei Ihnen kann es wohl nicht geben. Ach Kinder, wie die Zeit vergeht, wenn man sich geistreich miteinander unterhält! So laßt uns denn aufbrechen! Sie Beide stürzen sich jetzt wohl kopfüber in die Ermittlungen, auf mich aber wartet in 7 Stunden bereits wieder ein Täufling und auf meine Kollegen, so weit ich weiß, am heutigen Tage noch vier Hochzeiten und ein Todesfall". Svensson und Wannabe verabschiedeten sich von den geistlichen Würdenträgern, und Lukas begleitete sie anschließend sogar noch bis zur Bürotür. Im Türrahmen drehte sich Pastor Shepherd dann noch einmal zu ihm um und flüsterte: "Gott segne Sie, mein Sohn! Nach allem, was ich gesehen hab, werden Sie es wohl hier an ihrer neuen Wirkungsstätte nicht immer leicht haben! Aber zum Glück haben Sie Ihren ungläubigen Partner ja scheinbar recht gut im Griff". Und an Lukas Svensson vorbeischauend fügte er etwas lauter hinzu: "Also dann, bis nachher, Herr Wannabe. Um 6 Uhr am Haupteingang der Kirche?!". Wannabe winkte dem farbigen Pfarrer zu und sprach: "Ja, genau, und bis dahin sollten die Herren Kuttenträger noch ein wenig schlafen. Besonders Sie, Pater Brown. Sie wissen ja: Wer schläft, der sündigt nicht!". Lukas aber zuckte nur noch einmal müde mit den Schultern und raunte mehr zu sich selbst als zu den bereits vondannen ziehenden Gottesdienern: "Er kann's nicht lassen!" ...

02 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas redet einem Freund ins Gewissen, Wannabe ist in einer gewissen freudigen Erwartung]

Kaum hatte Lukas die Bürotür hinter sich ins Schloß fallen lassen, da klopfte es erneut und ein leises Stimmchen verkündete von draußen: "Pizzaservice! Die Tür macht auf, das Tor macht weit ... hab nicht die ganze Nacht lang Zeit!". Svensson machte auf dem Hacken kehrt. Voller Elan riß er die Bürotür weit auf und jubelte: "Diese Stimme erkenne ich unter tausenden wieder! Spät kommt er, doch er kommt!". Aus dem Halbdunkel des Flurs rauschte mit leisem Surren ein elektrischer Rollstuhl in die neueröffneten, noch dezent nach frischer Wandfarbe duftenden Räumlichkeiten. Der Mann, der über einen kleinen Joystick an der rechten Armlehne jenen fahrbaren Untersatz geschickt lenkte, aber bemerkte nur kühl: "Du hast mich gerufen, hier bin ich, was kann ich für Dich tun?!". Ein leises Knurren war in diesem Moment recht deutlich aus Wannabes Richtung zu vernehmen. Doch diesmal war es nicht der Ex-CI7-Chef selbst, sondern vielmehr sein Bauch, der sich da recht deutlich zu Wort meldete. Der junge Mann in seinem Rollstuhl grinste: "Ah ja, hätte ich doch beinah vergessen! Schließlich lautete ja ein nicht ganz unwesentlicher Teil meiner um diese nächtliche Stunde nahezu unmöglichen Mission 'Essen auf Rädern'. In diesem Sinne: Eine Runde Mafiatorte für alle. Die eine mit einer zarten Käsekruste, die zweite mit weichem Schinken und die letzte mit herzhafter Salami. Und nun sagen Sie mal hübsch Cheese, Don Charlos". Charles Wannabe saß die ganze Zeit nahezu regungslos auf seinem Stuhl. Nun aber schaute er ein wenig finster drein und erwiderte: "Für Sie immer noch Sir Wannabe, Tiny Tim!". Der Rollifahrer schüttelte angestrengt den Kopf hin und her: "Na dann, für Sie noch immer Mister Hackerman, Sir!". Und mitleidig zu dem neben ihm stehenden Lukas Svensson heraufschauend, ergänzte er: "Der hat sich also geändert, wie?! Sein Spaßfaktor liegt jedenfalls auch weiterhin weit unter Null, soweit ich das auf den ersten Blick beurteilen kann. Aber vielleicht kann er ja noch auf anderer Ebene bei mir punkten. Was also ist das Problem, meine Herren?!". Wannabe zeigte gelangweilt auf den Laptop mit dem schicken Design, der direkt vor seiner Nase noch immer völlig untätig auf dem Tisch herumstand. Bewunderndt ließ Tim Hackerman einen leichten Pfiff durch seine schmale Zahnlücke ertönen: "Wow, ein echter Colani Blue von dem deutschen Nobeldesigner Luigi Colani! Top Design! Läuft der schon unter Windows 7 oder unter Windows Vista?! Oder vielleicht ganz innovativ unter Linux?!". Wannabes Kopf wurde von seinem Besitzer dreimal sachte hin und her geschüttelt, worauf Timmy in seinem Rollstuhl seine Befragung bezüglich des Betriebssystems zögerlich fortsetzte: "Windows XP? Oder gar Windows 98?". Wieder vollführte Wannabes ehemaliges Beamtenhaupt dieselbe eintönige Schüttelbewegung. Tim Hackerman konnte es kaum fassen: "Noch nicht mal Windows 98? Sagen Sie bloß, auf dem Teil ist noch Windows 3.11 installiert?!". Wieder reagierte Wannabe zunächst nur mit einem leichten Kopfschütteln, dann jedoch murmelte er leise: "Die richtige Lösung liegt - wie so oft - sozusagen in der Mitte. In diesem Fall bei Windows 95". Timmy Hackerman aber lachte aus vollem Halse los: "Meine Güte! Windows 95. Dann doch lieber gleich DOS. Kaum zu glauben! Sie betreiben ein solches Luxusdesignernotebook mit einem der miserabelsten und instabilsten Betriebssysteme, das es meiner Meinung nach je gab. Und dann wundern Sie sich ernsthaft, wenn Ihr kleines elektronisches Schatzkästchen schlappmacht?! Ok, Sie haben Glück! Ich hab hinter der Rollstuhllehne meinen Computernotfallkoffer festgeschnallt, da sollte sich auch eine CD ROM mit der Betaversion des revolutionären Macrosoft DOORS 007 befinden, welches von mir bereits im Jahre 2007 mitentwickelt wurde und die bis heute veröffentlichten Windowsversionen allesamt in den Schatten zu stellen weiß". Und während sich Svensson und Wannabe über die von Tim Hackerman mitgebrachten Pizzen hermachten, werkelte der Svenssonschützling eifrig an dem blauen Designerlaptop herum. Nur eine knappe Viertelstunde später war vonseiten Svenssons und Wannabes auch der letzte Krümel Pizza verputzt. Nur der junge Timmy brauchte noch ein paar Minütchen länger, bis er schließlich freudestrahlend verkünden konnte: "So, das wars! Und nun Gläser raus, die Herren, es gibt etwas zu feiern! Dank meines 007 dürfen sie Beide ihre privat ermittelnden Goldfinger wieder kräftig in die Tasten hauen. Und das Hochfahren ihrer edlen Bluebox dauert nur knapp eine Zehntelsekunde - 0.07 Sekunden eben, um ganz genau zu sein. Nur einen Bruchteil von der Zeit also, die mich das Hochfahren in ihrem neu einbauten Lift gekostet hat", Und während er eine große Flasche Glühwein aus einer seitlich am Rollstuhl angebrachten Tragetasche hervorzog und sie an Svensson weiterreichte, ergänzte er: "Danke übrigens, Lukas, daß Du Dich so für den Einbau eines Fahrstuhls in das alterwürdige Gebäude hier eingesetzt hast. Du ahnst ja gar nicht, wieviele Orte mir mit meinem momentanen Handicap unzugänglich bleiben".

Traurigkeit kehrte dabei ein in das Gesicht des eben noch so überglücklich scheinenden Tim Hackerman. Eine deprimierende Traurigkeit, der Lukas durch das Hervorholen dreier Sektgläser aus der kleinen Kommode mit den beiden Glastüren zur Rechten des Schreibtischs zu begegnen suchte. Er stellte die Gläser zügig auf dem Schreibtisch ab, kramte aus seinem Mantel ein Schweizer Taschenmesser hervor und rückte mit dem daran befindlichen Flaschenöffner dem Kronkorken der mitgebrachten Glühweinflasche zu Leibe. Mit lautem Plopp gab der Metallverschluß seinen anfänglichen Widerstand gegen die bewaffnete ehemalige Staatsgewalt rasch auf, worauf Svensson den - zuvor aus Trauben erpreßten und anschließend mit Zucker und allerlei wohlriechenden Gewürzen seinem natürlichen Bouquet beraubten - Trunk gleichmäßig in die Sektkelche verteilte. Die drei Männer ergriffen je eines der Gläser, und Lukas und Tim prosteten sich zu. Charles Wannabe aber reckte sein Glas anfangs recht zögerlich in die Höhe und vermeldete dann in feierlichem Ton: "Das ist für uns alle, die wir uns zu so früher Stunde hier eingefunden haben, nunmehr ein ganz besonderer Moment. Und so erhebe ich mein Glas auf den besten und kompetentesten Partner, den ich mir vorstellen kann! ... Unseren neuen Laptop ... Ach ja, ok, und auf Sie natürlich auch, Svensson!". Daraufhin nahm er einen kleinen Schluck von jenem weihnachtlichen Getränk, dann schüttelte er sich demonstrativ und verzog dabei sein Gesicht. Sein Blick schweifte zu dem Etikett der - abseits auf der Kommode abgestellten - grünen Flasche, wozu er raunte: "Zimtgeschwängerter, süßer Billigrotwein aus einem Sektglas. Meine Güte, womit hab ich das nur verdient?! Vor wenigen Wochen noch hab ich noch mit den oberen Zehntausend diniert, und heute nacht befinde ich mich quasi allein unter Bauern. Was für ein bitterer gesellschaftlicher Abstieg. Na dann mal Prost!". Mit zusammengekniffenen Augen leerte er sein Glas in einem einzigen Schluck, stellte es zur Seite und widmete sich stattdessen seinem blauen Edellaptop, welcher dank dem rasanten neuen Betriebssystem gerade zur Höchstform auflief. Wannabe griff zur Maus, jagte sie über den zugehörigen Mousepad und klickte mal hier mal da auf eine ihrer beiden Tasten. Je öfter er das tat, desto stärker zogen ein paar Fältchen auf seiner sonst so makellos gestrafften Stirnhaut ein. Die tolle stylische Benutzeroberfläche des entspiegelten Bildschirms schien den Ex-Yard-Chef sichtlich zu überfordern, und so sah er sich - um dies vor Lukas und Tim nicht eingestehen zu müssen - genötigt, jemanden anzurufen, der sich womöglich besser mit so etwas auskannte als er. Er griff erneut zu seinem schmucken Smartphone, tippte ein paar Ziffern an und begab sich dabei langsam schreitend in Richtung Bürotür. Dort angekommen warf er noch einen flüchtigen Blick zurück und sprach: "Ich klingele nur rasch unsere Sekretärin aus dem Bett. Schließlich bin ich ja in ein paar Stunden schon in der Kirche, und Sie, mein bester Svensson, haben ja keinen Schimmer von unserem Rechner und all seinen diversen Funktionen. Sie entschuldigen mich, aber draußen im Flur ist der Empfang einfach besser". Sprachs und öffnete mit dem Telefon am Ohr die Bürotür, nur um sie eine Sekunde später wieder hinter sich zuzuziehen.

Verdutzt schaute Tim Hackerman in seinem Rollstuhl zu seinem väterlichen Freund Lukas Svensson hinüber: "Was ist denn mit dem los? Der ist ja noch kauziger als sonst!". Lukas aber zwinkerte seinem Schützling zu und flüsterte: "Ich glaub, der alte Griesgram hat schon heimlich ein Auge auf unsere zukünftige Schreibkraft geworfen. Mir ist nämlich aufgefallen, daß immer, wenn ich nach dem Vorstellungsgespräch, welches er im Vorfeld mit ihr führte, ihren Namen erwähnte, seine Augen so merkwürdig zu glitzern begannen". Timmy war neugierig: "Alter Schwede! Du meinst also, da geht noch was bei den Beiden - quasi in einer Neuauflage von 'Die Schöne und das Biest'?!". Svensson erhob leicht drohend den Finger, und sprach - ein Schmunzeln nicht unterdrücken könnend: "Also erstmal bin ich kein Schwede, auch wenn mein Name so klingen mag. Und zum andern verbiete ich mir, daß Du den ollen Miesepeter Wannabe als Biest bezeichnest. Gerade jetzt, wo er und ich uns theoretisch ein wenig näher kommen und damit auf dem besten Wege sind, Freunde fürs Leben zu werden. Was allerdings die Sache mit unserer Sekretärin angeht, da könntest Du recht haben - da geht vielleicht wirklich noch was. Apropos, wie stehen die Dinge eigentlich mit Dir und Deiner kleinen Freundin Sabrina Meltstone. Seit Deiner mißglückten Bein-OP hast Du mir gar nichts mehr erzählt von ihr. Und dabei wart ihr doch vor dem Eingriff schon ein Herz und eine Seele". Timmys Blick trübte sich. Mürrisch und aufbrausend erwiderte er: "Wie die Sache steht?! Ha, sie STEHT gar nicht. Weder auf zwei festen Beinen, noch auf einem wackligen. Sie ROLLT zurück und überholt sich selbst. Es gibt keine Besuche mehr von ihr und keine schmachtenden Blicke zwischen uns. Es ist aus! Aus, verstehst Du! Aus und vorbei, so wie meine Hoffnung auf ein selbstbestimmtes, normales Leben ohne diesen Drecksstuhl, der mich in allem lähmt, was das Leben schön macht. Nein, Lukas, wir sehen uns nicht mehr! Und das ist auch gut so. Sabrina ist noch zu jung, als daß sie sich mit einem Krüppel wie mir belasten sollte". Lukas war sichtlich erschrocken: "Hat sie Dir das so gesagt?". Tim Hackerman drehte seinen Kopf zur Seite: "Nein, das hat sie nicht gesagt! Aber gedacht hat sie es bestimmt. Jeder normale Mensch denkt so und will sich nicht mit so einem wie mir belasten". Svensson ging leicht in die Knie, um mit Timmy auf Augenhöhe zu gelangen. Dabei ergriff er die Schulter des Jünglings und sagte: "Aber Du warst Dir eurer doch so sicher! Du hast mir doch anvertraut, sie sei Deine große Liebe und Du auch die ihre, wie sie Dir dutzendfach versichert habe?!". Timmy drehte seinen Kopf schlagartig zurück, und Lukas starrte mit einem Male in ein wutentbranntes Paar Augen und auf einen weit aufgerissenen Mund, der ihn förmlich anschrie: "Das war vor der OP! Was soll ich jetzt schon noch mit dieser achso tollen Erkenntnis anfangen?! Soll ich mir etwa vor Freude auf die Schenkel klopfen?! Klar, warum nicht?!". Damit formten sich seine Hände schlagartig zu Fäusten, die unaufhörlich auf die regungslosen Oberschenkel einzutrommeln begannen. Tränen rannen dabei über Tim Hackermans Gesicht - aber das war kein Ausdruck des Schmerzes, sondern ein Ausdruck verbitterter, ohnmächtiger Verzweiflung. Verzweiflung über ein schreckliches Schicksal, daß ihn von nun an ohne jede Aussicht auf Heilung an den Rollstuhl fesselte. Und lauthals schluchzend brüllte es aus ihm heraus: "Sieh doch! Nichts! Tot bin ich, unten zur Hälfte komplett abgestorben. Ich fühle nichts, so sehr ich mir auch selbst wehtue! So sehr ich mich auch selbst zu verletzen versuche, ich spüre hier unten in beiden Beinen nichts mehr! Einfach gar nichts!". Lukas Hände packten entschlossen Timmys Fäuste, unter deren harten Hieben die Oberschenkel wohl schon ganz grün und blau geschlagen sein mußten. Er wartete ab, bis der wütende, selbstzerstörerische Kampf im Innern seines Schützlings langsam zum Erliegen kam. Dann richtete Lukas seinen ausgestreckten, zitternden Zeigefinger langsam auf Timmys linke Brust und raunte: "Und da! Unter Deiner Brust, in Deinem Herzen, da pocht das junge Leben so ungestüm und wild - so lebendig. Hör mal genau in Dich hinein, wie stark und fest es schlägt! Ich beneide Dich um so ein kräftiges, junges Herz. Hör auf Dein Herz, bevor Du Deiner großen Liebe endgültig Lebwohl sagst! Eines Tages wirst Du es bereun - dann, wenn Du mit einer einsamen, welkenden Rose in der Hand und einem Tränenschleier vor Augen an ihrem kühlen Grab stehst. Aber dann ist es zu spät! Also denk nach, was Du ihr damit antust - und vor allem, was Du Dir selbst damit antust". Timmy ließ seinen Kopf kraftlos auf seine Brust sinken. Sein Ohr aber vernahm darunter jenes leise Pochen seines Herzens, von dem Lukas gerade gesprochen hatte. Sein alter, weiser Freund hatte recht - da war noch jede Menge Leben in ihm. Ein Leben, das gemeistert werden wollte, mit all den Hindernissen und Barrieren, die sich ihm und seinem fahrbaren Untersatz in Zukunft so zahlreich in den Weg stellen würden. Allein und aus eigener Kraft würde er all die Herausforderungen sicher nicht bewältigen können. Aber vielleicht ja mit ein wenig Hilfe seiner Freunde und - wer weiß - womöglich auch mit der richtigen Frau an seiner Seite.

Die Bürotür wurde aufgestoßen, und Charles Wannabe kam freudig erregt in den Raum zurück: "Sie kommt gleich! Sie hat gesagt, daß sie kommt!". Sein leicht federnder Gang endete abrupt und ging nach einer Sekunde nahtlos in das übliche leicht verkrampfte Stolzieren seines nobelgekleideten Körpers über. Meine Güte, wie hatte er sich allein aufgrund des einsamen Gedankens an das bevorstehende Eintreffen einer einfachen Bürokraft nur so gehen lassen können?! Ein einzelner Schweißtropfen bildete sich kurzzeitig auf seiner Stirn, verschwand aber ebenso rasch wieder, nachdem Wannabe aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, daß die beiden anderen anwesenden Männer im Moment offenbar viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt waren, um seinen unkontrollierten Auftritt bemerkt zu haben. Stattdessen registrierte Charles nunmehr bei genauerem Hinsehen das verweinte Gesicht Tim Hackermans und das bedrückte Antlitz des neben ihm hockenden Svensson. Die Unsicherheit in Wannabe wich wieder der seinem Wesen eigenen, leichten Überheblichkeit, mit welcher er nachfragte: "Hab ich hier was verpaßt?! Was hat Euch beiden, Trübsal blasenden Trauergestalten denn so plötzlich die Petersilie verhagelt?! Ist unserm kleinen Computergenie etwa ein USB-Stick zerbrochen?! Oder hat der große, alte Svensson sich an der Auftaupizza den empfindlichen Magen verdorben?!". Statt auch nur eine Sekunde eine mögliche Antwort abzuwarten, erklärte er mit einer einfachen abschätzigen Handbewegung: "Ach, ist ja auch egal, ich schnappe jetzt erstmal ein wenig Frischluft". Damit bewegte er sich mit der gewohnten Anmut eines männlichen Topmodels zum Fenster und zog dort im festen Zugriff beider Hände die Lamellen der Jalousie auseinander. Draußen hatte es inzwischen heftig zu regnen begonnen. Der Saxophonist auf der Straße war in den gegenüberliegenden Hauseingang geflüchtet und hatte dort sein blechernes Instrument zur Seite gestellt. Stattdessen war nun sein mitgeführter Ghettoblaster halb aufgedreht, wodurch wildhämmernd - einem leichten Erdbeben gleich - die dumpfen Bässe einer Technoversion von "When The Rain Begins To Fall" zu venehmen waren. Wannabe schien ganz berauscht von den - ebenso deutlich hörbar im fast gleichen Rhythmus auf Dächer und Fensterscheiben - herabprasselnden Regentropfen. Er zog ihretwegen jetzt die Jalousie sogar komplett nach oben und riß mit einem gekonnten Griff das Fenster sperrangelweit auf. Dann krallte er sich mit beiden Händen fest in dessen hölzernen Rahmen und lehnte sich weit aus dem Fenster hinaus. Direkt vor seinen Augen durchzuckte ein Blitz den dunklen Nachthimmel, dem eine Sekunde später ein heftiges Donnern folgte. Und während der Ex-Yard-Chef die frische Regenluft durch seine, hoch zum Himmel emporgereckte Nase tief in sich einsog, tuschelte in seinem Rücken die wohlvertraute Stimme Svenssons: "Tja, Timmy, so kennen wir ihn, unseren Möchtegern-Charlie! Stets ein wenig hochnäsig bei donnerndem Applaus im Blitzlichtgewitter badend". Tim Hackerman, der gerade noch dabei war, seine Tränen mit einem Papiertaschentuch zu trocknen, mußte nun unweigerlich schmunzeln. Charles Wannabe aber überhörte den kleinen Seitenhieb seines alten Kollegen - der sich gerade anschickte, sein neuer Partner zu werden - wohlwollend. Stattdessen hielt er auf der Straße Ausschau nach einem ganz bestimmten Wagen, der jede Sekunde um die Ecke gefahren kommen konnte. So wartete er letztlich noch geschlagene 36 Minuten, bis er endlich da war - jener ersehnte Moment und mit ihm jener weinrote Ford, welcher nun in rasantem Tempo näherkam und schließlich direkt vorm Haus hielt. Unter einem großen, rasch aufgespannten Regenschirm entstieg dem Auto auf hochhackigen Pumps eine schlanke Frauengestalt und tippelte im Eiltempo zum Hauseingang, indem sie sogleich verschwand. Augenblicke später setzte sich im Gebäudeinneren geräuschvoll der Fahrstuhl in Bewegung und stoppte schließlich im Obergeschoß. Auf dem Flur war das Klackern von Pennyabsätzen zu vernehmen, dann herrschte erwartungsvolle Stille ...

03 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas wird recht zügig abgefertigt, Wannabe hat letztendlich freie Bahn]

Ein zartes Pochen durchdrang die Bürotür, und nur einen Herzschlag später ein nicht minder zartes Stimmchen: "Jetzt kommt die Süße, Dein kleines Engelein. Die steht hier draußen und tritt jetzt ein". Die Tür sprang auf, und in ihrem viereckigen Rahmen erschien ein Bild von einer Frau. Sie war jung und wunderschön und trug über ihren glitzerroten Pumps mit den hohen Absätzen eine schwarze Nylonstrupfhose, die jene langen, schlanken Beine umhüllte, welche irgendwo weiter oben in einem schwarzledernen Minirock endeten. Oberhalb des Rockes, der in Lukas' Augen eher als extrabreiter Gürtel zu bezeichnen gewesen wäre, schloß sich - unter einer offengelassenen roten Lederjacke - ein sonnengelber Strickpulli an, unter dessen weiten Maschen sich in Brusthöhe ein weißer Spitzen-BH erahnen ließ, wenn man genauer hinsah. Und die drei anwesenden Herren sahen genauer hin, wie die offenstehenden Münder der plötzlich erstarrten versammelten Männerriege unschwer erkennen ließen. Das blondhaarige, sommersproßige Lockenköpfchen, welches jene bestaunenswerte, wohlgeformte weibliche Gestalt nach oben hin abrundete, klimperte ein wenig verlegen mit den langen Wimpern. Dabei hielt ein süßes Lächeln zwischen den rotgeschminkten Lippen Einzug, während ihre erotisierende Stimme hauchte: "Oh, Charles ... äh Mister Wannabe, Sir, ich wußte ja nicht, daß Du ... daß Sie nicht allein im Büro sind". Zaghaft schaute sie dabei zu Svensson herüber und ergänzte verlegen: "Guten Morgen, Mister Svensson, Sir! Freut mich, Sie hier einmal unter anderen Umständen wiederzusehen! Also, ich meine die Umstände, daß wir uns hier nun in anderen Räumlichkeiten befinden als früher im Yard. Und nicht etwa, daß ich in anderen Umständen ... Von wem denn auch, und außerdem nehm ich ja meine Pille in der Regel regelmäßig ... Also jetzt nicht nur in der Regel, sondern vor allem außerhalb von ihr ... Ach, was sag ich denn da, ich red ja schon wieder viel zu viel!". Damit steckte sie ihren feuchten Regenschirm in Ermangelung eines Ständers kurzerhand in den Papierkorb neben der Tür und trat dann mit einem leichten Wippen ihrer lederumhüllten Poebene auf den Ex-Inspektor zu. Sie streckte ihm das schmale Händchen mit den rotlakierten Nägeln entgegen. Svensson aber ergriff die Gelegenheit und die Hand. Und nachdem er letztere schließlich lange genug sichtlich gerührt geschüttelt hatte, langte er neben sich in die Kommode und reichte Claudia ein weitere Sektglas, in das er daraufhin aus der - vom Korken befreiten - Glasflasche einen gehörigen Schuß Glühwein einfließen ließ. Claudia nippte vorsichtig daran und lallte: "Aber nur einen winzigen Schluck, Sir Lukas, sonst steigt er mir nämlich in den Kopf. Und wenn ich erstmal einen Schwips habe, dann wird mir innerlich immer so schrecklich heiß, daß ich gleich alle Hemmungen und Hüllen fallen lasse. Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie das ist!". Svensson schüttelte eifrig den Kopf. Sich das vorstellen können hätte er freilich schon vermocht, nur dürfen wollte er es als glücklich verheirateter Mann eben nicht. Timmy, der - aufgrund ihrer momentanen Stellung - die Brustpartie der Blondine quasi die ganze Zeit über direkt und unausweichlich im Blick hatte, ließ hingegen scheinbar all seinen diesbezüglichen Vorstellungskräften freien Lauf und versuchte, sich nun seinerseits dem imposanten Geschöpf bemerkbar zu machen. Dazu stammelte er ein wenig heiser: "Halli, Hallo ... Ich bin ... also ich bin der Hacker ... man, ne ... der Hacki Timmerman ... Blödsinn, Tim Hackerman, mein ich. Daß ich hier ... im Sitzstuhl rolle ...äh, Rollstuhl sitze, das kam durch ... einen Fall ... äh, ne, Unfall. Und ich muß jetzt mal ... also mal sagen, daß Sie ... also Sie haben da zwei ... äh ganz beeindruckend schöne ... äh, ja, Augen". Sichtlich geschmeichelt reichte die blonde Schönheit nun auch dem Svenssonschützling ihr Händchen und säuselte: "Angenehm, Mister Hackerman. Wenn mich nicht alles täuscht, dann sind wir uns schonmal früher beim Yard über den Weg gelaufen ... äh ja, damals konnten Sie ja noch ... also laufen ... Ok, wie dem auch sei, mein Name ist jedenfalls Claudia, Claudia Palmer. Dankeschön für das zauberhafte Kompliment, was meine Augen angeht! Sowas Nettes hat mir noch keiner gesagt! Wissen Sie, Sir Tim, die meisten Männer glotzen mir ja immer nur auf die Oberweite. Dabei bildet doch die nur einen kleinen Ausschnitt dessen, was meine gesamte Persönlichkeit ausmacht". Sie strahlte dabei übers ganze Gesicht. Timmy aber, der sichtlich errötend rasch seinen Blick von Ihrem Busen löste, verlautbarte stotternd: "Ja, also ich ... äh die meisten ... Männer sind Schweine ... Aber es ... es gibt immer Ausnahmen ... irgendwo ... Man ... also eigentlich nicht Mann, sondern Frau ... muß sie nur ... naja, suchen ... Was ich damit sagen wollte ... ja, was wollt ich eigentlich nochmal sagen ... ach ja, ich bin da halt anders ... also, jetzt nicht anders wie andersrum oder so ... ich steh schon auf Frauen ... nur eben mehr auf die verborgenen Dinger ... äh, Dinge ... innere Werte sozusagen ...".

Svensson und Wannabe hatten sich während Timmys etwas ungeschicktem Erklärungsversuch köstlich amüsiert. Jetzt aber erlöste Charles Wannabe den schon schweißgebadeten Hackerman aus dessen spürbarer Misere mit einem seiner gewohnt uncharmanten Einwürfe: "Was unser noch pubertierender Cityroller damit eigentlich sagen wollte, ist, daß ihn bei einer Dame vor allem das interessiert, was sich unter der kleiderbedeckten Oberfläche verbirgt. Wenn ich Sie also bitten dürfte, abzulegen, mein teuerstes Fräulein Claudia. Ich denke mal, fürs erste dürfte das feuchte Jäckchen genügen". Die ehemalige Sekretärin des ermordeten Yardchefs Freakadelly ließ sich von Wannabes recht geschickten Fingern aus der - im strömenden Regen etwas klammgewordenen - Jacke helfen und bedankte sich dafür brav und tugendhaft bei ihm mit einem fast höfischen Knicks und einem vielsagenden Zwinkern in seine Richtung. Dann strich sie sich noch rasch den Minirock glatt und zupfte hier und da noch ein wenig an ihrem Pulli, während sie - erneut dezent mit ihrem Gesäß kreisend - hinter den Schreibtisch tippelte und sich dort ohne Umschweife auf dem mittleren Stuhl niederließ. Charles Wannabe ging ihr nach. Und während er sich auf dem Stuhl zu ihrer Linken plazierte, konnte Lukas nicht umhin, sich seinen Partner als ein wild schwanzwedelndes Hündchen vorzustellen, daß seinem Frauchen mit heraushängender Sabberzunge folgte. Wannabe selbst hatte sich inzwischen auffällig unauffällig zu Claudia hinübergebeugt, und obwohl er ja keinen Schimmer von dem neuaufgespielten Betriebssystem des vor ihnen stehenden Laptops hatte, gab er sich sofort gespielt fachmännisch. So deutete er gezielt auf ein bestimmtes Bildschirmsymbol und sprach dazu: "Das, also das da, was so aussieht wie der kleine Bruder von dem angestaubten Aktenschrank hinter uns, das ist ...". Charles geriet ins Grübeln. Claudia hingegen, die derweil im Ausschnitt ihres Pullis geangelt und dabei eine - am Ende ihres Halskettchens angebrachte - schmale Brille hervorgeholt und auf ihr Stubsnäschen gesetzt hatte, warf einen kurzen Blick auf den Monitor und das mysteriöse Symbol, wonach sie begeistert ausrief: "Meine Güte, das ist das intelligente Datenverwaltungssystem X-FILE S aus der amerikanischen Softwareschmiede DANA & FOX. Extraterrestrisch gut und speziell entwickelt für das geniale Macrosoft-Betriebssystem DOORS 007". Charles Wannabe war sichtlich überrascht: "Sie kennen dieses System, Fräulein Palmer?". Die Angesprochene rückte ihre Brille auf der Nase ein wenig nach unten, und erklärte dann - aufreizend über deren Gläser hinweglinsend: "Tja, vor meiner Anstellung im Yard hab ich mich ein paar Jahre in der walisischen Hackerszene herumgetrieben, die maßgeblich am Austesten der verschiedenen Komponenten und am konsequenten Fixen anfänglich aufgetretener Bugs beteiligt war". Erneut standen die Münder der anwesenden Herren weit offen. Tim Hackerman aber stupste seinem Nebenmann Lukas leicht in die Seite und flüsterte anerkennend: "Wow! Eine Klassefrau! Hart, aber herzlich - diese Claudia. Gegen die sieht selbst Crofts Lara blaß aus!". Wannabe ließ sich derweil nicht anmerken, daß ihm durch Claudias ungeahntes Insiderwissen, was seinen Versuch anging, ihr über die Benutzeroberfläche seines Laptops nebenbei auch seine eigenen männlichen Vorzüge noch eingehend näherzubringen, die Felle langsam wegzuschwammen. Stattdessen bemühte er sich deutlich um Schadensbegrenzung und ging gleichzeitig weiter auf Tuchfühlung mit der schönen Blonden, indem er sich von ihr in einem mehr als halbstündigen Exkurs die gesamte mitinstallierte Software eingehend erläutern ließ. Immer wieder griff er dabei zeitgleich mit Claudia nach ihrer Maus, wobei seine kräftige Hand die ihre jedesmal wie zufällig streifte. Und stets raunte er dann ein wohl kaum ernstzunehmendes: "Verzeihung! War keine Absicht!". Am Ende von Claudia Palmers Ausführungen bemerkte er schließlich, äußerlich völlig unbeeindruckt erscheinend: "Ok, ich seh schon, man kann Sie mit unserem Rechner durchaus allein lassen. Das beruhigt mich sehr, da ich ja schon bald zu einem bedeutenden Außeneinsatz muß. Der langsam ergrauende Exkriminalist an meiner Seite hat ja - im Gegensatz zu uns beiden Hübschen - keine Ahnung, was moderne Technik angeht. Der kann nämlich nur mit dem Rechenschieber umgehen und verwechselt ohne fremde Hilfe sogar einen Taschenrechner mit einer TV-Fernbedienung". Drohend erhob Lukas Svensson die zur Faust geballte Rechte in Richtung Wannabes: "Passen Sie bloß auf, mein Freund, daß ich Ihren Angeberschädel in einem plötzlichen Anflug seniler Wahnvorstellungen am Ende nicht noch mit einem Sandsack verwechsele". Von diesem Zwischenruf seines Partners ließ sich Wannabe keineswegs aus seinem Konzept bringen. Ganz im Gegenteil, er konterte sofort mit einem müden: "Na dann mal Ring frei, Rocky Senior!". Und dann ergänzte er seine Ausführungen an Claudias Adresse durch: "Ach ja, und was unseren Milchreisbubi Timmy in seinem Fernsteuer-Buggy betrifft - der ist doch schon längst überfällig, was das altersentsprechende Ins-Bettchen-Gehen angeht. Nicht, daß wir noch Ärger mit der Jugendbehörde bekommen, wegen nächtlicher Beschäftigung eines Minderjährigen". Claudia blinzelte verschmitzt zu Tim Hackerman herüber, wozu sie vielverheißend raunte: "Ach, der junge Mann sieht aber noch ganz munter und ausgesprochen fit aus. Was allerdings das Zu-Bett-Bringen angeht, da wär ich ihm als ehemaliges Au-Pair-Mädchen gern behilflich. Ich hätte übrigens schlafvorbereitend auch noch ein paar Ideen für äußerst unterhaltsame Bett-Geschichten". Timmys Augen strahlten, und seine Lippen formten ein lautloses "Au fein!". Lukas Svensson hingegen mußte bei der Erwähnung des Wortes Bett unweigerlich an sein weiches, kuschligwarmes Federbett denken und an seine nicht minder weiche, kuschligwarme Frau und begann zu gähnen. Charles Wannabe aber knurrte zähneknirschend: "Ich glaub ja ehrlichgesagt nicht, daß es nötig ist, Herrn Hackerman gleich ins Bett zu begleiten. So jung und unbeholfen scheint mir der Knabe dann doch wieder nicht. Der findet den Weg in die Heier schon allein. Ebenso wie sein älterer Mentor, für den es - glaub ich - auch langsam Zeit wird, schlafenzugehen. Wir hingegen werden hier noch dringend gebraucht, Misses Palmer!".

Lukas Svensson, der sein ausgedehntes Gähnen aufgrund der Bemerkung Wannabes schlagartig beendete, dachte einen Moment nach. Er mußte schon zugeben, der Vorschlag seines Geschäftspartners hatte durchaus seinen Reiz, auch wenn er wohl ausschließlich auf sehr eigennützigen Beweggründen beruhen mochte. Svensson nickte, und meinte - ein weiteres aufkommendes Gähnen unterdrückend: "Wissen Sie was, ich sags ja wirklich nicht oft und schon gar nicht gern, Charles! Aber ich glaube, in dem Fall Sie haben recht! Eine Mütze Schlaf täte mir sicher gut. Daß sich unsere kurze Besichtigung des neuen Büros derart in die Länge zieht, war ja schließlich auch gar nicht geplant. Also, wenn Ihr Angebot ernstgemeint war, dann würde ich gern für ein paar Stündchen verabschieden. Ich darf Sie also hier vorerst mit den Ermittlungen und mit Fräulein Palmer allein lassen?". Charles Wannabes Augen entwickelten ein nie zuvor gesehenes Leuchten. Er räusperte sich kurz, dann erwiderte er gönnerhaft: "Ja, Sie dürfen! Ich denke, ich komme hier auch eine Weile ganz gut ohne Sie aus. Und da ja unser Rechner mit dem neuen System wieder läuft und in unserem erstklassigen Fräulein Palmer scheinbar seine Meisterin gefunden hat, können Sie Ihren kleinen Freak auch gleich mitnehmen. Als Computerexperte dürfte es Tiny Tim ja nicht allzu schwer fallen, sich rasch abzumelden und anschließend einfach herunterzufahren, oder?!". Tim Hackermans Finger krallten sich sichtlich erzürnt um den Joystick seines Elektrorollstuhls, während er losfauchte: "Alles klar, der Krüppel hat seine Schuldigkeit getan, der Krüppel kann fahren! Dann woll'n wir doch mal schauen, was Tiny Tim und sein fahrbarer Untersatz noch so alles können ...". Sein hochrotes Haupt senkte sich dabei bereits angriffslustig dem Ex-Yard-Chef zu, als ihn Svensson im letzten Moment zurückhielt: "Ich glaube, Timmy, was mein neuer Partner mit der Neigung zur unglücklichen Wortwahl eigentlich sagen wollte, ist, daß er Dir unheimlich dankbar ist für Deine spontane nächtliche Einsatzbereitschaft und Deine Hilfe, auch was unsere prompte Versorgung mit Essen und Getränken angeht. In seiner einfühlsamen Art aber gipfelt diese Dankbarkeit nun eben auch gleichzeitig in der tiefen Sorge um Deine und meine Gesundheit. Nicht wahr Charles, so ist es doch, oder?!". Wannabe überlegte einen Moment lang, dann sprach er einlenkend: "Äh ja, genau wie Sie es sagen, Lukas. Und nun wünsche ich Ihnen Beiden noch eine recht gute Nacht!". Mit diesen Worten erhob er sich und begab sich zu den beiden Männern herüber. Er angelte Claudias Regenschirm aus dem Papierkorb neben der Bürotür und drückte ihn Tim Hackerman in die Hand: "Hier, junger Freund, damit sie nicht allzu naß werden bei dem Hundewetter da draußen. Fräulein Palmer bleibt ja hier bei mir und benötigt ihn daher momentan erstmal nicht. Sie hingegen haben ihn meines Erachtens nach bitter nötig. Jetzt noch eine entzündete Lunge wäre ja wohl ein wenig zuviel des Guten. Man möcht ja in ihrem zarten Alter doch noch möglichst recht lang mit beiden Beinen im Leben stehen ... Also jetzt mehr symbolisch gesprochen, versteht sich! ... Nun ja, wir rufen Sie jedenfalls an, wenn Ihre Dienste nochmal benötigt werden!". Und an Lukas gewandt, ergänzte er schulterzuckend: "Tja, mein Lieber, wir haben leider nur den einen Schirm. Aber es ist wohl eh mal wieder an der Zeit, daß Sie ihren Trenchcoat nicht nur als liebgewordene Requisite mit sich rumschleppen. Und vielleicht tun ihrem greisen Haupt ein paar Tröpfchen Nasses auch ganz gut. Möglich, daß dadurch noch ein paar frische Härchen auf dem Kahlschlag Ihrer hochgezogenen Denkerstirn sprießen, nicht wahr?! Wie sie schon so treffend bemerkten, ich sorge mich eben nur um ihr Wohlergehen!". Und damit öffnete er auch schon die Bürotür und komplementierte beide Männer nebst Regenschirm und Rollstuhl in den halbdunklen Flur. Die Tür aber fiel hinter ihnen sofort wieder krachend ins Schloß.

Lukas Svensson und sein Schützling waren sichtlich perplex über jene rasante Form der Abschiebung bei Nacht und Nebel, wie man sie sonst in jener rauhen Herzlichkeit nur von behördlicher Seite gegenüber illegalen Einwanderern kannte. Geräuschvoll entließ Tim Hackerman Luft durch die leichtgeöffneten Lippen und flüsterte: "Ebenso charmant wie Dein letzter Kumpan Crawler. Kein Wunder, die Zwei sind ja auch aus demselben Holz geschnitzt, wenngleich auch mit gänzlich verschiedenen Wurzeln. Mensch, Lukas, was findest Du nur immer wieder an solchen Lackaffen?! Hast Du keine Angst, daß Du mit Deiner Gutmütigkeit bei diesem arroganten Knilch am Ende genauso Schiffbruch erleidest wie bei seinem - letztlich von eigener Hand in die Luft gesprengten - terroristischen Wurmfortsatz Derrik". Lukas holte einmal tief Luft: "So genau weiß man das nie, Timmy! Aber ich werde wegen einem einzigen, wenn auch schweren Rückschlag doch nicht aufhören, jedem Menschen immer wieder eine Chance zu geben, sich zum Positiven hin zu verändern. Gott gibt mir und Dir diese Chance schließlich auch jeden Tag aufs Neue. Und auch wir bekleckern uns ja nicht gerade immer mit Ruhm. Aber er bleibt dennoch geduldig mit uns, wie ein Vater mit seinem Kind eben. Er versucht unentwegt, uns von unseren Irrpfaden abzubringen und uns auf den rechten Weg zurückzuholen. Und daran nehme ich mir halt ein Beispiel, wenn es um meinen Umgang mit meinen Mitmenschen geht". Nachdenklich gestimmt preßte Tim seinen rechten Zeigefinger auf den roten Knopf neben der Lifttür und sprach dabei: "Irgendwo ganz schön naiv und dennoch bewundernswert - gerade in einer Welt, wo einer den anderen oftmals schon dem ersten Eindruck nach abstempelt. Es stimmt einen immer wieder echt nachdenklich, wenn man sich mit Dir über solche Dinge unterhält. Da spricht eine Menge Weisheit und Erfahrung aus Dir, wie ich sie in meinen jungen Jahren noch gar nicht sammeln konnte". Ein leichtes Schmunzeln trat bei diesen Worten in Lukas Svenssons Gesicht, und er bemerkte augenzwinkernd: "Jetzt fängst Du also auch noch an, auf meinem Alter rumzureiten! Aber mal im Ernst: Du hast schon recht. Das Erdendasein dient einem nunmal zeitlebens mit all seinen Höhen und Tiefen, um daraus zu lernen und das gesammelte Wissen schließlich so gut wie möglich an die kommende Generation weiterzuvererben. Die Jugend muß allerdings auch bereit sein, dieses wertvolle Erbe anzutreten, bevor es unwiderbringlich verlorengeht". Während Tim und Lukas noch immer auf den Lift warteten, vernahmen sie aus dem Inneren der Detektei leise Musik und Flüstern. Neugierig geworden wendete Tim daraufhin in großem Bogen seinen Elektrostuhl und fuhr noch einmal ganz dicht an die Bürotür heran. Dort legte er sein Ohr vorsichtig ans gebeizte Türholz. Lukas war vom plötzlichen großen Lauschangriff seines Schützlings sichtlich überrascht und zischte: "Psst, also Timmy! So war das mit dem Wissensammeln aber nicht gemeint! Aber tu ruhig, was Du nicht lassen kannst! Für mich ist das jedenfalls nichts. Zu oft hab ich schon erfahren müssen, wieviel Wahrheit in dem alten deutschen Sprichwort 'Der Lauscher an der Wand hört seine eigne Schand' liegt. Ich warte dann doch lieber unten im Erdgeschoß vor dem Aufzug auf Dich". Timmy schaute nur flüchtig zu ihm herauf, nickte kurz und hielt sich dabei den Zeigefinger der rechten Hand vor die zusammengepreßten Lippen. Lukas machte daraufhin auf dem Hacken kehrt. Und obwohl sich im selben Moment vor ihm die Fahrstuhltür öffnete, hatte er für sich allein nun kaum noch Ambitionen, sich liften zu lassen. Er nahm lieber die Treppe.

Tim Hackerman hingegen blieb einsam im Schummerlicht des Obergeschoßes zurück und spitzte die Ohren. Offensichtlich hatte eine der beiden im Büro verbliebenen Personen das Radio eingeschaltet, denn man hörte recht deutlich die Melodie von Tiffanys "Think We're Alone Now", während gleichzeitig das zarte Stimmchen Claudia Palmers zu vernehmen war, welches ein wenig besorgt fragte: "Und Du hast Mister Svensson wirklich nichts davon erzählt, wie und wo mein Vorstellungsgespräch bei Dir neulich wirklich endete?!". Charles Wannabes tiefe Stimme raunte: "Ach, wo werd ich denn! Alles muß der Herr Seniorpartner ja nun auch nicht wissen. Und mal ehrlich: Ich hätte doch selbst nicht geglaubt, daß Du mich schon beim ersten Mal gleich draufläßt. Und daß ich dabei sogar die Schuhe anbehalten durfte, also das hatte ich wirklich noch nie". Claudias Stimmchen säuselte: "Und, hat es Dir denn gefallen?". Charles mußte nicht lange überlegen und antwortete geradezu euphorisch: "Ja, und wie! Bei Dir innen drin war alles natürlich deutlich enger, als ich es gewohnt war, aber gerade das hatte ja irgendwie seinen besonderen Reiz. Und außerdem saß ich ja, seit meine alte diesem schrecklichen Anschlag zum Opfer gefallen ist, was diese Art von Vergnügen angeht, quasi völlig auf dem Trocknen". Claudias Erwiderung klang ein wenig verlegen: "Ach Charles! Für mich war es ja auch das erste Mal seit langem, daß ich so etwas mal wieder zu zweit genießen konnte. Normalerweise muß ich da nämlich aus Ermangelung eines versierten Partners komplett selbst Hand anlegen. Und wenn ich doch mal einen netten Herren zu mir mitnahm, dann wollte der halt meist einfach nur dasitzen, mir dabei zuschaun und mit verklärtem Blick die herrliche Aussicht genießen". Tim Hackerman erstarrte und errötete bei dem, was er da hörte. Wie in Trance wendete er seinen Rollstuhl und lenkte ihn zurück zum immer noch weit offenstehenden Lift, von dem er sich wenige Sekunden später - völlig in Gedanken versunken - ins Erdgeschoß befördern ließ ...

04 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas verschließt sich einer fragwürdigen Offenbarung, Wannabe eröffnet sich eine aussagekräftige Informationsquelle]

Lukas Svensson hörte im Flur des Erdgeschoßes, wie sich oben die Fahrstuhltüren schlossen und der Aufzug sich daraufhin ruckartig in Bewegung setzte. Zeitgleich vernahm er aber auch von außen ein leichtes Ruckeln am äußeren Türknauf und ein zaghaftes Klopfen an der Haustür in seinem Rücken. Der Ex-Inspektor drehte sich um, begab sich zu der schwarzglänzend lackierten Massivholztür. Er drückte die Klinke kräftig herunter und zog sie zu sich heran. Im Türrahmen erschien die Gestalt jenes jungen Straßenmusikers, der sich noch bis vor kurzem an die Hauswand gelehnt und Saxophon gespielt hatte. Er zitterte und bließ sich mit dem Mund warme Atemluft in die vorgehaltenen, eiskalt gewordenen Hände, während er sein Instrument zwischen den Beinen eingeklemmt hatte. Dazu stotterte er mit einem nordirisch klingenden Akzent: "Darf ich ... ich mich ... mich hier ein bißchen ... bißchen aufwärmen? Draußen ... draußen ist es ... ist es so bitter ... bitterkalt! Bitte!". Svensson nickte: "Aber natürlich junger Mann. Treten Sie näher! Dort hinten in der Ecke neben dem Hintereingang ist eine Bank. Da können Sie sich gern ein wenig ausruhen. Ein Automat für Kaffee und andere Heißgetränke hängt gleich daneben an der Wand. Bedienen Sie sich nur nach Herzenslust!". Der junge Musiker zuckte traurig mit den Schultern und krempelte dann seine leeren Hosentaschen nach außen. Lukas verstand. Er griff in die linke innere Brusttasche seines Trenchcoats und fischte eine Handvoll Münzen heraus, die er dem Frierenden entgegenstreckte. Sein Gegenüber aber schüttelte heftig den Kopf: "Das müssen Sie nicht tun, Sir! Ich bin Ihnen schon dankbar, daß ich diesen Hausflur übergangsweise als Wärmehalle benutzen darf". Lukas ergriff das eiskalte Händchen des am ganzen Leibe zitternden Mannes, öffnete es mit dem seinen - deutlich wärmeren - vorsichtig und ließ die Geldstücke aus seiner anderen Hand sanft hineinpurzeln. Dazu sprach er mit ruhiger Stimme: "Ich möchte es aber. Zum einen, weil sie in Ihrem Zustand etwas Heißes sicher gut gebrauchen können, und zum anderen, weil sie vor einigen Stunden mit Ihrem gefühlvollen Spiel mein Herz erwärmt haben. Im Übrigen bin ich kein Sir, sondern Lukas Svensson. Für meine Freunde ganz einfach Lukas!". Der Nordire lächelte, stopfte sich die Münzen in seine - rasch wieder nach innen gekrempelten - Hosentaschen und griff nun seinerseits nach Lukas Hand: "Sehr angenehm, Lukas! Mein Künstlername ist Coffi Suggar. Im Ausweis steht Martin McFly, und meine Freunde nennen mich schlicht und ergreifend Saxi".

Aus dem Halbdunkel des Flurs tönte es in diesem Moment vom aufgehenden Fahrstuhl her: "Hey, Lukas! Sag bloß Du wolltest schon ohne mich verschwinden?!". Im Eiltempo jagte Timmy mit seinem fahrbaren Untersatz auf den Ex-Inspektor zu. Erst als er schon fast neben ihm mit quietschenden Reifen zum Stehen kam, registrierte er den dritten Mann, reichte ihm - ohne lang nachzudenken - die Hand und sprach: "Mensch, der Saxman von vorhin! Ich bin Timmy! Also, was Dein Spiel angeht, das war echt der Hammer! Wow, da bleibt einem beim Zuhören echt die Luft weg!". Der Saxophonvirtuose grinste: "Ja, beim Spielen manchmal auch! Kannst mich Saxi nennen!". Im Nu entspann sich zwischen Tim Hackerman und dem Musiker eine angeregte Unterhaltung über die verschiedenen Atemtechniken beim Saxophonspielen. Lukas aber stand daneben und lauschte interessiert. Noch nie zuvor hatte er schließlich zwei Männer beobachten dürfen, die sich so ausgiebig und fachmännisch übers Blasen austauschten. Am Ende verabschiedeten sich die Drei wie alte Freunde voneinander. Lukas lud Saxi dabei am kommenden Heiligen Abend zum Krippenspiel in die Saint Pauls Cathedrale ein und zog dann mit Timmy des Wegs, während der Saxophonist sich raschen Schrittes zum Getränkeautomaten begab und dort einen schönen heißen Becher Kaffee mit Zucker ohne Milch zog.

Draußen auf dem Gehsteig bewegten sich Lukas und sein Schützling im langsam schwächer werdenden Nieselregen einige Minuten schweigend nebeneinander her, wobei Timmy den Regenschirm Claudias zu gleichen Teilen über seinen und den Kopf des von ihm begleiteten Ex-Inspektors hielt. Erst als sie vor dem Überqueren einer Seitenstraße an einer roten Ampel halt machen mußten, platzte es aus Tim Hackerman heraus: "Au man, Du ahnst ja nicht, was meine Ohren da oben vorm Büro eben noch alles mitgekriegt haben, als Du schon weg warst. Du hättest nur mal hören sollen, wie Charles Wannabe über seine im Koma liegende Frau sprach!". Lukas Svensson deutete auf die Ampel, die eben auf Grün wechselte, und setzte sich ruhigen Schrittes wieder in Bewegung, wozu er sprach: "Glaub mir, ich hab es gehört. Aus seinem eigenen Mund, kurz nach Mitternacht. Und das ist auch schon alles, was ich wissen muß. Ich geb nicht allzuviel auf heimliches Lauschen oder Hörensagen. Und schon gar nicht, wenn es um Charles Wannabe geht. Der versteckt sich im Beisein anderer nämlich eh immer hinter einem Schutzpanzer, um nur nichts von seinem verletzlichen Innern preiszugeben. Und doch beginnt dieser Panzer langsam aufzubrechen, das ist mir heute klargeworden. Der gute alte Charles ist dabei, sich zu öffnen. Es braucht vielleicht nur ein, zwei Menschen und ein paar neue Erfahrungen in seinem Leben, die ihm dabei helfen". Wieder schwiegen Lukas und Tim sich eine Weile lang an, dann fragte der Svenssonschützling nachdenklich: "Ob Claudia Palmer eine solche Erfahrung für Wannabe sein könnte?". Lukas nickte: "Ich denke schon, so wie die Beiden sich vorhin im Büro angeschaut haben". Timmy grinste: "Die haben noch viel mehr gemacht ...". Lukas aber fiel dem jungen Hackerman ins Wort: "Laß mal gut sein, ich will's gar nicht wissen! Das geht uns nichts an, ist schließlich die Privatsache der Beiden". Verärgert konterte Timmy: "Aber strenggenommen ist Charles Wannabe doch noch verheiratet". Svensson aber erwiderte gelassen: "Stimmt! Aber ich werd mich hier jetzt gewiß nicht als Moralapostel oder Richter aufspielen. Und wäre seine Frau nicht auf der Beerdigung ihres Vaters angeschossen worden, dann wären die Beiden eh längst geschieden. Und Charles Wannabe wäre in all seinen Entscheidungen ein freier Mann. Oder glaubst Du, wenn Janet Wannabe jemals wieder aus dem Koma aufwachen sollte, dann ist sie plötzlich wieder die treusorgende, liebende Ehefrau, die sie schon zuvor nie war. Nein, mein Freund, uns steht da absolut kein Urteil zu! Charles Wannabe muß seinen Weg, mit dieser schwierigen Situation umzugehen, ganz für sich allein finden. Und wir sollten ihn dabei nach besten Kräften zu unterstützen versuchen!". Tim Hackerman schmollte ein wenig. Und so setzten die zwei Männer ihren weiteren Heimweg schweigend fort.

Im kleinen Büro der Detektei im Obergeschoß der Baker Street 221B ging es da zur gleichen Zeit weitaus kommunikativer zu. Charles Wannabe und Claudia Palmer hatten die Glühweinflasche erfolgreich geleert. Und sichtlich angeheitert hauchte die hübsche Sekretärin: "Es hat Dir also gefallen neulich!". Charles strahlte übers ganze Gesicht: "Na klar, das war phantastisch! Das war aber auch ein Zufall. Da überflieg ich bei Deinem Vorstellungsgespräch Deine Bewerbungsmappe und stelle fest, daß die sich stets so gern dahintreiben lassende Laura Deine Mutter und der gute alte Dave Dein Vater ist. Dave Palmer, der Präsident ... der Präsident meines alten Yachtclubs. Und schon hat man ein gemeinsames Interesse entdeckt. Man gerät ins Plaudern und Fachsimpeln, Du lädst mich ein, und schon bin ich mit Dir auf Deiner kleinen Yacht. Ich darf sogar meine Schuhe anbehalten und endlich mal wieder nach Herzenslust in aller Ruhe dem Sonnenuntergang entgegenschippern wie früher auf meiner alten 'Simone'". Dabei griff er hinter sich in einen der Aktenschrankschübe und beförderte ein Stück verkohltes Holz mit der Aufschrift "Sim" zutage. Er streichelte zärtlich über die rauhe Oberfläche, wozu er traurig seufzte: "Ach ja, das ist alles, was mir von ihr geblieben ist". Claudia legte behutsam ihren Arm um seine Schulter und flüsterte: "Ersetzen kann ich Deine 'Simone' natürlich nicht. Aber wenn Du möchtest, kannst Du jederzeit wieder auf meiner 'Giovanni' mitfahren". Das Strahlen kehrte in sein Gesicht zurück, während er voller Dankbarkeit mit seiner Hand die ihre berührte. Dann legte er das verkohlte Holzstück wieder in die Schublade zurück und raunte: "Lassen wir die Vergangenheit ruhn. Es gibt hier und jetzt Wichtigeres für uns. Darf ich Dir mal eine Frage stellen?". Erwartungsvoll nickte Claudia: "Ja, was möchtest Du denn wissen von mir?". Charles Wannabe zögerte kurz, dann fragte er: "Wer ist denn eigentlich dieser Paulus, nach dessen hölzernem Ebenbild ich da im Auftrag der geballten Londoner Kirchengesandtschaft suchen soll?". Claudia Palmer überlegte kurz, dann sprach sie: "Paulus? Der Apostel? Nun, der hat einst laut Bibel als Christenverfolger namens Saulus begonnen, bis ihn sein Weg nach Damaskus führte. Vor dessen Toren ließ ihn ein grelles Licht zu Boden stürzen, und der Geist Jesu erschien ihm und redete mit eindringlichen Worten auf ihn ein. Er erblindete kurzzeitig und gelangte währenddessen zur inneren Umkehr und zum Glauben. Paulus wurde Christ und ein eifriger Missionar. Er bereiste viele Länder und verbreitete dort die Auferstehung des Gottessohnes von den Toten und die christliche Lehre unter den Völkern. Viele Jahre verbrachte er dafür im Kerker, am Ende ist er in Rom womöglich für seine Überzeugung sogar hingerichtet worden". Wannabe hob und senkte seine Schultern nahezu in einem Atemzug: "Ganz schön dämlich, wenn Du mich fragst. Sich für eine derart abwägige Denkweise umbringen zu lassen: Jesus, Gottes Sohn?! Auferstanden von den Toten?! An sowas glauben doch nur naive Spinner, oder?!". Claudia sah ihm betroffen in die Augen: "Na, wenn Du meinst! Ich glaube jedenfalls daran!". Leichte Schamesröte zog in Wannabes Gesicht, wobei er verlegen stammelte: "Oh, das ... das tut ... tut mir leid! Ich wollte Dich nicht ... also Deinen Glauben ... nicht beleidigen. Du bist natürlich kein Spinner". Claudia schmunzelte. Wie süß dieser Mann doch aussah, wenn er in Verlegenheit geriet. Statt ihm böse zu sein, konterte sie schlagfertig: "Ne, wenn schon, dann höchstens eine Spinnerin". Und reumütig ergänzte Charles: "Ja, eine die das Stroh in meinem Kopf vielleicht zu Gold spinnen kann. Damit mein Innerstes am Ende genauso goldig wird wie Dein ganzes Wesen. Schließlich bist Du ja scheinbar nicht nur eine sehr imposante Erscheinung, sondern ein wandelndes Lexikon". Claudia Palmer nickte eifrig: "Das sagt mein Herr Papa auch immer. Und dann tauft er mich jedes Mal scherzhaft in Wiki P. Dia um". Und schon sprudelten aus ihr die abenteuerlichsten und spannendsten Geschichten über sie und ihre Familie heraus. Charles Wannabe aber hing - während Claudia mit großen, strahlenden Augen mithilfe von Händen und Füßen erzählte - die ganze Zeit über wie gebannt an ihren Lippen und dachte bei sich immer wieder: 'Einfach nur himmlisch, was für eine tolle Frau'!

Ähnliche Gedanken schwirrten an anderer Stelle beim Gedanken an seine Yelena auch durch Lukas Svenssons Kopf, als er sich - mit Tim als Schirmherr im Rollstuhl neben ihm herfahrend - über die naßglänzenden Bürgersteige Londons hinweg seinem Wohnhaus langsam immer mehr näherte. Vor der Haustür verabschiedete er sich mit einer festen, freundschaftlichen Umarmung von seinem Schützling und flüsterte ihm dabei ins Ohr: "Danke fürs Heimbringen! Komm gut nach Hause! Und dann bis morgen abend! Du kommst doch zum Krippenspiel, oder?!". Timmy nickte: "Ja, natürlich! Und entschuldige bitte mein etwas kindisches Schmollen!". Lukas aber winkte ab: "Das geht schon in Ordnung, Du bist doch noch jung. Da gibt es eben viel zu lernen. Zum Beispiel, wie man sich jederzeit erwachsen benimmt und natürlich, wie man anderen Menschen eine Chance gibt, indem man sich nicht einfach ein vorgefertigtes Bild von ihnen macht und sie damit vor den Kopf stößt!". Timmy senkte sein Haupt: "Ich verstehe, Sie meinen Mister Wannabe". Lukas aber erwiderte: "Ja, den auch, aber nicht nur ihn. Ich denk da vor allem auch an eine gewisse junge Dame, die Dich vielleicht ja wirklich liebt, auch mit Deinem Handicap. Und der Du sehr weh tust, wenn Du ihr einfach unterstellst, sie habe nur Mitleid mit einem Krüppel. Gib Sabrina eine Chance, oder denk wenigstens mal in aller Ruhe darüber nach! Du wirst es später mit Sicherheit bereuen, wenn Du es nicht tust! Glaub mir!". Tim Hackerman setzte mit seinem Rollstuhl zum Umkehrmanöver in Richtung seines Zuhauses an, wobei er leise bemerkte: "Ok, ich denk mal drüber nach! Gute Nacht und bis morgen, Luke!". Sichtlich zufrieden mit dieser Zusage machte Svensson auf dem Hacken kehrt, zog sein Schlüsselbund aus der Manteltasche hervor und schloß die Haustür auf. Mühevoll erklomm er zu den deutlich vernehmbaren Schlägen Big Bens die unzähligen Stufen des spärlich beleuchteten Treppenhauses und freute sich dabei schon sehnsüchtig auf sein Bett und seine geliebte Yelena ...

05 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas wandelt auf dem Gipfel sinnlicher Genüsse, Wannabe verwandelt sich in geradezu umwerfendem Tempo]

Nur mit einem kurzen cremefarbenen Seidennachthemd bekleidet kam Yelena Svensson schlaftrunken unter ihrer warmen Bettdecke hervor und huschte in den Flur, von woher sie jenes heißersehnte Geräusch vernommen hatte, das der Schlüssel ihres geliebten Mannes beim vorsichtigen Herumdrehen im Schloß der Wohnungstür verursachte. Die Tür wurde sachte geöffnet, und dann stand er vor ihr - durchgefroren in seinem von perlenden Regentropfen reich besetzten Trenchcoat. Sie trat einen Schritt zurück, denn sie ahnte schon, was nun folgte. Wie ein begossener Pudel schüttelte Lukas jene eiskalte Feuchtigkeit von sich ab. Dann zog er den Mantel aus und hängte ihn sorgsam an der Flurgarderobe auf. Kräftig rieb er seine Hände aneinander. Yelena aber trat wieder ein paar Schritte auf ihn zu, beugte sich zu seinen klammen, leicht angeschwollenen Handflächen herunter und hauchte ihnen ihren warmen Atem ein. Die liebevolle, zärtliche Geste wärmte dabei nicht nur Lukas' steifgewordene Finger, sondern auch sein Herz. Vorsichtig berührten ihre zarten Fingerspitzen seinen Arm, worauf sie sogleich - sich am ganzen, spärlich bekleideten Körper schüttelnd - sichtlich erschrocken ausrief: "Bosche moij, Du aber an ganzes Körper sein kalt wie Schnauze von Hund. armes Luki!". Trotz alledem zögerte sie keine Sekunde, ihre wärmespendenden Arme selbstlos um seinen bibbernden Leib zu schlingen, wozu sie ihm flüsternd zu verstehen gab: "Aber Yelena schon genau wissen, wie sie bekommen Dich warm in Null-Nix-Komma". In Lukas' Gesicht zog von einer Sekunde auf die nächste ein seltsames warmes Leuchten ein. Seine blassen Wangen erröteten, wobei er ihr zuzwinkerte: "Du meinst, wir Zwei ... Du und ich ... jetzt gleich, mitten in der Nacht". Yelena lächelte vielsagend: "Ja, und wir es heute machen gleich in Küche". Damit ergriff sie die langsam wärmer werdende Hand ihres Lukas und zog ihn mit sich ins schummrige Halbdunkel des kleinen Nebenraums. Dort angekommen ließ er sich am Küchentisch sogleich erwartungsvoll auf einem der Stühle nieder. Direkt vor seinen Augen, in seinem unmittelbaren Zugriffsbereich, aber beugte seine Yelena ihren Oberkörper verführerisch über die Spüle hinweg in Richtung Wasserkocher. Sie warf einen lasziven Blick zurück und hauchte: "Und, Dir gefallen, was Du sehen, Luki!". Svensson nickte: "Ja, das sieht schon ziemlich heiß aus. Und ich hab das Gefühl, es wird mit jeder Sekunde heißer und heißer!". Yelena beugte sich noch ein Stück weiter vor, wobei ihr kurzes Nachthemdchen langsam immer höher glitt. Was Lukas dabei zu sehen bekam und was er dabei im Verborgenen noch erahnte, beschleunigte seinen Puls. Zitternd tasteten seine Finger nach ihrem Oberschenkel und strichen schließlich sanft darüber. Er richtete sich auf und trat von hinten ganz dicht an sie heran. Seine rechte Hand strich ihr dabei behutsam das Haar aus dem Nacken. Seine Lippen aber suchten ihren Hals, fanden und liebkosten ihn, während seine linke Hand weiter an ihrer Oberschenkelinnenseite auf und ab fuhr. Sanft preßte schließlich sein ganzer Körper den ihren gegen die Spüle, wodurch ihre Hände zugleich unmittelbar vor ihrem Schoß quasi eingekeilt wurden. Yelena erschauderte und wisperte leise: "Vorsicht, Luki, Du jetzt Dein Hand lieber wegnehmen und schnell mich frei machen, ich sonst Überlaufen können nicht mehr verhindern". Lukas zog schlagartig seine Hand von ihrem Oberschenkel zurück und entließ ihren Körper aus der Umklammerung des seinen, doch es war schon zu spät. Im vorderen, unteren Teil war es an ihrem Nachthemd bereits feucht und warm geworden, wie Lukas beim zufälligen Daranvorbeistreifen seines Zeigefingers nur allzu deutlich spüren konnte. Auch Yelena trat einen Schritt von der Spüle zurück und raunte gänzlich außer Atem: "So heftig es gewesen schon lange nicht mehr. Hier vorn alles sein klatschnaß, sogar auf Fußboden". Sie griff zur Küchenpapierrolle, riß ein großes Stück ab und beseitigte damit nach und nach all das Feuchte. Anschließend warf sie das nasse Papier in den Mülleimer und grinste Lukas, der sich inzwischen wieder hingesetzt hatte, an: "Na, das ja mal war echtes Coitus interruptus. Wir dringend brauchen neues Kocher für Wasser. Nie das Teil sich schalten aus von allein, und dann es laufen über und machen großes Schweinerei in ganzes Küche". Lukas lächelte: "Naja, die Hauptsache ist doch, es ist trotz allem noch genug heißes Wasser im Kocher übriggeblieben, damit wir uns unseren heißen Tee aufgießen können". Yelena warf einen kurzen prüfenden Blick ins Innere des Wasserkochers hinein und konstatierte: "Ja, das noch so gerade reichen!". Dann nahm sie zwei Tassen und zwei Beutel schwarzen Tees aus dem Küchenschrank und stellte diese direkt vor Lukas' Nase auf den Tisch. Sie legte je einen Beutel in je eine der beiden Tassen ein und übergoß diese mit dem restlichen heißen Wasser aus dem Kocher. Das Ganze ließ sie ein wenig ziehen. Währenddessen entlockte sie dem Kühlschrank noch rasch Milch und Honig, die sie anschließend nach Entfernung der Teebeutel dem Schwarztee hinzufügte. Das dadurch entstandene, aromatisch duftende Heißgetränk aber rührte die Dame des Hauses letztlich noch mit einem Teelöffel um, den sie anschließend vor Lukas' Augen genüßlich ableckte.

Yelena legte das Löffelchen beiseite und ergriff stattdessen nun mit beiden Händen den unteren Saum ihres Seidennachthemds. Sie schob ihn ein wenig nach oben, worauf sie sich langsam wie in Zeitlupe breitbeinig auf dem Schoß ihres Mannes niederließ und ihm dabei ins Ohr flüsterte: "Du jetzt gern dürfen dort weitermachen, wo wir vorhin wurden unterbrochen, Mister Svensson". Zackig vollführte Lukas mit seiner rechten Hand vor Yelenas Augen eine Art militärische Ehrenbezeugung: "Zu Befehl, Misses Svensson, Mam!". Dann senkte er schmunzelnd seine Hand wieder und angelte damit zielsicher nach einer der Teetassen in Yelenas Rücken. Er reichte sie an seine Gattin weiter und griff dann seinerseits nach der anderen Tasse. Und während beide Eheleute im Anschluß gemeinsam Schluck um Schluck ihr köstliches nächtliches Heißgetränk genossen, wanderte Lukas' linke Hand erneut ohne Unterlaß abwechselnd an Yelenas beiden freiliegenden Oberschenkeln auf und ab. Die Erregtheit der Beiden steigerte sich dabei geradezu ins Unermeßliche. Und kaum war der Tee ausgetrunken, leckten sie sich mittels ausgiebigiger Züngeleien gegenseitig die letzten bittersüßen, milchigweißen Tropfen von den Lippen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit lösten sich ihre Münder wieder voneinander, und Yelena fragte, ein wenig atemlos anmutend: "Du aber sein spät gekommen! Du doch haben gesagt, Du schnell wieder da sein. Nur eben rasch Büro anschauen und dann husch in Bett. Was sein geschehen?". Lukas nickte: "Tja, es kam halt alles ganz anders als geplant. Eh Chales Wannabe und ich es uns versahen, waren wir schon mittendrin in unserem ersten Fall. In Saint Pauls ist nämlich eine hölzerne Paulusfigur verschwunden, und Pastor Shepherd hat uns um Hilfe gebeten". Yelena sah Lukas erstaunt an: "Ja, aber was Du dann machen hier? Du nicht werden gebraucht? Du lassen Charles Wannabe allein mit Euer erstes großes Fall?". Lukas schaute ihr tief in die Augen: "Nun ja, ich hatte eben meine Gründe, das Feld zu räumen - drei gute Gründe, wie ich denke. Der erste Grund ist der simpelste. Mein Bett zieht mich magisch an. Weißt Du, Yel, ich bin in letzter Zeit einfach manchmal nur müde, brauche meine Ruhe und meinen Schlaf. Und jetzt sag mir bloß nicht, ich werde alt. Das macht heute nacht eh schon jeder, und außerdem weiß ich es ja selbst. Der zweite Grund, warum ich jetzt hier bin und nicht in der Detektei, ist gleichzeitig der schönste ... nämlich Du! Ich hab halt einfach ununterbrochen Sehnsucht nach Dir - Deiner Stimme, Deinen Worten, Deiner Zärtlichkeit und Deinem Körper. Und der dritte Grund für mein Hiersein, das ist nun der am schwersten zu erklärende. Ich hatte heute nacht im Büro eine sehr eingehende Unterhaltung mit Charles Wannabe. Dabei habe ich herausgehört, daß es ihn am meisten wurmt, daß er noch nie richtig beweisen konnte, was in ihm steckt. Und als dann Pastor Shepherd mit seinen Kollegen bei uns war und sein Anliegen vortrug, da hatte ich plötzlich ganz tief in mir das Gefühl, daß das die große Chance ist für meinen neuen Partner. Ich denke, dieser Fall, der eigentlich als Fall für zwei gedacht war, ist vor allem sein Fall. Und ich bin mir ganz sicher, Charles wird den Fall am Ende lösen. Mehr noch: Ich glaube, dieser Fall wird ihn für immer verändern. Ich weiß auch nicht, wie ich Dir das erklären soll. Ist halt sowas wie eine Eingebung, eine Art innerer Stimme. Verstehst Du?!". Yelenas Lippen drückten sich sanft auf die ihres Mannes, und am Ende jenes lzärtlichen Überfalls raunte sie: "Oh, Luki, ich genau wissen, was Du meinen! So es auch war, wie ich mit Dir gewesen erstes Mal zusammen an Tag von Dein Dienstjubiläum, damals bei Spazierengehen in Hyde Park. An dieses Tag ich haben geschaut immer wieder auf Dein Hände, Dein Lippen, Dein Nase, Dein Augen. Und inneres Stimme mir haben gesagt: 'Das alles sein Deins! Er sein Dein! Dein Mann! Von an heute bis zu Ewigkeit!'". Svenssons Arme umfaßten Yelenas Gesicht und zogen es behutsam an das seine heran, bis sein Mund auf den ihren traf und sich seine Zunge eindringlich den Weg durch das sich öffnende Paar ihrer Lippen bahnte.

Von so innigen Zärtlichkeiten war man derweil in den Räumlichkeiten von "Wannabe Svensson" noch meilenweit entfernt. Auch wenn man zwischen Claudia und Charles recht deutlich eine tiefe innere Verbundenheit und Sympathie verspüren konnte. Während sie sich abwechselnd recht angeregt über den anstehenden Fall und ihre heimliche, gemeinsame Leidenschaft - das Yachtsegeln - unterhielten, schauten sich gegenseitig immer wieder tief in die Augen. Charles Wannabe spielte nervös an einem goldenen Kugelschreiber, und Claudia Palmer strich sich alle paar Sekunden durch ihr gelocktes Haar. Die Zeit verging dabei für die Beiden wie im Flug. Und so war es am Ende auch keineswegs erstaunlich, daß Wannabe bei einem flüchtigen Blick auf die goldene Rolex an seinem Handgelenk plötzlich hochschreckte und ausrief: "Ach herrje, es ist ja schon bald sechs! Jetzt muß ich mich aber sputen, der Pfaffe friert sich sonst vor seiner Kathedrale noch den sündenfreien Hintern ab. Du entschuldigst doch, wenn ich Dich jetzt hier allein lasse, aber ich brauche während meines Außeneinsatzes jemanden, der hier drin die Stellung hält?! Würdest Du das für mich tun?". Claudia zwinkerte ihm zu: "Klar, mach ruhig! Ich und mein X-FILE S werden uns die Zeit schon sinnvoll zu vertreiben wissen. Und ein paar extrem schnelle Recherchen im Internet kann ich dank dem eigens für DOORS 007 entwickelten Browser WATERFOX ja auch gleich noch anstellen. Zum Beispiel, ob unser Dieb bei EBUY versucht, die Holzstatue an den Mann oder die Frau zu bringen". Charles Wannabe - der bei der Aufzählung der Gründe für die Notwendigkeit von Claudias Anwesenheit im Büro absichtlich darauf verzichtet hatte zu erwähnen, daß er ohne sie später gar nicht wieder an seiner genialen sprachgesteuerten Türschließanlage vorbei ins Büro zurückkäme - hatte sich inzwischen bereits seinen chicen Kashmirmantel aus dem Hause Lagerfeld übergeworfen. Er reichte Claudia zum vorübergehenden Abschied noch einmal die Hand und raunte: "Es ist schön, Dich hier bei mir ... also bei uns ... zu haben. Also dann, auf ein recht baldiges Wiedersehn. Ich freu mich drauf!". Er war schon im Gehen begriffen, da drehte er sich noch einmal um und angelte aus der Hosentasche ein kleines Kärtchen, das er Claudia mit den Worten in die Hand drückte: "Wo hab ich heut bloß meinen Kopf?! Hätte ich doch fast vergessen, Dir meine Visitenkarte mit meiner Wohnadresse und der privaten Handynummer zu geben. Wie sollst Du mich denn da erreichen, wenn sich was Wichtiges ergibt?! Du hast im Gegenzug nicht zufällig auch gleich Deine Nummer zur Hand?!". Claudia mußte schmunzeln. Also, wenn das jetzt eine Anmache sein sollte, dann war es so ziemlich die plumpste und gleichzeitig frechste, die sie je erlebt hatte. Schließlich gab es hier im Büro doch einen Festnetzanschluß, den der gute Charlie ja selbst hatte einrichten lassen. Und die Nummer 555-WANNABE stand ja sogar in großen schwarzen Lettern direkt vor ihren Augen unter der Wählscheibe des herrlich altmodischen Telefons, welches den Tisch zur rechten des Laptops zierte. Aber vielleicht vernebelten die gebotene Eile und die Aufregung des ersten Falls Wannabe auch nur die Sinne, so daß ihm diese einfache Möglichkeit der Telekommunikation momentan gar nicht einfiel. Sie beschloß, für den Moment an die letztere Variante zu glauben und überreichte dem guten Charlie einen Notizzettel, auf den sie in aller Eile noch ihre private Handynummer notierte. Klar hätte sie ihm die auch gegeben, wenn er sie für rein private Bedürfnisse gewollt hätte, aber das mußte sie ihm ja nicht gleich auf die Nase binden. Solchen Männern wie Charles Wannabe bekam es im allgemeinen nämlich recht gut, wenn die Frau sie ein bißchen zappeln ließ, bevor sie ihrerseits Interesse signalisierte. Das wußte sie aus eigener Erfahrung nur zu gut.

Wannabe steckte den Zettel in seine Hosentasche, bedankte sich dafür noch einmal artig bei ihr und lief dann durch die hurtig aufgerissene Bürotür das Treppenhaus hinunter, wobei er jeweils zwei Stufen mit einem einzigen Schritt seiner edlen Guccitreter nahm. Unten im Flur rannte er ungeschickterweise den jungen Saxophonspieler Saxi über den Haufen, der bei dem unsanften Zusammenprall und dem sich daran anschließenden Sturz seinen heißen Kaffee über dem alten, selbstgestrickten Wollpullover verschüttete. Wannabe, der als Verursacher des Sturzes aus dem Ganzen unverdienterweise völlig unbeschadet hervorging, ließ den zu Fall gebrachten Musiker völlig unbeeindruckt am Boden liegen. Und als Saxi ihn dann - selbst noch völlig unter Schock stehend - mit seinem nordirischen Akzent vielmals um Entschuldigung bat, herrschte Wannabe ihn sogar noch an: "Was heißt hier Entschuldigung?! Sag mal, kannst Du nicht aufpassen, wo Du hinläufst?! Man, weißt Du eigentlich, wie teuer meine Klamotten waren?". Bei dieser Frage betrachtete er den schlicht gekleideten Mann eingehend von oben bis untern und ergänzte schließlich: "Allein meine Schuhe sind mehr wert, als Du im Monat verdienst. Typen wie Du gehören um diese Zeit nicht in den Hausflur eines solch ehrenwerten Hauses! Gibt es denn nirgends ein Obdachlosenasyl oder eine Zelle im Knast, wo Du herumlungern kannst?!". Saxi, der sich derweil mit leicht schmerzverzerrtem Gesicht langsam wieder vom kalten Flurfußboden erhob, erwiderte: "Aber Sir, bei allem Respekt, solche Einrichtungen sind doch alle Jahre wieder gerade in der Vorweihnachtszeit heillos überfüllt mit so bedauernswerten Kreaturen wie mir! Und draußen auf der Straße ist es momentan so bitterkalt, daß man sich nur allzu leicht den Tod holt". Charles Wannabe aber strich sich sorgfältig die Bügelfalte seiner Anzughose glatt und höhnte: "Und was geht mich das an?! Vielleicht ist das ja am Ende sogar die einzige Möglichkeit, der ständig wachsenden Überbevölkerung auf unserem Planeten erfolgreich zu begegnen ... Ach, was unterhalt ich mich denn überhaupt noch mit einem Subjekt wie Dir?! Sieh einfach zu, daß Du Land gewinnst! Wenn ich wiederkomme, will ich Deine Visage hier jedenfalls nicht mehr erblicken! Und jetzt aus dem Weg, ich hab es eilig! Es gibt schließlich auch noch Leute, die ihr Geld mit anständiger, harter Arbeit verdienen". Damit schubste er den sichtlich perplexen Saxophonisten derart grob zur Seite, daß dieser gleich noch einmal ins Stolpern geriet. Erst im letzten Moment konnte er sich an der Bank hinter sich abstützen und so seinen sonst wohl unvermeidlichen erneuten Sturz abfangen. Kopfschüttelnd schaute er dem davoneilenden Mann im noblen Zwirn hinterher. Es war kaum zu glauben, daß das derselbe Mann war, der noch vor wenigen Momenten freundlich und charmant mit seiner Sekretärin gescherzt - ja geradezu geflirtet - hatte. Es war, als hätte sich hier quasi auf dem Treppenabsatz zwischen Obergeschoß und Erdgeschoß horrorfilmreif die schockierende Umwandlung von Doctor Jekyll in Mister Hyde vollzogen. Charles Wannabe selbst aber hetzte - all dessen völlig ungeachtet - inzwischen mit flüchtigen Blick auf seine Uhr aus dem Haus auf die Straße, stieg in seinen roten Ferrari und raste mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit durch die verregneten Londoner Straßen - der inneren Stimme seines eingebauten Tam Tam Navis folgend - der Saint Pauls Kathedrale entgegen ...

06 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas begibt sich zu Bett, Wannabe legt sich lang]

Die Turmuhr der Kathedrale vermeldete den Anbruch der sechsten Stunde, als Wannabes Luxuswagen im anhaltenden leichten Nieselregen mit quietschenden Reifen direkt vor dem Haupteingang des imposanten Kirchenbaus zum Stehen kam. Schnellen Schrittes entsprang der Ex-Yardleiter seinem edlen fahrbaren Untersatz, schnappte sich vom Rücksitz noch rasch sein kleines, silbernes Schminkköfferchen und sprintete die Treppenstufen hinauf zum Portal, das sich auf sein heftiges Klopfen auch sogleich auftat. Pastor Shepherd führte den Zeigefinger zum Mund und flüsterte: "Auch wenn es Ihnen nicht allzuviel bedeuten mag, aber es ist noch sehr früh am Morgen, und Sie betreten jetzt ein Haus Gottes. Von daher besteht gleich in doppelter Hinsicht kein Anlaß, hier so einen Lärm zu machen. Ich habe Sie ja ohnehin schon erwartet, also folgen Sie mir bitte - und wenn es möglich ist ... leise!". Charles Wannabe zuckte mit den Schultern: "Na, wenn's denn sein muß, Euer Heiligkeit!". Damit tippelte er betont langsam und auf Zehenspitzen dem Geistlichen nach, der ihn zu einer leeren Säule neben dem Altar führte und mit einer leichten Spur von Traurigkeit und Ohnmacht verkündete: "Tja, da hat er immer gestanden und mir über die Schulter geschaut, wenn ich sonn- und feiertags meine Andachten hielt und am Ende jedes Gottesdienstes um den Segen bat. Und nun ist er fort". Wannabes Schultern zuckten erneut verständnislos und sichtlich gelangweilt: "Ja, ok, aber Sie haben ja immer noch den großen Kreuzanhänger da oben, oder?!". Damit deutete er auf das hölzerne Abbild des gekreuzigten Jesus über dem Altar. Pastor Shepherd verschloß seine Augen vor soviel offen zur Schau gestellter Gottlosigkeit und bekreuzigte sich auf der Stelle, wozu er - sein Antlitz dem Sohn Gottes zuwendend - leise bat: "Vater, vergib ihm, denn er weiß nicht, was er tut!". Dann zeichnete seine Rechte noch einmal das symbolische Kreuz vor der Brust, während sich die Augen des Pfarrers langsam wieder auftaten. Wannabe aber hauchte ihm hinter vorgehaltener Hand mitleidig zu: "Also, mal ehrlich, was ihr Schwarzröcke manchmal so von euch gebt, ist ja wohl echt der Hammer! Und was das Geflüster da eben mit Ihrem vermeintlichen Brotgeber angeht: Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue!". Damit begab er sich zu der Säule, auf der noch bis vor wenigen Stunden die verschwundene Paulusstatue geruht hatte. Er stellte seinen Silberkoffer neben sich und öffnete behutsam dessen Verschlüsse. Der Pastor neben ihm schaute etwas verdutzt: "Entschuldigung, aber wollen sie sich jetzt erst den Lidstrich nachziehen, oder was haben Sie vor?!". Wannabe lächelte milde, dann zog er aus seinem Köfferchen ein Döschen mit einem schwarzen Pulver hervor und raunte: "Mitnichten, das einzige, was ich hier kosmetisch ein wenig aufwerten möchte, sind eventuell vorhandene Fingerabdrücke". Und damit blies er einen kräftigen Stoß des rußigen Pulvers gegen die Steinsäule. Er nahm einen Pinsel zur Hand und wedelte damit sorgfältig die ganze Säule ab. Schließlich ging er leicht in die Hocke, um sich das Resultat seiner kriminaltechnischen Bemühungen genauer zu betrachten, als er mit einem Male ganz aufgeregt flüsterte: "Mehr Licht!". Wie es aussah, hatte der geschulte Exkriminalist mit seinem Adlerauge im Halbdunkel des Kirchengewölbes tatsächlich bereits eine erste Spur entdeckt, allerdings - nach seiner Blickrichtung zu urteilen - nicht auf der Säule, sondern vielmehr unmittelbar davor. Wannabes Aufgeregtheit sprang für einen kurzen Moment auch auf den ihm örtlich sehr nahestehenden Geistlichen Marc Shepherd über, der rasch zwei seiner ebenfalls anwesenden deutschen Austauschmeßdiener zu sich heranwinkte und ihnen zurief: "Johann, Wolfgang! Meine Göte, mehr Licht!". Die beiden Ministranten ergriffen zwei der goldenen Leuchter rechts und links des Altars und brachten sie zu den beiden Männern. Im Lichtschein der Kerzen zeichnete sich deutlich die Spur eines Schuhabdrucks auf dem roten Teppich vor der Säule ab.

Wannabe erhob sich und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Er hielt das edle Hightechgerät in Richtung des entdeckten Abdrucks und drückte dann solange auf den Touchscreen, bis letztlich ein kurzes Aufblitzen davon zeugte, daß die eingebaute Kamera einen Schnappschuß der Spur geschossen hatte. Dann huschten seine Finger erneut über den Schirm und wählten schließlich ein paar Zifferntasten an. Charles Wannabe führte das Telefon an sein Ohr und wartete ein paar Sekunden, bis am andern Ende abgenommen wurde. Dann aber sprach er: "Hi, Claudia! Charles hier! Schön, Deine Stimme zu hören! Ich bin jetzt im Pfaffenhaus vor Ort und hab eine erste heiße Spur. Ein Foto davon geht Dir in diesem Moment von meinem Telefon als Emailanhang zu. Sieht aus wie ein Schuh, aber mit recht abgewetzter Sohle. Leg es im Computer erstmal zu den Akten! Gibts sonst was Neues, was Deine Recherchen im Netz angeht ... Nichts?! Kein Hinweis! Ok, ich meld mich wieder! Ciao Claudia, cara mia!". Damit beendete er das Gespräch und wandte sich nunmehr dem Pastor an seiner Seite zu: "Und Eure Monstranz, irgendeine Ahnung, woher dieser Abdruck stammen könnte - der sich übrigens von hieraus in abgeschwächter Form in Richtung Seitenausgang fortsetzt, wenn ich das richtig sehe?". Shepherd folgte den - sich zum Ausgang hin langsam verlierenden - Spuren mit den Augen und erwiderte dabei: "Eigentlich nicht! Es waren zwar gestern abend vor dem Verschwinden der Figur wie immer eine größere Anzahl vereinzelter Gläubiger da, aber die kamen und gingen jeweils durch den Haupteingang. Der Seiteneingang ist - außer bei größeren Feiern und Trauungen - ja immer verschlossen. Und daß ich den Schlüssel unmittelbar neben dem Eingang unter dem dortigen Fußabtreter aufbewahre, wissen außer mir nur noch meine beiden Messdiener". Argwöhnisch sah Wannabe Johann und Wolfgang an, die aber schüttelten nur wild ihre Köpfe hin und her und beteuerten einmütig: "Wir sind völlig unschuldig". Charles Wannabe aber zwinkerte den beiden Jünglingen in ihren blütenweißen Gewändern zu: "Ja, klar, wer's glaubt, wird selig! Ich war schließlich auch mal jung. Hier so tun, als ob sie kein Taufwässerchen trüben könnten und später heimlich Wein saufen. Also raus mit der Sprache, wer von Euch Chorknaben hat jetzt den angestaubten Holzkasper für ein paar schöne unheilige Scheine verscherbelt?". Pastor Shepherd trat mit ausgebreitenen Armen zwischen seine Schützlinge und den angriffslustigen Exbeamten: "Ich muß doch wohl sehr bitten, für meine Jungs leg ich die Hände ins Feuer!". Charles aber raunte mitleidig: "Na, wenn Sie sich da mal nicht ganz höllisch die Fingerchen verbrennen! Aber bitteschön, wenn die Zwei es nicht waren, wer käme denn dann infrage?". Hinter dem Rücken des Pastors trat Meßdiener Johann hervor und stammelte: "Naja, ich ... ich hab da ... den .., also den Herrn Butler ... hab ich gesehen, der ... der damals ... den Paulus ... im königlichen Auftrag ... geschnitzt hatte". Im nächsten Moment trat auch der andere Jüngling hinter dem Pfarrer vor und verkündete: "Und dann waren doch da auch zur gleichen Zeit noch die Nikolauser, die sich hier ihre warme Erbsensuppe im Rahmen unserer vorweihnachtlichen Armenspeisungsaktion abholten. Einer von denen hat beim Löffeln der Suppe aus seinem Blechnapf ziemlich lange vor dem Paulus gestanden und ihn mit großen Augen angestarrt!".

Pastor Shepherd strich seinen beiden Ministranten sanft übers stopplige Kopfhaar und gab zu bedenken: "Aber Johann, Wolfgang, ihr wißt doch: Man sollte mit solchen Vorverurteilungen sehr, sehr vorsichtig sein. Man darf gerade den armen Leuten, die von St.Niklas kommen, nicht einfach alles in die Schuhe schieben. Wie spricht schließlich unser Herr: 'Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!'". Wannabe aber winkte müde ab: "Danke Jungs! So ist's schon recht! Ohne sachdienliche Hinweise kommen meine Ermittlungen ja nicht voran. Ich kann schließlich nicht einfach die Hände falten und auf ein Wunder warten wie manch anderer hier im Raum! Und jetzt werde ich erstmal in alle beide Richtungen ermitteln. Wo finde ich also diese Nikolauser? Und gibt es zu diesem Herrn Butler eventuell auch eine Wohnanschrift?". Der Geistliche starrte den eifrigen Ermittler lange an: "Also gut, auch wenn ich nicht glaube, daß Sie da irgendwo fündig werden ... Die uns von der wohltätigen Organisation 'St.Niklas' geschickten Obdachlosen fristen allesamt ihr bedauernswertes Dasein unter der London Bridge, dort dürften sie wohl auch jetzt anzutreffen sein. Und was den Schöpfer der Paulusfigur angeht, das ist unser langjähriges Gemeindemitglied Hudson Butler, der seinen Wohnsitz in einem Haus am Eaton Place hat. Die Hausnummer hab ich nicht im Kopf, aber ich kann mal im Gemeindemitgliederverzeichnis in meinem Schreibtisch nachschauen". Der Geistliche machte dabei Anstalten, sich in sein Arbeitszimmer in einem der etwas abgelegenen Nebenräume der Kathedrale zu begeben, aber Charles Wannabe hielt ihn zurück: "Nur keine unnützen Umstände, nicht daß ich am Ende dafür noch in ihr Klingelbeutelchen einzahlen muß. Die Nummer beschaff ich mir schneller auf anderem Wege". Schon hatte er das wiederverschlossne Silberköfferchen ergriffen und war auf dem Sprung, wobei er noch rief: "Den noblen Herrn Butler nehm ich mir gleich zuerst vor, und dann die Pennbrüder. Danke erstmal, daß Sie einem Ungläubigen soviel Ihrer kostbaren Zeit geliehen haben, Euer Seligkeit!". Der Pastor aber rief dem - im Schummerlicht über den roten Teppich in Richtung Hauptausgang - Entschwindenden noch nach: "Passen Sie bitte gut auf sich auf, Mister Wannabe! Sie müssen immer schön auf dem Teppich bleiben, sonst kommen Sie allzu leicht vom rechten Weg ab!". Wannabe aber warf den Kopf noch einmal zurück und grinste breit: "Mein Bester, bei mir zählen Ihre himmlischen Ratschläge nicht. Am Ende kommen Sie mir noch mit so Bibelverschen wie Hochmut kommt vor dem ...". Weiter kam er nicht, war er doch ein wenig zu weit nach rechts geraten und dabei gegen eine der Holzbänke geprallt. Er verlor das Gleichgewicht und schlug rücklings lang hin, wobei sein Hinterkopf krachend auf dem mitgeführten Schminkkoffer landete. Für einen Augenblick war er bewußtlos, und Pastor Shepherd und seine beiden Meßdiener wollten ihm schon zu Hilfe eilen. Dann aber verdrehte er kurz die Augen und rappelte sich flugs wieder hoch, Er packte seinen Koffer und griff sich mit der freien Hand an den schmerzenden Dickschädel. Ein wenig entgeistert faselte er: "... kommt vor dem Fall ... Äh ja, recht so ... der Fall ... eigentlich ein Fall für Zwei ... für mich und Svensson ... aber jetzt doch eher ein Solo für Uncle ... Uncle Charly ... wo doch der Alte ... im Bett liegt ... Hau den Lukas, ich seh den Sternenhimmel ... Äh, bin ich denn schon draußen?!". Und während er sich wankenden Schrittes langsam aus der Kathedrale hinaus und zu seinem Wagen begab, konstatierte er: "Au man, wieder jede Menge Arbeit für mich! Hätt ich Lukas den Älteren nur nicht schlafen geschickt, der hätte mir immerhin den nun drohenden sozialen Abstieg in die Pennerszene ersparen können. Aber was solls, ich lös den Fall auf jeden Fall". Damit stieg er in seinen Nobelschlitten und warf seinen Silberkoffer auf die Rückbank zurück. Er angelte aus seinem Handschuhfach ein Piccolofläschchen Champus und zwei einzeln verpackte Kopfschmerztabletten, wovon er eine in seiner Jackentasche verschwinden ließ. Die andere aber befreite er sofort aus ihrer Plastikumhüllung und schob sie sich umständlich in den Mund. Dann spülte er die bittere Pille mit einem ordentlichen Schluck des edlen Getränks herunter, startete den Motor seines rasanten Flitzers und entschwand dann in Richtung Eaton Place - neben dem nachlassenden Schmerz an der Stirn noch längere Zeit ein erlesenes Prickeln auf der Zunge verspürend.

Auch bei Lukas Svensson prickelte es, wenn auch nicht auf der Zunge, sondern eher etwas tiefer. Yelena und er hatten in der Küche inzwischen ihre ausgedehnte nächtliche Teatime beendet, bei der Frau Svensson von ihrem Mann ausgiebig über das überraschende Erscheinen der drei Pfarrer und deren Anliegen unterrichtet worden und dabei ganz nebenher auch immer wieder in den Genuß diverser leidenschaftlicher Liebkosungen sämtlicher Körperregionen gekommen war. Nun aber hatte sich Yelena ins Bad begeben, um ihrem durchgefrorenen Lukas vor dem gemeinsamen Zubettgehen noch rasch ein schönes heißes Schaumbad einlaufen zu lassen. Und Lukas war unterdessen im Schlafzimmer verschwunden, um sich seiner Kleidung zu entledigen. Ein wohlig-warmes Gefühl überkam ihn schließlich, da er sich jetzt - wenige Minuten später - langsam in die Wanne gleiten ließ, wobei das aufregede Prickeln der kleinen und großen Seifenbläschen seinen Körper beim Eintauchen von unten nach oben sanft umspielte. Lukas Svensson schloß die Augen und spürte schließlich, wie sich ein paar zarte Finger den Seifenblasen zugesellten und ausgiebig über seine stark behaarte Brust zu kraulen begannen. Das unheimlich schöne Fingerspitzengefühl wanderte langsam tiefer und tauchte schließlich im Wasser ab, um sich auch der tieferliegenden Körperstellen annehmen zu können. Gerade dort aber war es für Lukas an bestimmten Punkten ein recht erhebendes Gefühl, wie auch die Besitzerin des liebevollen Händchens rasch zu spüren bekam. Eine Weile lang ließ Lukas die sinnliche Stimulation von Yelena noch über sich ergehen, dann öffnete er vosichtig die glasig verklärten Augen und seufzte: "Oh Schatz, ich glaube, es ist jetzt höchste Zeit fürs Bettchen!". Yelena nickte eifrig und half ihrem Gatten beim Ausstieg aus der Wanne. Sie trocknete seinen nackten, schaumbedeckten Körper mit einem weichen Frotteehandtuch sorgsam ab, wobei sie sich erneut besonders der Brustbehaarung und dem Unterkörper widmete, die letzten auf Rücken und Po einsam zurückgebliebenen Wassertröpfchen zeigleich mit dem sanften Kuß ihrer Lippen trocknend. In inniger Umarmung begaben sich beide ins Schlafzimmer unter das warme Deckbett. Hier schlüpfte nun auch Yelena aus der letzten sie bedeckenden Hülle ihres Morgenmantels und kuschelte sich ganz eng an ihren Luki, dessen Mund jeden Quadratmillimeter ihres freigelegten Körpers sogleich mit einem wahren Feuerwerk leidenschaftlicher Küsse heimsuchte, während es draußen vor dem zugezogenen Schlafzimmerfenster bereits langsam ein wenig heller wurde ...

07 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas erhält Zugang zu einer traumhaften Vision, Wannabe verschafft sich einen überflüssigen Abgang]

Der Nieselregen hatte endlich aufgehört, und an seiner Stelle war die Dämmerung nun über London hereingebrochen. Die ersten schwachen Sonnenstrahlen beschienen den Prachtbau jenes fünfstöckigen Stadthauses am Eaton Place Nummer 165, vor dem Wannabes roter Ferrari eben gerade zum Stehen gekommen war. Die Hausnummer hatte der Exkriminalist durch einen weiteren Anruf im Büro bei Claudia in Erfahrung gebracht. Er selbst stand jetzt bereits direkt vor der gigantisch erscheinenden Haustür und betätigte zum wiederholten Male den Türklopfer, als von drinnen plötzlich Schritte näherzukommen schienen. Die Tür wurde geöffnet, und in ihrem Rahmen erschien ein Mann von etwa 30 Jahren im Frack, der verschlafen fragte: "Sie wünschen bitte?!". Wannabe räusperte sich und sagte dann mit fester Stimme: "Mein Name ist Charles Wannabe von der Privatdetektei 'Wannabe Svensson', Ermittlungen aller Art. Ich würde Mister Butler gern zur Klärung eines wichtigen Sachverhalts sprechen. Wenn Sie mich Ihrem Herrn bitte melden würden?!". Der Frackträger schaute ein wenig verdutzt: "Meinem was?!". Wannabe haßte Wiederholungen, aber hier sah er sich doch zu einer solchen genötigt, denn offensichtlich war nicht nur er, sondern wohl auch dieser Hausangestellte auf den Kopf gefallen. Und so sprach er erneut: "Ihrem Herrn, Mister Hudson Butler! Der wohnt doch hier, oder?!". Der Mann im Frack nickte: "Ja, der wohnt hier. Treten Sie doch bitte näher! Herr Butler befindet sich derzeit noch im Schlafgemach, ich hole ihn! Wenn Sie solange ablegen und schon mal im kleinen Salon warten möchten?!". Dabei vollführte der Arm des Mannes wie in Zeitlupe eine großzügig einladende Handbewegung, welche Charles sofort dazu nutzte, ihm seinen rasch ausgezogenen Mantel überzuwerfen. Wieder schaute der Frackträger ein wenig verwundert, was aber Wannabe, der schon auf dem Weg in den ihm zugewiesenen Warteraum war, nicht mehr registrierte. Der Mann im Frack warf den Mantel des Besuchers über den Kleiderständer neben der Eingangstür und begab sich dann würdevollen Schrittes die lange Treppe zum Obergeschoß hinauf. Auf der Hälfte der Stufen stoppte er kurzzeitig seinen Schritt und rief - mit einem Blick nach unten: "Ach Sir Wannabe, wenn Sie in der Zwischenzeit einen Tee trinken möchten, bedienen Sie sich ruhig selbst auf dem kleinen gläsernen Beistelltisch". Damit setzte er seinen Aufstieg in aller Ruhe fort, während Charles sich in den großzügigen vier Wänden des durchaus gar nicht so kleinen Salons umsah. Den besagten Beistelltisch hatte er rasch entdeckt. Und tatsächlich stand darauf ein einsames schlichtes Trinkglas, gefüllt mit einer gelblichen Flüssigkeit. Das mußte dann wohl der Tee sein. Charles hatte zwar in einem solchen Haus eher ein silbernes Tablett mit einem ebensolchen Kännchen, dazu ein edles Porzelantässchen und eine prunkvolle Zuckerdose erwartet, aber da ihm vom Sturz noch immer der Schädel gehörig brummte, ergriff er die willkommene Gelegenheit und mit ihr das zu drei Vierteln gefüllte Glas und holte aus seiner Anzugjacke die zweite Kopfschmerztablette hervor. Er stopfte sie in den Mund und trank einen Schluck des bereitgestellten Heißgetränks nach. Gut, von einem Heißgetränk konnte man auch nicht so recht sprechen, denn was Charles Wannabe da jetzt schlückchenweise die Kehle herunterlief, war eher lauwarm. Vermutlich war der Tee doch schon etwas abgestanden, was dann unter Umständen auch seinen eigentümlich bitteren Nachgeschmack zu erklären vermochte. Charles leerte den Rest des Glases in einem Zug, und schüttelte sich dann am ganzen Körper. Bestimmt so eine neumodische Teesorte aus Übersee. Das würde einem als Brite dann endlich auch mal einen guten Grund liefern, warum die Amis anno 1773 solche Unmengen Tee ins Bostoner Hafenbecken verklappten. Mehr Zeit, um über die Ursachen und etwaige Auswirkungen jenes bitteren Teebeigeschmacks zu spekulieren, blieb Charles Wannabe allerdings nicht. Rasch stellte er das leere Glas wieder beiseite, denn von der Treppe her näherten sich bedächtige Schritte.

Wenige Augenblicke später erschienen vor Wannabe der ihm schon bekannte Frackmensch und ein vollbärtiger Mann fortgeschrittenen Alters im Morgenrock. Der Bärtige reichte Charles Wannabe die Hand und sprach: "Hudson Butler, Sir! Und das zu meiner Rechten ist mein Freund und Mitbewohner Alfred". Auch der Frackträger reichte dem Exchefinspektor die Hand und ergänzte: "Angenehm, Sir Wannabe! Alfred, Alfred von ..." Der Händedruck Wannabes wurde mit einem Male deutlich fester, und sichtlich beeindruckt bemerkte er: "Ah, ein Von! Dann sind Sie wohl hier der adlige Herr. Entschuldigen Sie bitte das peinliche Mißverständnis!". Lachend schüttelte der junge Mann seinen Kopf: "Nein, Sir, keiner von uns hat blaues Blut. Was ich sagen wollte, ist: Ich bin Alfred von 'Hitch & Cock", einer Agentur für ... nun ja, sagen wir mal ganz besondere Dienstleistungen. Ist ja irre, daß sie mich für einen Butler hielten und meinen Freund für einen hohen Herren, wo doch er der Butler ist - also zumindest von Namen her. Ansonsten gibt es hier in unserem prunkvollen Haus am Eaton Place schon lang keine Standesunterschiede mehr. Das war früher der Fall, als hier noch die Familie Bellamy mitsamt ihrer zahlreichen Dienerschaft lebte. Da ging es den ganzen Tag treppauf, treppab. Aber die Zeiten sind vorbei! Was nun meinen Beruf oder besser gesagt meine Berufung angeht, so bin ich sozusagen Hobbyornithologe. Ich vertreibe mir meine Zeit also hauptsächlich mit jeder Art von Vögeln, wobei mich die Männchen stets deutlich stärker interessieren und anzuziehen vermögen als die Weibchen. Das starke Geschlecht ist da einfach prachtvoller und glamouröser, nicht so schlicht und gewöhnlich wie das weibliche, wissen Sie. Ich bin immer wieder ganz aus dem Häuschen, wenn ich mal so ein richtiges maskulines Prachtexemplar vor meine Flinte bekomme. Dann fackel ich auch gar nicht lange. Ruckzuck ist das Männchen flachgelegt und nach allen Regeln der Kunst von mir ausgestopft. Nicht wahr, mein Guter?!". Die Hand Alfreds legte sich dabei um die Taille seines Mitbewohners, der zaghaft zu nicken begann. Charles Wannabe war nach den ausschweifenden Ausführungen der etwas nasal klingenden, hohen Stimme dieses Herrn Alfred etwas perplex. Und so brauchte er einen Moment, um sich zu fangen, bevor er zum eigentlichen Sinn seines Besuchs kam: "Nun ja, wie dem auch sei! Ich bin jedenfalls auf der Suche nach der von Ihnen, Mister Butler, einst im königlichen Auftrag gefertigten Paulusstatue, die Lady Diana und ihr Prinzgemahl anläßlich ihrer Trauung der Saint Pauls Cathedral schenkten". Hudson Butler wirkte mit einem Male sichtlich nervös, er begann von einer Sekunde auf die andere am ganzen Körper zu zittern und zu zucken, während er fragte: "Mein Paulus?! Was ist denn mit ihm?". Wannabes Augen blieben an dem immer unruhiger werdenden Mann haften, während er erklärte: "Er ist spurlos verschwunden, und zwar gestern abend. Und nun ist die Frage, wer ihn weggenommen hat. Können Sie mir das vielleicht sagen?! Sie waren doch gestern spätabends noch in der Kirche". Butlers Hände begannen, so stark zu zittern, daß er sie mehr und mehr ineinander verkrallten mußte, allein um nach außen hin seine große innere Unruhe nicht allzu offen zur Schau zu stellen: "Ja, ich war dort gestern abend! Mich plagen momentan große Sorgen und Zukunftsängste, und die wollte ich nun im Gebet vor Gott bringen, wissen Sie! Aber als ich ging, da war mein Paulus noch da, das müssen Sie mir glauben! Ich hab ja sogar noch ein Foto von ihm gemacht mit meiner Sofortbildkamera. Ich hab es auf dem Nachtschrank neben dem Doppelbett in meinem Schlafzimmer". Und hilfesuchend mit einer ausschweifenden Kopfbewegung seinen Mitbewohner anblickend, ergänzte er: "Holst Du es bitte mal runter? Du findest es ganz leicht, kennst Dich ja da oben aus". Alfred entschwand schnellen Schrittes, während sich der ältere der beiden Hausbewohner schluchzend wieder seinem Gast zuwendete: "Bitte, Sie müssen ihn unbedingt wiederfinden, er bedeutet mir ja so viel!". Tränen rannen ihm übers ganze Gesicht, das inzwischen auch von einem wilden Zucken befallen war und das er nun rasch in seinen zitternden Händen verbarg. Mitbewohner Alfred kehrte im selben Moment ziemlich außer Atem mit der bewußten Fotografie zurück und überreichte sie Wannabe. Gleichzeitig aber legte er seinen Arm um die Schulter seines Freundes und sprach dann zu dem Ex-Yard-Chef: "Ich glaube, es ist besser, wenn Sie jetzt gehen. Ich begleitete Sie noch zur Tür". Mit diesen Worten führte er Hudson Butler zu einem der großen Lehnsessel am Kamin im entgegengesetzten Teil des Salons, wo er ihn behutsam platzierte, sacht über seine Hände streichelte und ihn dann mit einer bereitliegenden warmen Wolldecke liebevoll zudeckte. All dies beobachtete Charles Wannabe argwöhnisch aus dem Augenwinkel heraus, während er die Sekunden des Unbeobachtetseins nutzte, um sein Smartphone aus der Hose zu ziehen und sich mit der eingebauten Kamera endlich selbst ein Bild von der Figur jenes sagenhaften Paulus zu machen. Kaum hatte er das Handy wieder in seiner Hose verstaut, kehrte auch schon der junge Mann zu ihm zurück, ließ sich die Fotografie wiedergeben und steckte sie sich in die Brusttasche seines Fracks. Anschließend geleitete er den Exkriminalisten in den Flur.

Dort angelangt, half Jüngling Alfred seinem Gast ohne Umschweife in dessen Mantel und flüsterte ihm dabei ins Ohr: "Sie wundern sich sicher über das ungewöhnliche Verhalten meines Freundes, oder?! Nun ja, Sie wissen noch nicht alles, unser Verhältnis zueinander ist nämlich ein sehr besonderes". Dabei trat er um Wannabe herum und begann - unmittelbar vor ihm stehend - die Knöpfe von dessen Mantel von oben nach unten langsam zuzuknöpfen. Als er dabei am untersten Knopf in Nähe des Hosenbundes angelagt war, hielt er inne und raunte: "Das, was ich hier für Sie tue, das tu ich für meinen Freund nämlich auch. Das und noch viel mehr, jahrelang schon. Er redet ja nicht gern darüber, aber er hat meine permanente Anwesenheit nunmal nötig. Darum bezahlt er mich auch für meine speziellen Dienste. Ich kann mich Ihnen leider jetzt nicht länger widmen, aber ich steh Ihnen gern später bei passenderer Gelegenheit einmal unter vier Augen zur Verfügung. Rufen Sie mich doch einfach einmal an, in den Abendstunden vielleicht. Zur Nacht nimmt Hudson ja immer ein recht starkes Schlafmittel, und wir zwei beide wären hier unten ganz ungestört. Sie verstehen?!". Charles Wannabe glaubte, recht genau zu verstehen. Er wich ruckartig einen großen Schritt zurück, um so dem Zugriff des jungen Burschen zu entgehen und krächzte: "Mein lieber Herr! Was Sie und Ihr spezieller Freund so alles treiben, wenn ich nicht dabei bin, ist ganz allein Ihre Sache. Aber ich will darüber ganz sicher nicht mehr hören, als ich jetzt schon von Ihnen gehört habe. Und was das Verschwinden der Holzfigur angeht, so sprechen Ihr Freund Butler und ich uns sicher noch einmal. Ich komme wieder! Jetzt aber muß ich gehen! Guten Tag!". Mit diesen Worten flüchtete sich Charles Wannabe regelrecht zur Haustür. Und während er durch sie hindurch - die Vortreppe des Hauses hinab - eiligen Schrittes zu seinem Wagen lief, erreichte ihn nochmals der nasale Nachruf Alfreds: "Ach Sir Wannabe, Ihr Hintern ...". Wannabe glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. Da hörte sich doch wahrlich alles auf! In aller Öffentlichkeit gaffte ihm dieser Perversling auf das Gesäß und tat das wie selbstverständlich auch noch lautstark kund. Ruckartig drehte sich der empörte Ex-Yardchef um und brüllte den Jüngling im Frack an: "Mein Hintern geht Sie einen Dreck an! Belästigen Sie mich gefälligst nicht länger! Ich bin nicht schwul!". Entrüstet bestieg er seinen Ferrari und sauste vondannen. Dabei bediente er sich mit einem gekonnten Handgriff der Freisprecheinrichtung seines Smartphones und wählte über Kurzwahl die bereits auf der Fahrt zur Kirche eingegebene private Handynummer Claudias an. Am anderen Ende meldete sich eine Sekunde später die liebliche Stimme der anmutigen Sekretärin, und Wannabe hauchte, den Verkehr jederzeit fest im Blick behaltend: "Hallo, Claudia! Ich war jetzt bei diesem Mister Hudson Butler am Eaton Place 165. Mit dem stimmt was nicht, der hatte sich während meiner Befragung auf einmal überhaupt nicht mehr im Griff. Das ist eh ein komischer Kauz - ebenso wie sein Mitbewohner, der ganz offenkundig vom andern Ufer ist. Stell Dir nur vor, am Ende hat mir dieses Ekel namens Alfred von einer gewissen Agentur 'Hitch & Cock' sogar noch auf den ... ach egal! Versuch auf alle Fälle mal, dieses seltsame Paar und seine Männerwirtschaft mithilfe des Internets weiter zu durchleuchten. Das Einzige, was mir der Besuch bei Butler sonst gebracht hat, ist ein Schnappschuß vom verschwundenen hölzernen Paulus. Den schick ich Dir auch gleich wieder als Emailanhang aufs Handy, sobald ich bei der London Bridge angekommen bin, wo ich diese Penner treffe, die ebenfalls zur Tatzeit in der Kirche waren. Ich hoffe, dieser ungewöhnliche Außentermin bringt mich endlich weiter in meinen Ermittlungen, nicht daß ich am Ende später bei der Rückkehr Svenssons gänzlich mit leeren Händen dastehe".

Lukas Svensson dachte in diesem Moment überhaupt nicht an Rückkehr. Er schnarchte - gerade eben erst eingeschlafen - unter seiner Bettdecke, die Hände schlaff auf Yelenas warmen Pobacken liegend und träumte von deiner bärtigen Holzfigur, die mit seinem neuen Partner Charles - dessen Augen verbunden waren - händchenhaltend um ein Feuer herumtanzte. Um die Beiden herum standen die drei Pfarrer Baptist, Shepherd und Grave, allesamt in schneeweiße Gardinen gehüllt und klatschten Beifall. Wannabe aber lallte immer wieder aufgeregt: "Wo bist Du, Holzkasper?". Und sein hölzerner Tanzpartner erwiderte mit tiefer Stimme: "Die Antwort auf diese Frage ist Dir vielleicht viel näher als Du glaubst! Du mußt nur die Augen auftun, schon wirst Du's erkennen!". Dann trat wie aus dem Nichts ein kleiner dunkelhäutiger Junge an die beiden Männer heran und riß Charles Wannabe mit einem Ruck die Binde von den Augen. Wannabe aber fiel noch im selben Moment zu Boden, wo seine Hülle reglos liegen blieb, während sich rund um ihn herum in alle Himmelsrichtungen ein grelles blendendes Licht ausbreitete. Für einen Moment lang war alles still, selbst Lukas Svenssons schnarchender Atem stockte ein paar Sekunden lang. Dann aber drang aus der Traumwelt eine Männerstimme an sein Ohr, die leise "I Saw The Light" sang. Und Lukas Svensson, der dieses traumhafte Licht - in welchem schemenhaft auch immer wieder das verzückte Antlitz Charles Wannabes aufzutauchen schien - nun ebenfalls die ganze Zeit über vor seinem geistigen Auge aufleuchten sah, drückte seine Nase tief in die Haare seiner neben ihm liegenden Yelena und sog ihren herrlichen Pfirsichduft bei jedem Atemzug tief in sich ein. Sein Gesicht überkam dabei ein seliges Lächeln, und die Fingerspitzen seiner Hände wanderten von der Poebene seiner Herzensdame aus an im zarten Körper langsam immer weiter nach vorn.

Im Haus am Eaton Place Nummer war der fracktragende Alfred derweil in den kleinen Salon zurückgewandert, nachdem er die Haustür schulterzuckend hinter sich ins Schloß fallen gelassen hatte. In Gedanken war er immer noch bei dem überstürzten Abgang Wannabes und dessen letzten Worten. Nicht schwul?! Was sollte das denn? Wer war denn hier schwul?! Er wollte den guten Mann mit der Bemerkung über dessen Hintern doch einzig und allein dezent darauf hinweisen, daß seine Hose am Gesäß einen riesigen Dreiangel hatte. Und das war doch wirklich kein Grund, gleich so auszurasten und einen in aller Öffentlichkeit so anzubrüllen, oder?! Er wischte den Gedanken rasch beiseite und widmete sich - beim Kamin angelangt - nun lieber wieder seinem zitternden Freund Hudson Butler, dem er eine Tablette aus einer Schatulle auf dem Kamin in den Mund steckte und sprach: "Meine Güte, Hudson, so einen starken Parkinsonschub wie eben hattest Du ja schon lang nicht mehr. Ich ruf gleich Doktor Riverside an, damit er zu einem Hausbesuch vorbeikommt". Hudson Butler wackelte ausschweifend mit dem Kopf hin und her: "Mein Gott, mein Paulus! Ich war doch so stolz auf ihn. Sein Gesicht und seine ganze Erscheinung hatten immer so etwas Lebendiges an sich. Und jetzt, wo meine zittrigen Hände nichts Vernünftiges mehr zustande bringen, war er eh das Wertvollste in meinem Leben. Er sollte mein Vermächtnis an die Nachwelt sein, wenns mich mal nicht mehr gibt. Und nun ist er gestohlen worden! Und das vermutlich, kurz nachdem wir Zwei gestern abend die Kathedrale verlassen hatten. Daß wir aber auch rein gar nichts bemerkt haben von einem möglichen Täter?! Nicht einmal Du, als Du noch einmal allein zurückgingst, um Deinen vergessenen Schal zu holen. Wie schrecklich ...". Alfred nickte nachdenklich: "Ja, das ist in der Tat sehr bitter. Zumal man ja auch bedenken muß, daß der Paulus im Falle Deines Ablebens noch eine immense Wertsteigerung erfahren wird. Wer auch immer ihn weggenommen hat, ist dann wohl am Ende ein reicher Mann". Dabei rieb er sich verstohlen die Hände und verkündete: "Ich glaube, es wird langsam ein wenig kühl hier. Ich leg mal rasch noch ein paar Holzscheite im Kamin nach". Eifrig warf er ein paar Stücken des neben dem Kamin bereitliegenden Holzes in die Flammen, die die ihm dargebotenen Scheite sogleich mit Feuereifer und glühender Leidenschaft verzehrten. Im Rücken des stets dienstbereiten Jünglings aber fragte Hudson Butler mit leiser Stimme: "Gießt Du mir zum Herunterspülen meiner Pille bitte eine Tasse Tee ein, Alfred?!". Der junge Mann nickte und schaute sich um. Zu seinem Erstaunen entdeckte er das silberne Tablett mit der Porzellan-Teekanne und den beiden zugehörigen Tassen direkt neben dem Kamin auf dem Mahagonischreibtisch. Und während er seinem Freund das Getränk einschenkte und reichte, fragte er: "War der Tee nicht vorhin noch auf dem Beistelltisch im Eingangsbereich des Salons? Hast Du das Tablett etwa hier herüber gestellt?". Hudson Butler mußte angestrengt nachdenken, und so kam seine Antwort ein wenig zögerlich: "Ja, ich glaube schon. Vermutlich, als ich vorhin bei meinem Gang aufs WC kurz hier unten war. Ich dachte wohl, am Kamin bliebe der Tee länger warm. So hält er sich jetzt vielleicht sogar noch bis der Doc vorbeikommt. Ruf ihn doch bitte gleich an! Und wenn er dann da ist, dann kannst Du ihm auch gleich meine Urinprobe mitgeben, die steht noch da drüben". Alfred folgte mit langsamen Schritten dem Fingerzeig seines Mitbewohners und kehrte schließlich mit erstauntem Gesicht wieder zu ihm zurück. Dabei hielt er ein leeres gläsernes Gefäß in der Hand und erkundigte sich: "Meinst Du das hier? Aber da ist doch gar nichts drin!". Das ganzkörperliche Zucken Hudson Butlers verstärkte sich im Schulterbereich noch ein wenig, wozu er äußerte: "Mmh, merkwürdig, kann doch noch nicht verdunstet sein in so kurzer Zeit. Na egal, da muß ich eben gleich nochmal ran! Würdest Du mich zu den entsprechenden Örtlichkeiten begleiten!". Und während ihn sein unheimlich hilfsbreiter Freund Alfred unterhakte, sprach Hudson Butler dankbar: "Ach, wenn ich Dich nicht hätte. Deine aufopfernde Pflege ist echt all ihr Geld wert. Jeden einzelnen Penny" ..:

08 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas' Treiben steht in den Sternen, Wannabe erblickt den Großen Wagen]

Big Ben verkündete den Londonern weithin hörbar den Anbruch der achten Stunde, als Charles Wannabe seinem Ferrari unmittelbar vor der London Bridge wieder entstieg. Er verschloß mittels der Fernbedienung mit dem Pferdchenanhänger die Zentralverriegelung seines Luxusschlittens, ging aber - während er über sein Smartphone das Paulusbild wie versprochen an Claudias Handy übersendete - noch einmal zur Beifahrertür und kontrollierte, ob auch sie fest verschlossen war. In einer solchen Gegend wie hier konnte man ja schließlich nie wissen. Beim anschließenden Versuch, die Straße zu überqueren, raste ein großer Laster mit der Aufschrift "F.C.E. Logistics - Cypher & Co. - London E1" direkt an ihm vorbei durch eine große Pfütze, wobei das schmutzige Regenwasser in hohem Bogen auf Charles Wannabe zuschoß und dabei seinen teuren Designermantel von einer Sekunde auf die andere nahezu komplett von oben bis unten durchnäßte. Fluchend schüttelte sich Charles Wannabe, um so zumindest einen Teil der aufdringlichen Nässe gleich wieder loszuwerden. Hatte denn dieser Trottel von einem Fernfahrer keine Augen im Kopf?! Nur allzugern wäre er dem rücksichtslosen Zeitgenossen nachgefahren und hätte ihn an der nächsten roten Ampel zur Rede gestellt, aber seine Ermittlungen ließen ihm für derartige Aktionen leider keine Zeit. Und so überquerte er stattdessen langsam vor sich her tropfend die Fahrbahn und stieg anschließend jene schmale Steintreppe seitlich des Brückengeländers hinab, deren Stufen ihn direkt unter die bogenförmige Brücke ans Themseufer führten. Dort standen und saßen ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder in schäbige, schmutzige Kleidung gehüllt um eine große aufgestellte Metalltonne herum und wärmten sich an jenem Feuer, das sie dort mithilfe von gesammelten Holzresten und alten Zeitungen zuvor mühsam entfacht hatten. Charles Wannabe, der aufgrund der eisigen Witterung und des durchnäßten Mantels auch ein wenig zu frieren begann, gesellte sich kurzerhand zu ihnen und hielt seine klammen Hände in die angenehme Hitze. Ein kleiner Junge, welcher dabei neben ihm stand, besah den Fremden prüfend von oben bis unten und meinte schließlich: "Hey, Alter! Wo hast Du denn die Spießerklamotten her? Wohl im Altkleidercontainer hinterm Harrods gewühlt, wie?!". Charles Wannabe löste seinen Blick für einen Moment von der lodernden Flamme vor sich und erwiderte leicht genervt: "Was heißt hier Alter, ich bin grad mal 37! Und meine Kleidung hab ich nirgendwo rausgewühlt, sondern eigens anfertigen lassen - bei meinem Maßschneider in Essex". Der Junge aber grinste: "Ja, klar! Und weil Du Knete ohne Ende hast, treibst Du Dich morgens hier unter der Brücke rum, wärmst Dir Deine kalten Pfoten an unserem Feuerchen und hast in Deiner angeblich maßgeschneiderten Hose am Hintern einen fetten Riß". Charles griff sich erschrocken mit der Hand ans Gesäß und bemerkte das beschriebene Loch. Jetzt dämmerte es ihm. Das also hatte dieser Alfred vorhin gemeint, als er ihn auf seinen Hintern ansprach. Den Dreiangel mußte er sich dann wohl schon bei seinem Sturz in der Kirche geholt haben. Seine Wangen bekamen mit einem Mal trotz der ihn umgebenen Kälte eine zartrosa Färbung. Der Junge neben ihm aber nutzte Wannabes momentane Sprachlosigkeit für eine weitere kleine Frötzelei: "Na, hab ich Dich ertappt?! Aber nein, sicher gibt es bei einem Schlaumeier wie Dir auch dafür eine ganz logische Erklärung. Laß mich mal raten! Du bist bestimmt Prinz Charles, und Deine königliche Mami hat Dich incognito losgeschickt, um die 20 besten Zubereitungsmethoden für Ratte am Spieß rauszufinden. Stimmts?!". Charles Wannabe, der seine kurzzeitig verlorene Fassung endlich wiederzufinden schien, knurrte sichtlich verärgert: "Nein, Du kleiner Klugscheißer! Ich heiße Charles Wannabe, bin Privatdetektiv und auf der Suche nach einer verschwundenen Holzstatue". Der vorlaute Knirps reichte dem Expolizeibeamten die Hand und priff dazu anerkennend durch seine obere Zahnlücke: "Ok, ich geb mich geschlagen! Der Einfall mit dem Schnüffler, der hier in so einem Aufzug nach einem Holzkasper sucht, ist so herrlich bescheuert, daß man es Dir schon fast wieder glauben möchte. Respekt, Alter!".

Schmunzelnd schüttelte Charles Wannabe die schmuddlig-rauhe Kinderhand, und sah gnädig darüber hinweg, daß ihn der Junge schon wieder Alter genannt hatte. Der kleine Frechdachs fing an, ihm zu gefallen. Und so beugte er sich zu ihm herunter und fragte: "Hat so ein vorlauter Rotzlöffel wie Du vielleicht auch einen Namen?". Der Kleine nickte: "Hab ich! Mein Erzeuger hat mir den dämlichen Namen Cedrick gegegeben. Und das war dann auch schon fast alles, was er mir gab, außer ein paar Ohrfeigen und einem Tritt in den Hintern, als ich 10 Jahre alt war. Seitdem leb ich auf der Straße, drei Jahre mittlerweile. Hier kennt mich jeder nur als Mike L. Jag's Sohn, wobei das L für Lordi steht, so hieß wohl mal mein Großvater. Das hat mir dann auch den Spitznamen 'Kleiner Lord' eingebracht". Charles Wannabe hakte noch ein wenig nach: "Du erwähntest, daß Dein Vater Dich rausgeworfen hat. Aber was ist denn mit Deiner Mutter, hat sie gar nichts dazu gesagt?!". Der Junge schniefte und rieb sich über die Augen: "Nein, das konnte sie nicht. Sie ist nämlich bei meiner Geburt gestorben". Noch einmal wischte sich der Kleine über die glänzend gewordenen Augen. Dann aber ballte er sogleich die Faust und reckte sie Charles entgegen: "Nicht, daß Du denkst, ich heule hier rum wie ein Mädchen. Ich hab nur ein bißchen Rauch im Auge und einen Schnupfen ... Den kriegst Du übrigens auch, wenn Du nicht bald mal den blöden Mantel ausziehst". Charles Wannabe zuckte mit den Schultern: "Ich hab aber nichts anderes zum Drüberziehen. Und ganz ohne Mantel ist es hier doch erst recht zu kalt!". Aus der Ferne drang in dieser Sekunde im Hintergrund ein zarter Glöckchenton an Charles Ohr, der Junge neben ihm aber riß freudestrahlend beide Arme in die Luft: "Wie aufs Stichwort! Das sind sicher Exbischof Hope und Diane, zwei unserer guten Seelen hier im Londoner Underground. Die haben bestimmt was Warmes für Dich zum Anziehen. Komm mit, wir fragen sie! Ich nehm Dich jetzt erstmal unter meine erfahrenen Fittiche". Damit packte der Junge den Exchefinspektor am Arm und zog ihn mit sich fort in Richtung des - von zwei prachtvollen Pferden gezogenen - Planwagens, der am Themseufer langsam auf sie zurollte. Auf halbem Weg aber bremste der Knabe noch einmal ab und flüsterte Charles zu: "Aber die Geschichte mit dem Schnüffler und der verschwundenen Holzpuppe laß lieber weg! Der Bischof ist schließlich ein Mann Gottes. Und ob man nun an Gott glaubt oder nicht, so einen hohen Herrn sollte man besser nicht anlügen. Du verstehst?!". Charles lächelte und hob den Zeige- und Ringfinger der rechten Hand zum Schwur: "Jawohl, ich verstehe! Ich sag von jetzt an immer die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, so wahr ich Wannabe heiße!". Cedrick aber schüttelte ungläubig den Kopf: "Ok, Mister Möchtegern, das war schon mal eine Lüge! Und gleich eine derart schlechte, daß sogar ich sie auf Anhieb durchschaut hab. Ich glaub, das mit dem spontanen glaubhaften Schwindeln muß ich mit Dir noch dringend üben". Damit liefen die Beiden weiter zu dem Pferdewagen, der just im nächsten Moment unmittelbar vor ihnen Halt machte, und von dem ein - mit einem altmodischen schwarzem Talar bekleideter - Mann abstieg, dessen Alter sich aufgrund seines umfangreichen Vollbarts schlecht schätzen ließ. Ihm folgte, ganz in blütenweißen Tüll und ein beigefarbenes Strickjäckchen gehüllt, ein engelsgleiches weibliches Geschöpf mit einem bezaubernden, einnehmenden Lächeln und einem schlichten silberfarbenen Haarreif in der Hochsteckfrisur.

Der ältere Herr im schwarzen Umhang kam sogleich auf Charles Wannabe zu und schloß ihn fest in seine Arme, wozu seine tiefe Baßstimme ausrief: "Oh, ein Neuankömmling. Sei uns herzlich willkommen! Tja, Exbischof Hope ist heute leider verhindert, so daß er mich quasi als seine Vertretung hergeschickt hat. Mein Name ist John Paul - ok, eigentlich John George Ringo Paul, was mir als Junge den Spitznamen Beatles einbrachte. Aber heute nennen mich alle ganz einfach nur noch Pauli. Meine liebe Güte, Du bist aber naß geworden!". Charles betrachtete sich den bärtigen Mann ein wenig genauer. Hatte er diesen Pauli erst nur für einen weiteren Maulwurf - wie er die Leute der Kirche oftmals abfällig zu nennen pflegte - gehalten, so machte das faltige Gesicht ihm nun auf Anhieb einen merkwürdig vertrauten und zugleich vertrauenserweckenden Eindruck. Kannte er den Mann vielleicht, oder erinnerte er ihn vom Aussehen und Auftreten einfach nur an Lukas Svensson?! Um länger über diese Frage nachzusinnen, blieb Charles allerdings keine Zeit, denn jener Pauli war bereits dabei, ihm den nassen Mantel auszuziehen, wozu er seiner reizenden Gehilfin zurief: "Diane, meine Liebe, würdest Du bitte mal unter der Plane unseres Wagens nachsehen, ob wir für unseren Freund hier etwas Warmes zum Anziehen haben". Diane nickte und stieg von hinten auf den Planwagen, woher sie einige Minuten später mit einem dicken, muffigen Filzmantel zurückkehrte, in den sie dem - wie angewurzelt dastehenden - Charles Wannabe auch gleich hineinhalf. Im Anschluß reichte sie ihm ihr zartes Händchen und wisperte sanft: "Ich bin Diane. Mit bürgerlichem Namen Diane S. Pencer. Und mit wem habe ich die Ehre?". Möglicherweise vernebelte dem alten Haudegen Wannabe der Geruch von Mottenkugeln, der recht deutlich von seiner neuen Ummantelung an seine Nase drang, die Sinne - vielleicht war es aber auch der Charme dieses märchenhaften Engels, der ihn anstrahlte. Wie dem auch sei, Charles rang noch einige Sekunden mit sich selbst, bis seine Sprachvermögen wiederkehrte: "Ich heiße Charles ...". Klein-Cedrick zupfte dem Exchefinspektor am Mantelsaum und schüttelte stumm den ernsthaft dreinblickenden Bubikopf hin und her. Wannabe erinnerte sich an den Hinweis des Jungen, und berichtigte: "Charles Brown, aber meine Freunde nennen mich Charlie Brown ... und ich bin auf der Suche nach ... nun ja, nach einer Schnitzerei, die einem Bekannten von mir abhanden gekommen ist und an der ihm sehr viel liegt!". Cedrick hielt ihm anerkennend den hochgestreckten Daumen entgegen und flüsterte leise, so daß nur Charles es hören konnte: "Ein Weißer, der Brown heißt! Auf sowas kommst echt nur Du! Erstklassig geflunkert!". Aber auch Diane machte ein recht überraschtes Gesicht: "Ihr Name ist Charles?! Welch ein Zufall! Mein früherer Ehemann hieß nämlich auch Charles. Leider war unsere Ehe nicht von dauerhaftem Erfolg gekrönt. Aber immerhin hat er mir zwei wundervolle Kinder geschenkt. Zwei Jungs, um genauer zu sein - meine kleinen Prinzen!". Sie seufzte und ihr strahlendes Gesicht wurde für eine Sekunde sehr traurig: "Sie leben bei ihm, wissen Sie. Und ich hab sie nicht mehr gesehen, seit ich vor einigen Jahren in Paris ... Nun ja, lassen wir das! Ist keine schöne Geschichte! Erzählen Sie mir doch lieber die Ihre, damit ich auf andere Gedanken komme". Charles Wannabe räusperte sich kurz, dann begann er: "Also ich stecke gerade mitten in den Ermittlungen zu meinem ersten Fall. Die Holzfigur eines gewissen Paulus ist gestern abend nämlich aus der Saint Pauls Cathedral entwendet worden". Und mit einem Blick in Richtung der Obdachlosen, die sich inzwischen links von ihm ebenfalls an dem Pferdewagen Paulis eingefunden hatten, ergänzte er zaghaft: "Und da diese ... nun ja, diese Leute hier ... sich gestern auch in der Kathedrale aufhielten, dachte ich ...". Einer der Obdachlosen - der durch seine zerkratzte Hornbrille und sein recht gepflegtes Äußeres deutlich aus der Masse hervorstach - unterbrach ihn aufgeregt, die Hände zur Faust geballt: "Ach, da dachtest Du also, wir haben das Holzdings geklaut! Klar, immer wenn bei Euch Bessergestellten was wegkommt, dann waren es entweder die Ausländer oder die aus Eurer Gesellschaft Ausgestoßenen. Hoch leben die Vorurteile! Schönen Dank auch!". Charles Wannabe, der sich auf eigenartige Weise ertappt fühlte, winkte rasch ab und beteuerte: "So war das doch gar nicht gemeint, mein Herr! Was ich sagen wollte, war: Ich dachte, die hier Anwesenden hätten vielleicht etwas gesehen oder jemanden bemerkt, der sich in der Kirche an der Holzstatue zu schaffen machte. Und außerdem: Machen Sie mich hier bitte nicht dafür verantwortlich, daß die Gesellschaft Sie ausstößt. Sie brauchen sich ja nur eine vernünftige Wohnung und einen ordentlichen Job suchen, anstatt hier den ganzen Tag herumzulungern und Schnaps in sich hineinlaufen zu lassen". Die Fäuste des angesprochenen Mannes entkrampften sich wieder, und kopfschüttelnd sprach er: "Für Euch da oben ist immer alles so einfach! Sieh mich doch mal an! Wer gibt mir denn eine Wohnung oder Arbeit? Denkst Du, es macht mir Spaß, hier in der Kälte zu hausen - die zugige London Bridge als Dach überm Kopf, billigen Fusel als innere Heizung, eine zerknüllte Sonntagsausgabe der Times als Deckbett, Tag für Tag auf die Almosen und Wohltätigkeit anderer angewiesen? Nein, mein Freund! Früher, ja da hab ich gearbeitet und sogar recht gut verdient als Leitender Forschungsassistent im nordwestenglischen Kernkraftwerk Calder Hall. Mit dessen Abschaltung kam 2003 auch für mich das jähe berufliche Aus, und der soziale Abstieg begann. Einem knapp 50jährigen Forschungsassi gibt doch keiner mehr eine Arbeit, geschweige denn eine Umschulung. Ich hab ein Jahr als Vertreter Klinken geputzt, dann siedelte ich hier nach London über und versuchte es als selbständiger wissenschaftlicher Berater. Ich mußte in mein gewagtes Vorhaben im Vorfeld natürlich ziemlich viel Geld vorschießen, doch die großen Banken lockten ja auch mit großzügigen Krediten. Kaum aber geriet ich einmal aufgrund einer längeren Erkrankung des Herzens mit der Rückzahlung in Rückstand, da setzten meine ach so großzügigen Geldgeber gnadenlos die Daumenschrauben an. Mein kleines Häuschen in New Hampshire, in dem ich arbeitete und lebte, wurde gepfändet und versteigert. Tja, da saß ich mit einem Mal auf der Straße, keinen Penny in der Tasche und haufenweise Schulden am Hintern. Der altbekannte Teufelskreis begann: Ohne festen Wohnsitz keine Arbeit, ohne feste Arbeit keine Wohnung. Der Hunger zwang mich schließlich zu betteln, die Kälte zu trinken. Und dann kommt einer wie Sie, schaut verächtlich auf mich herab und will mich belehren. Das ist nicht nötig, glauben Sie mir! Ich bin schon durch die härteste Schule gegangen, die das Leben zu bieten hat - das Leben, das von hier unten aus gesehen bei weitem nicht so einfach gestrickt ist, wie Sie sich das aus Ihrer abgehobenen Vogelperspektive vorstellen!".

Wannabe schluckte. Diese Standpauke mußte er erstmal verdauen. Sichtlich verunsichert reichte er dem Mann die Hand: "Sorry, das ahnte ich ja nicht! Vielleicht beginnen wir einfach noch einmal von vorn. Also, mein Name ist Charles!". Zögernd ergriff der Obdachlose die ihm dargebotene Hand: "Ich heiße Henry, Henry Fist. Und auch ich muß mich wohl entschuldigen, aber sowas bringt mich immer in Rage, wenn einer mir das Leben erklären will. Ich hab doch nun echt alles versucht. Ich hab sogar mal studiert. Erst ein Semester Philosophie, dann Jura und Medizin, schließlich Atomphysik! Und wie weit hab ich es letztlich gebracht. Alles, was ich heute von mir sagen kann, ist: Hier steh ich nun, ich kluger Tor, und bin noch ärmer als zuvor ... Doch zurück zu Ihrem Anliegen, Charles. Ja, ich war gestern abend auch in der Kirche. Aber gesehen hab ich nichts Verdächtiges. Vielleicht fragen Sie ja einfach mal den Herrn Pauli. Der hat mich auf meinem Rückweg hierher gestern nacht nämlich begleitet und mir auf ganz anschauliche Weise das Wort Gottes ausgelegt. Er muß also auch in der Kathedrale gewesen sein, obwohl ich ihn da eigentlich gar nicht bemerkt hatte". Charles Wannabe wandte sich dem bärtigen Kuttenträger zu, der derweil zu seiner Rechten damit beschäftigt war, sich angeregt mit dem Rest der Obdachlosen zu unterhalten. Er wollte ihm gerade seine Fragen stellen, als der Gottesdiener freudig ausrief: "So, meine Lieben! Jetzt gibt es erstmal eine warme Suppe mit einen Kanten Brot und dazu einen herrlich heißen Pfefferminztee. Gelebte Nächstenliebe ist schließlich mehr als nur ein paar warme Worte!". Damit begab er sich wieder auf den hinteren Teil seines Planwagens, von dem die Beiden mit einem großen Behälter Tee, einem Aluminiumeimer voller Brotkanten und einem riesigen Kochkessel dampfender, lecker riechender Fischsuppe zurückkehrten. Der etwas überrumpelt dastehende Charles bekam von Pauli einen Kanten Brot und eine Blechschüssel Suppe samt Löffel in die Hand gedrückt, während Diane vor ihm niederkniete und ihm einen Plastikbecher Pfefferminztee hinstellte. Nachdem auch sämtliche Obdachlose mit Essen und Trinken versorgt waren, holte Pauli ein abgegriffenes kleines schwarzes Büchlein aus seiner Kutte hervor, schlug es auf und begann, mit feierlicher Stimme zu lesen: "Und Jesus ging hervor und sah das große Volk, und es jammerte ihn derselben, und er heilte ihre Kranken. Am Abend aber traten seine Jünger zu ihm und sprachen: Dies ist eine Wüste, und die Nacht fällt herein. Laß das Volk von Dir, daß sie hin in die Märkte gehen und sich Speise kaufen. Aber Jesus sprach zu ihnen: Es ist nicht not, daß sie hingehen, gebt ihr ihnen zu essen. Sie sprachen: Wir haben hier nichts denn fünf Brote und zwei Fische. Und er sprach: Bringet sie mir her! Und er hieß das Volk sich lagern auf das Gras und nahm die fünf Brote und die zwei Fische, sah auf zum Himmel und dankte und brach's und gab die Brote den Jüngern, und die Jünger gaben sie dem Volk. Und sie aßen alle und wurden satt und hoben auf, was übrigblieb von Brocken, zwölf Körbe voll. Und er legte es ihnen vor, daß sie aßen, und es blieb noch übrig nach dem Wort des Herrn. Die aber gegessen hatten, waren bei fünftausend Mann, ohne Weiber und Kinder - so sagt es uns das Wort Gottes in dem Evanglium nach Matthäus im Kapitel 14 in den Versen 14 bis 21. Und nun laßt es uns alle unserm Herrn gleichtun. Laßt uns dem himmlischen Vater Dank sagen und beten, bevor wir essen und trinken ...". Wannabe, der während der Vorlesung Paulis schon mit dem gierigen Verschlingen seiner herzhaften Suppe begonnen hatte, hielt inne und sah sich um. Erst jetzt registrierte er, daß keiner der anderen ausgehungerten Menschen um ihn herum bislang auch nur einen Bissen angerührt hatte. Stattdessen falteten sie nun alle gemeinsam ihre zittrigen, rauhen Hände ineinander und sprachen - den Blick gen Himmel gerichtet - mit Pauli im Einklang: "Vater unser, der Du bist im Himmel, geheiligt werde Dein Name! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden! Unser tägliches Brot gib uns heute und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern! Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen! Denn Dein ist das Reich und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen!". Beschämt stellte Charles Wannabe sein halbleeres Suppennapf für einen Augenblick zu Boden, legte die Hände etwas ungeschickt ineinander und stammelte ein leises "Amen!".

Pauli aber stand auf, legte seine Bibel beiseite und ging zu Wannabe hinüber. Er sah ihn mit gütigem Blick an, reichte ihm das eben abgestellte Napf und sprach: "Du brauchst Dich nicht zu schämen, daß Du schon gegessen hast! Sicher bist Du in vielerlei Hinsicht hungriger als all die anderen hier, mein Sohn. Du mußt auch kein Gebet sprechen, es sei denn, es wäre Dir ein inneres Bedürfnis. Jesus, unser Herr, will Dich nicht zu etwas drängen, er wartet mit offenen Armen darauf, daß Du von selbst zu ihm kommst und auf seinen Schultern all das ablegst, was Dich bedrückt. Was hälst Du davon, wenn Du jetzt erst einmal in Ruhe ißt und trinkst und mir dann Deine Geschichte erzählst und Deine Fragen stellst, Charles?!". Damit strich er sanft Wannabe übers Haar, und begann vor dessen Augen einen zweiten Brotkanten zu zerbrechen und die Brocken vorsichtig in die Fischsuppe in Charles Händen fallen zu lassen. Der Ex-Yardchef aber sah seinen Wohltäter nur mit großen Augen an, senkte dann sein Haupt und löffelte die ihm eingebrockte Suppe bis zum letzten aus ...

09 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas kann sich so richtig breit machen, Wannabe fühlt sich in die Enge getrieben]

Der Wecker piepte und wurde sogleich von zarter Hand zum Verstummen gebracht. Yelena Svensson, die sorgsam eingehüllt unter ihrer warmen Bettdecke lag, blinzelte verschlafen erst zum Nachttisch hinüber, dann zu der Wölbung der Bettdecke neben ihr, die sich immer wieder im gleichbleibend langsamen Rhythmus hob und senkte und dabei ein intensives Schnarchen von sich gab. Ihr müdes Haupt drückte sich noch einmal fest in ihr Kissen, und dabei blickten ihre Augen in den großen Spiegel an der Decke. Wie sie nur wieder aussah! Ihre Haare waren völlig zerzaust. Ein wohliges Lächeln zog bei der Suche nach der Ursache für diesen Zustand in ihr Gesicht, verursacht von dem erregenden Gedanken, daß noch vor knapp zwei Stunden ihr ganzer Leib ähnlich aufgewühlt gewesen war unter den leidenschaftlichen Zuwendungen, die ihr ihr Lukas hatte zukommen lassen. Ja, man spürte es in solchen intimen Momenten eben immer wieder, daß sich dieser Mann schon von berufswegen mit einer intensiven Leibesvisitation bestens auskannte. Sie hob die Bettdecke über ihrem Körper ein wenig an und lugte in den entstehenden Spalt. Die Hände ihres geliebten Mannes hatten sich scheinbar im Schlaf um ihre Hüfte geschlungen, wo sie nun auf ihrem Bauch in Höhe des Nabels ruhten - ausruhten von ihrem nächtlichen Treiben, bei dem sie ohne Unterlaß von oben bis unten an ihr auf- und abgewandert waren und ihr damit wieder und wieder höchste Wonnen bereitet hatten. Sicher, in dem, was sie beide da des Nachts miteinander unter der Bettdecke angestellt hatten, steckte bei weitem nicht mehr so viel von jenen geradezu akrobatischen Darbietungen ihrer jugendlichen Sturm- und Drangzeit. Umso mehr Wert legten Sie dafür mit den Jahren auf den intensiven Austausch von Zärtlichkeiten und das Erfühlen der Wünsche und Bedürfnisse des anderen. Ihr Lukas war in jeder Hinsicht einfach ihr ganz persönlich fleischgewordener Traum von einem Mann. Bei ihm fühlte sie sich grenzenlos geborgen. In seinen Armen konnte sie sich fallen lassen. Unter seinen Berührungen durfte sie sich gehen lassen und dabei jedes Mal aufs Neue den Gipfel der Leidenschaft erklimmen. Behutsam schlug sie ihre Bettdecke zur Seite und zog ihren nackten Leib unter den Händen ihres Gatten hervor. Dann setzte sie sich auf die Bettkante, wo sie ihren Körper erst einmal ausgiebig reckte und streckte. Schließlich erhob sie sich leise, um ihren Lukas nur nicht zu wecken, und verließ das Schlafzimmer auf Zehenspitzen in Richtung Dusche.

Eine warme Dusche hätte sich auch Charles Wannabe gewünscht, nach jener unfreiwilligen kalten, die ihm der rücksichtlose LKW-Kutscher vorhin beschert hatte. Stattdessen saß er nun in zerrissener Hose und abgewetztem Mantel da, frierend und feucht bis auf die Haut. Wie um Himmels Willen - so dachte er - kann man diesen Zustand nur über längere Zeit aushalten?! Seine Suppe war verspeist und auch den herrlich heißen Tee hatte er längst Schluck um Schluck gänzlich in sich aufgenommen. Wieder trat Pauli zu ihm heran und raunte: "Nun, mein Sohn, geht es Dir jetzt ein wenig besser?!". Charles Wannabe schüttelte den Kopf: "Besser?! Mir ging es wohl noch nie im Leben so miserabel! Und lassen Sie doch bitte endlich dieses 'mein Sohn'. Sie sind doch nicht mein Vater!". Pauli nickte: "Stimmt, aber ich könnte es theoretisch sein! Und vielleicht wäre ich Dir sogar ein weitaus besserer Vater als der leibliche, der Dich nach dem frühen Tod Deiner Mutter immer wie einen Fremden behandelt hat. Ach Charles, was hast Du doch als Kind alles unter seiner Strenge erdulden müssen?! Nicht nur, daß er Dich mithilfe eines unbarmherzigen Hauslehrers von der Schule und dem Umgang mit anderen Kindern gewaltsam ferngehalten hat. Nein, er hat Dir vor allem immer wieder eingebläut, daß Gefühle zu zeigen eine Schwäche ist und daß auf dieser Welt nur Macht und Geld zählen, auch wenn man dabei ohne jeden Skrupel über Leichen gehen muß! Ja, der alte Ebeneezer Wannabe war wahrlich ein echter Tyrann!". Erschrocken war Charles aufgesprungen und hatte dabei das leere Blechnapf und den Plastikbecher umgestoßen, welche er sogleich mit einem wutentbrannten Fußtritt beiseite kickte: "Wer sind Sie eigentlich, daß Sie das alles zu wissen glauben? Wer hat Ihnen das alles verraten?". Pauli, der angesichts Wannabes Wutausbruch sicherheitshalber einen Schritt zurückgewichen war, antwortete ruhig: "Nun, ich hab da einen guten Freund, der Sie von Kindesbeinen an kennt und dabei in Ihre Seele und Ihr Herz hineinzuschauen ...". Wannabe unterbrach ihn zornig: "Aha, dieser miese kleine Psychoheini Siggi, mit dem ich zu Lebzeiten meiner Mutter immer im Sandkasten gespielt und dem ich mich später zu Beginn meiner Ausbildung im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit als Polizeiseelsorger einmal anvertraut habe, hat also gequatscht. Und dem hab ich damals vertraut, hab ihn sogar für meinen besten Freund gehalten. Wo ist er? Hat er Sie etwa auf mich angesetzt?". Traurig schüttelte Pauli sein bärtiges Haupt: "Nein, das hat er nicht. Ihr Freund Siggi ist tot. Er starb mit nur 24 Jahren bei dem Versuch, bei einem Großbrand eine Mutter mit ihrem Kind aus den Flammen eines Hauses zu befreien". Charles' Augen bekamen einen glasigen Schimmer. Seine Hände aber ballten sich zu Fäusten, wozu er knurrte: "Geschieht dem elenden Verräter ja auch ganz recht!". Pauli blickte ihn mitleidig an: "Wie kann man sich nur selbst so belügen? Sie wären doch heilfroh gewesen, wenn damals bei dem Anschlag am Picadelly Circus jemand wie Ihr Freund Siggi dagewesen wäre, um ihre Mutter unter dem Wrackteil des explodierenden Busses herauszuholen". Charles Wannabe ging weinend in die Knie, wo er sich in ein wimmerndes Häufchen Elend verwandelte: "Bitte, hören Sie auf damit! Es ist genug! Warum tun Sie mir das an! Ja doch! Wenn Sie es genau wissen wollen: Ich würde alles dafür geben, wenn ich damals als kleiner Junge nicht wie angewurzelt dagestanden, sondern meine Mutter unter dem brennenden Busteil hervorgezogen hätte. Aber ich konnte es einfach nicht! Ich war einfach starr vor Schreck. Ja, verdammt, es ist so, wie mein Vater immer behauptet hat: Ich bin schuld, daß meine Mutter damals sterben mußte!". Pauli beugte sich zu Charles Wannabe herunter und umschloß den weinenden Mann fest mit beiden Armen: "Was reden Sie da nur, Charles? Sie waren mit ihren sechs Jahren noch viel zu klein, um ihre Mutter befreien zu können. Im Gegenteil: Sie hätten sich nur selbst in Lebensgefahr gebracht. Und das hätte Ihre geliebte Mutter Simone ganz sicher nicht gewollt!". Wannabe schluchzte laut: "Was wissen denn Sie von meiner Mutter?!". Pauli aber wischte Charles die Tränen von den Wangen und sprach: "Nun, ich weiß, daß sie Sie über alles geliebt hat, genau wie auch Sie sie über alles geliebt haben. Ja, sie liebte ihren kleinen Charlybär, der sie des Sonntags in die Kirche begleitete und jeden Abend vor dem Zubettgehen für sich, seine Eltern und seine Freunde zum Vater im Himmel gebetet hat".

Wannabe schaute dem Mann in Schwarz tief in die Augen. Woher nur wußte er das alles? Und als könne sein Gegenüber seine Gedanken erraten, kam als Antwort prompt: "Woher ich das alles weiß?! Nun, ich kenne da wie gesagt jemanden, der damals in den Gottesdiensten Ihrer kleinen Gemeinde immer mitten unter ihnen weilte". Charles Wannabe aber sprach: "Ist mir egal, woher Sie das wissen! Auf alle Fälle hab ich damals erfahren müssen, daß all dieses Beten und der ganze Hokuspokus um Gott und seinen Sohn großer Blödsinn ist! Wo war denn Ihr gnädiger Gott, als meine Mutter umkam und als ich ihn dann in den Wochen danach so dringend gebraucht hätte, um mit diesem Verlust fertig zu werden?". Nun war es Pauli, der seinerseit dem Ex-Yardchef tief in die Augen blickte: "Nur daß sie seine Anwesenheit nicht gespürt haben, heißt doch nicht, daß er nicht da war. Vielleicht konnten und wollten Sie ihn in ihrem Schmerz damals ja gar nicht sehen, wenn er in den unterschiedlichsten Gestalten zu Ihnen kam ... Erinnern Sie sich an den älteren Herrn, der Sie damals am Picadelly Circus an der Hand nahm und nach Hause brachte? Oder an Ihr Kindermädchen, die bezaubernde Jeannie, die sie tröstete, wenn Ihr Vater und der Hauslehrer Sie wieder einmal den ganzen Tag über schikaniert hatten? Oder wissen Sie noch, wie ein gewisser Lukas Svensson Sie mit seinem Mantel zu Boden riß, um Sie so vor der Explosion einer Granate zu beschützen? ... Ich glaube fest daran, daß unser Gott in all diesen Fällen seine Hand mit im Spiel hatte, auch wenn Sie es gar nicht bemerkten. Es gibt da nämlich die schöne Geschichte von dem Mann, der am Ende seines Lebensweges Christus trifft, welcher ihm sagt, er sei die ganze Zeit über bei ihm gewesen. Der Mann blickt hinter sich, und registriert tatsächlich über längere Wegstrecken immer wieder zwei Fußspuren im Sand. Doch werden diesen Abschnitte stets unterbrochen von solchen, wo es nur eine einzige Spur im Sand gibt. Der Mann fragt Jesus nach diesen Abschnitten, und der Gottessohn erklärt ihm, daß das die Lebensabschitte gewesen seien, in denen der Mann es besonders schwer gehabt habe. Und als der Mann ihn vorwurfsvoll fragt, warum er denn gerade in jenen Stunden nicht an seiner Seite gegangen sei, antwortet Jesus: 'Weil ich Dich in diesen schweren Zeiten aufgehoben und hindurchgetragen habe'". Wannabe schaute einen Moment lang nachdenklich zu Boden. Sollte dieser Pfaffe recht haben? Gab es Gott und seinen Sohn vielleicht doch und hatte er ihr Dasein einfach bisher nur verdrängt? Nein, so leicht wollte er dem Gottesdiener dann doch nicht auf den Leim gehen. Und so setzte er rasch zum verbalen Gegenangriff an: "Naja, das kann natürlich wieder nur einer wie Sie sagen, der dieses Glaubenszeug sicher schon mit der Muttermilch eingeflößt bekommen hat?!". Paulis Kopf aber vollführte sogleich eine deutliche Schüttelbewegung: "Mein Lieber, wenn Sie wüßten! Ich hab mich lange Zeit meines Lebens genau wie Sie lustig gemacht über diese geradezu kindische Art des Glaubens. Ich hab mich sogar dagegen zur Wehr gesetzt und bin jeden angegangen, der versuchte, die Botschaft von Jesus Christus irgendwo öffentlich zu verbreiten. Bis zu jenem Tag, da mich mein Unglaube auf recht unsanfte Weise zu Fall brachte. Da begegnete ich Jesus persönlich. Ich hörte ihn zu mir sprechen und mich zur Umkehr auffordern. Da erst bemerkte ich, wie blind ich doch war. Die Augen wurden mir geöffnet, und letztlich konnte ich gar nicht mehr anders, als fortan selbst das Evangelium vom jungfräulich geborenen, gekreuzigten und wiederauferstandenen Gottessohn zu verbreiten. Unzählige Länder hab ich auf dieser Mission bereist und vielen Menschen zum Glauben verholfen - nicht durch Zwang, sondern durch das anschauliche Vorleben von Nächstenliebe und Vergebung, wie sie mir seither auch selbst immer wieder aufs Neue widerfährt ... Aber keine Sorge, ich will Sie hier nicht missionieren, Charles Wannabe! Ich möchte Ihnen vielmehr meine Hilfe bei Ihrer Suche anbieten". Damit streckte er dem frischgebackenen Privatdetektiv seine Hand entgegen, welche Charles Wannabe nach kurzem Zögern letztendlich auch ergriff.

Mühsam erhob sich Wannabe mit Paulis Hilfe wieder und klopfte sich den Staub von den feuchten Kleidern. Dazu raunte er leise: "Also gut, ich nehme Ihre Hilfe an, Mister Pauli". Pauli schmunzelte: "Niemand nennt mich Mister Pauli. Alle nennen mich ganz einfach Pauli oder aber bei meinem Vornamen John. Der hat mir gemeinsam mit meinem Geburtsdatum, dem 16.März, übrigens auch den Spitznamen John 3-16 eingebracht, müssen Sie wissen!". Henry Fist trat in diesem Moment aus dem knappen Dutzend der versammelten Obdachlosen hervor und unterbrach die beiden Männer in ihrem gerade erst in Gang kommenden Dialog, indem er gegenüber Pauli feststellte: "Ich muß los! Um 10 Uhr hab ich einen Termin beim Sozialamt, vielleicht gibt es ja diesmal zur Abwechslung wenigstens einen Gelegenheitsjob als Abfallaufleser im Hyde Park für mich". Er reichte Pauli die Hand, die dieser sogleich fest umklammerte und ihm dabei Mut zusprach: "Ich drück Ihnen ganz fest die Daumen, Henry! Melden Sie sich doch bitte bei mir, wenn es geklappt hat. Wenn nicht natürlich auch! Der Ex-Bischof, Diane und ich stehen Ihnen rund um die Uhr zur Verfügung, wenn Sie jemandem mal ihr Herz ausschütten wollen". Henry Fist bedankte sich, zog sich ein paar verschlissene graue Handschuhe über die eisigen Finger und stapfte vondannen. Charles Wannabe sah ihm nach und sprach anerkennend: "Ein interessanter Mann. Schon beeindruckend, wie er trotz aller Widrigkeiten nicht klein beigibt. Gibt es für ihn und all die anderen armen Leute hier denn eigentlich keine angemessenere Unterkunft?". Pauli sah Charles Wannabe verwundert an und erklärte schließlich mit einem Hauch von Zynismus: "Klar doch, es gibt ja schließlich genug Obdachlosenasyle und Zellen im Knast, wo er und seinesgleichen herumlungern können, oder?! Und wenn er sich hier draußen in der bitteren Kälte am Ende den Tod holt, was geht Sie das an?! Vielleicht ist das ja am Ende sogar die einzige Möglichkeit, der ständig wachsenden Überbevölkerung auf unserem Planeten erfolgreich zu begegnen ... Das waren doch Ihre Worte, oder, Charles?!". Wannabe erinnerte sich natürlich nur allzu gut an seine Unbeherrschtheit im Zusammentreffen mit jenem nordirischen Saxophonisten vor einigen Stunden. Doch woher um alles in der Welt wußte dieser John Pauli schon wieder davon? Ob er wirklich Gedanken zu lesen vermochte? Wie dem auch sei, es war Charles Wannabe peinlich, daß er sich so daneben benommen hatte. Und so wich er dem Blick des Geistlichen vor ihm aus, indem er sein Augenmerk wieder auf die jammervollen zehn Gestalten richtete, die in einigen Metern Entfernung im Schutz eines Brückenpfeilers die wärmende Metalltonne umlagerten. Ihm wurde dabei schlagartig bewußt, daß er den kleinen Cedrick seit dem ersten Zusammentreffen mit Pauli ganz aus den Augen verloren hatte. Wo steckte der Junge denn? Er würde doch wohl keine Dummheiten machen? Charles Wannabe war selbst am allermeisten erstaunt über diese Gedanken? Was war denn in ihn gefahren? Was scherte ihn denn dieser kleine Stromer? Er kannte den Jungen doch grad erst seit gut einer Stunde. Und nun machte er sich schon ... ja, tatsächlich, das waren Sorgen, die er sich um den Jungen machte. Und so ließ er Pauli ganz einfach stehen und begann, nach Cedrick Ausschau zu halten.

Es dauerte eine Weile, dann erblickte er den krausen Lockenkopf des Jungen auf dem Kutschbock des Pferdewagens, wo er hockte und sich gerade den linken Ärmel des Wollpullis hochkrempelte. Erleichtert lief Charles ein paar Schritte auf ihn zu, als er plötzlich schockiert stehenblieb. Der Knabe hielt in seiner Rechten eine aufgezogene Spritze und war dabei, sich diese mit voller Wucht in den Arm zu rammen. Charles Wannabe sprang mit ein paar Sätzen auf den Kutschbock, wo er dem Jungen die Spritze entriß und ihn dabei mit hochrotem Kopf anschrie: "Bist Du eigentlich von allen guten Geistern verlassen, Dir dieses Zeug einfach so in den Körper zu jagen?". Cedrick aber erwiderte sichtlich überrascht: "Ey Alter, was ist nur in Dich gefahren? Solltest mal Deinen Blutdruck checken lassen. Ich brauch das Zeug, also gib es mir bitte wieder zurück! Ohne den Stoff gehts mir nämlich ziemlich schnell ziemlich dreckig!". Erwartungsvoll streckte er seinen entblößten Arm aus, aber Charles Wannabe sprach mit versteinerter Miene: "Du weißt doch gar nicht, was dieses Dreckszeug aus Dir machen kann. Du ahnst ja nicht, wie oft ich als Polizist halbe Kinder wie Dich mit einer Plane zugedeckt gesehen hab, die Arme förmlich durchlöchert, die Lippen blau, die Augen leer. Diese verdammten Drogen sind nie eine Lösung. Der süße Rausch ist nur von kurzer Dauer, und der Preis, den Du dafür zahlst, ist einfach zu hoch. Das Teufelszeug zerstört Dich nämlich ganz langsam und wird Dich letztlich todsicher umbringen! Glaub mir! Du brauchst den Dreck nicht! Wir finden gemeinsam eine bessere Lösung, das versprech ich Dir! Wo hast Du das Zeug überhaupt her?". Cedrick verfiel in schallendes Gelächter, während die Stimme der engelhaften Diane aus dem Hintergrund vermeldete: "Er hat die Spritze von mir bekommen. Geben Sie sie ihm bitte wieder zurück! Sein Leben hängt daran!". Charles Wannabe traute seinen Ohren kaum. Wutschnaubend schrie er: "Seid Ihr denn alle verrückt! Einen kleinen Jungen mit Drogen vollpumpen. Ihr seid keine helfenden Engel, Ihr seid elendige Dealer! Ich laß Euch einsperren, Ihr Mörder!". Die restlichen Obdachlosen standen inzwischen - von Charles' Geschrei angelockt - mit grimmigen Mienen in einer Traube um den Kutschbock des Planwagens herum, so daß Charles Wannabe quasi von ihnen eingekesselt war. Pauli aber trat nun zwischen ihnen hindurch von hinten an Charles heran, entwendete ihm kurzerhand die Spritze und gab sie an den kleinen Cedrick zurück, der sich die Nadel sofort in den Oberarm versenkte und sich dann in aller Seelenruhe mit geschlossenen Augen den flüssigen Inhalt injizierte. Und Pauli, der in dieser Sekunde ein schweres Brecheisen vom Kutschbock zur Hand nahm, sprach mit ruhiger Stimme zu Wannabe: "Ach Charles, daß Ihnen aber auch immer gleich die Pferde so durchgehen müssen. Glauben Sie mir, hier wird keiner eingesperrt. Wenn Sie mich mal für einen Moment unter die Plane der Ladefläche unseres Wagens begleiten würden?!". Charles Wannabe aber ergab sich vor der offensichtlichen Übermacht der Gegenseite in sein Schicksal. In dem Bewußtsein, daß nun wohl die letzten Sekunden seines Lebens angebrochen sein dürften, verabschiedete er sich in Gedanken von seinem Partner Lukas Svensson und bedauerte es ein wenig, daß er nun keine Gelegenheit mehr haben würde herauszufinden, ob aus ihnen beiden vielleicht doch noch Freunde hätten werden können. Auch mit Claudia hätte er gern noch mehr Zeit verbracht. Und ganz im Stillen hoffte er noch, daß es doch so etwas wie einen Himmel geben würde, wo er nun endlich seine geliebte Mutter Simone wiedertreffen würde.

In der Svenssonschen Wohnung hatte Yelena inzwischen längst ihre heiße Dusche beendet und danach ihren Körper ausgiebig abgetrocknet und eingecremt. Auf Makeup verzichtete sie dabei weitestgehend - Lukas liebte schließlich ihre pure, natürliche Schönheit trotz oder vielleicht auch gerade wegen der Fältchen, die das Alter nun einmal so mit sich brachte. Sie hatte sich stattdessen in ihren blumigbunten Seidenmorgenmantel gehüllt und in der Küche Kaffee für sich und ihren Lukas angesetzt. Ganz nebenbei aber war sie auch schon mit der Zubereitung eines geradezu festlichen Mittagessens beschäftigt. Im eingeschalteten Küchenradio liefen gerade noch die letzten Takte von Sara Brightmans "Time To Say Goodbye", wonach eine hauchdünne Frauenstimme verkündete: "RADIO AKTIV 201.5 - Der Supergau für Ihre Ohren. In wenigen Minuten ist es zehn Uhr. Die Wetterfrösche klappern mit ihren Schenkeln, und das ausnahmsweise mal nicht, weil sie von ihren französischen Chefs in die Pfanne gehauen werden sollen. Nein, das Schenkelklopfen rührt vielmehr von den eisigen 2 Grad unter Null her, die wir momentan hier im Herzen Londons messen. Übrigens verrät die neuste Statistik der Polizei, daß bei solchen unterirdischen Temperaturen nicht nur viele Menschen draußen auf der Straße erfrieren, sondern daß außerdem auch die Neigung zu Gewaltverbrechen deutlich zunimmt. In diesem Sinne: Wenn Sie heute rausmüssen, dann passen Sie gleich doppelt auf sich auf! Und damit gebe ich auch direkt ab zu den Nachrichten zur vollen Stunde" ...

10 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas ruht weiter sanft, Wannabe muß dran glauben]

Unter dem Verdeck von Paulis Planwagen fand sich unterdessen Charles Wannabe in gebückter Haltung mitten in einem schmalen Gang zwischen unzähligen, auf- und ineinander gestapelten Holzkisten und Pappkartons wieder, die allesamt in aufgemalten schwarzen Farbbuchstaben ihren Inhalt preisgaben: Kleidung, Decken, Lebensmittel, Geschirr, Spielzeug, Zeitungen, Medikamente. In Wannabes Rücken stand Pauli, die mitgeführte Eisenstange fest in der Hand haltend und zugleich den einzigen möglichen Fluchtweg nach draußen versperrend. Der gute, alte Charles nahm in dieser schier aussichtslosen Situation schließlich all seinen Mut zusammen und drehte sich zu Pauli um. Wenn dieser miese Kerl ihm schon Gewalt anzutun gedachte, so sollte das gefälligst von Angesicht zu Angesicht geschehn. Schritt für Schritt sah er den schwarzen Mann unaufhaltsam auf sich zukommen, bis dieser nur noch einige wenige Zentimeter von ihm entfernt stand. Den sicheren Tod in Form der eisernen Brechstange unmittelbar vor Augen kniff der Ex-CI7-Chef schließlich die Augen zusammen und preßte dabei mit zittriger Stimme durch seine Lippen hervor: "Also dann, ich bin bereit! Tun Sie, was Sie glauben, tun zu müssen!". Und wie er so dastand - in gebeugter Haltung mit weichen Knien den todbringenden Schlag erwartend, da erschien es ihm, als ob er das Geräusch des Herauslösens mehrerer durch dickes Holz getriebener Nägel und dazu eine leise Stimme vernähme, die ihm zuflüsterte: "Kehr um, Charles! Ändere Dein Verhalten und werde endlich der Mensch, zu dem ich Dich einmal von Anfang an bestimmt habe! Liebe Deine Mitmenschen, so wie ich Dich geliebt habe! Gehorche Gott und seinem Wort und geh Deinen weiteren Weg mit ihm, so wie ich ihm gehorcht habe und ihm zeitlebens gefolgt bin!". Er glaubte plötzlich, in diesen eindringlichen Worten an ihn deutlich seine längstverstobene Mutter Simone wiederzuerkennen, wenngleich auch die Stimme ganz klar männlich klang. War es unter Umständen nur das leise Heulen des eisigen Windes, der von draußen unter die Wagenplane fuhr und seinen von Todesfurcht geplagten Sinnen einen Streich spielte? Oder sollte sie es wirklich sein, die da zu ihm sprach? War er vielleicht schon tot und nun im Himmel endlich mit ihr wiedervereint? Entstammte die tiefe Stimme am Ende gar nicht seiner Mutter sondern wirklich einem Herrn - womöglich sogar dem Herrn, dessen Ankunft anch christlichem Glauben kurz bevorstand? Was es auch war, er mußte Gewißheit haben! Und so riß er die Augen weit auf und schaute dabei direkt in ein grelles Licht. Geblendet hielt er sich beide Hände vor die Augen, wobei er strauchelnd in die Knie ging und dabei ausrief: "Herr, was um Himmels willen willst Du denn von mir?". Mitten in dem Licht aber trat ihm im selben Augenblick eine große schemenhafte Gestalt entgegen und sprach mit fester Stimme: "Nun, mein Sohn, zuerst einmal könntest Du Dich wieder aus dem Staube erheben und dann auch mal einen Blick zur Seite werfen!". Charles tat wie ihm geheißen und erblickte neben sich eine der Kisten, die inzwischen aufgestemmt worden war, denn ihre bislang mit Nägeln befestigte hölzerne Deckplatte war deutlich verschoben und gab den Blick frei auf mehrere Pappschachteln mit der Aufschrift "SALVATION INC. Human Insulin". Die mysteriöse Lichtgestalt vor Charles' Angesicht jedoch offenbarte sich im selben Augenblick als die des immer noch unverändert vor ihm stehenden Pauli. Jener Pauli, der just in diesem Moment die zum Öffnen der Holzkiste benutzte Brechstange nach hinten an seine Helferin Diane weiterreichte, welche zuvor ihrerseits eben jenes blendende Licht hervorgerufen hatte, indem sie durch Anheben der hinteren Plane die tiefstehende winterliche Vormittagssonne ins Wageninnere eingelassen hatte.

Erleichtert erhob sich Charles Wannabe wieder. Mein Gott, er hatte sich also ganz umsonst geängstigt! Überhaupt war alles nur ein großes Mißverständnis gewesen. Pauli und Diane waren gar keine Dealer, geschweige denn Mörder. Sie versorgten den Jungen Cedrick auch nicht mit tödlichen Drogen, sondern ganz im Gegenteil mit überlebenswichtigem Insulin. Und der Junge selbst war auch keineswegs ein Junkie, sondern lediglich zuckerkrank. Charles' Haupt senkte sich angesichts dieser tiefgreifenden Erkenntnis reumütig. Und kleinlaut bemerkte er, an Paulis Adresse gerichtet: "Entschuldigen Sie bitte, was ich da eben zu Ihnen gesagt habe! Das alles war nur ein riesiger Irrtum! Aber ich glaubte eben ...". Pauli unterbrach ihn mit einem versöhnlichen Lächeln: "Sehen Sie, Charles, genau das ist mir vor Jahren auch passiert! Ich bin dank meiner Vorurteile und meines Unwissens anfangs einem fatalen Irrglauben aufgesessen, der mich davon abhielt, die offensichtliche Wahrheit zu erkennen. Dann trat jener Fall ein, von dem ich vorhin schon einmal sprach und der mir meine bisherige geistige Blindheit anschaulich vor Augen führte. In dem Moment aber, da ich am Boden lag, hörte ich mit einem Male eine fremde und dennoch gleichzeitig auch eigenartig vertraute Stimme. Die klare Wegweisung, die sie mir damals gab, hat mein bisheriges Leben komplett auf den Kopf gestellt und mich für alle Zeiten grundlegend verändert ...". Nun war es Charles Wannabe, der dem Mann in schwarz ins Wort fiel: "Genau so eine fremde Stimme habe ich eben auch gehört. Und doch klang sie, in allem, was sie sagte, genau wie früher meine Mutter". Eine dicke Träne rann bei diesen Worten über seine Wange. Und in seinem Herzen hallten noch einmal jene gehörten Sätze als Echo wieder: "Kehr um! Ändere Dein Verhalten! Werde der Mensch, zu dem ich Dich bestimmt habe! Liebe Deine Mitmenschen! Gehorche Gott und seinem Wort! Geh Deinen Weg mit ihm!". Vor Charles Wannabes Augen öffnete sich die hintere Wagenplane erneut. Pauli aber - der an Dianes Hand sogleich vom Wagen herabsprang und dadurch mit beiden Beinen wieder fest auf dem Boden stand - gab ihm den Blick frei auf das weite, strahlendblaue Himmelszelt, aus dem heraus sich noch in selber Sekunde die ersten Schneeflocken auf den Weg zur Erde machten. Fasziniert wie einst in Kindertagen folgten Charles' Augen den kleinen, hauchdünnen Kristallen, die den achso schmutzigen Erdboden durch ihr millionenfaches Auftreffen sofort mit einem reinen, zartweißen Schleier überzogen. Tief in sich aber hörte Charles Wannabe erneut jene liebliche Stimme, die ihm feierlich verkündete: "Sieh nur, mein Kind, ich mache alles neu!". Ein Gefühl der Erleichterung machte sich dabei in seinem Innern breit, so als fiele ihm ein riesiger Stein von der Seele. Und jubelnd hüpfte nun auch er - leicht wie eine Feder - vonm Wagen herunter direkt in die Arme des sichtlich überraschten Pauli, wozu er triumphierte: "Ich fühle mich wie neu geboren! Und das ist nicht zuletzt Ihr Verdienst als himmlischer Gesandter, mein Freund!". Pauli aber erhob seine rechte Hand und winkte ab: "Da lassen Sie mir zuviel der Ehre zuteil werden, mein Sohn. Denn da gibt es gewiß vor mir wie auch nach mir jemanden, auf den der Titel 'Himmlischer Gesandter' bei weitem eher zutrifft. Ich hingegen bin allenfalls ein einsamer Rufer in jener Großstadtwüste, die ohne Gottes Wort an ihrer Sündhaftigkeit zugrunde gehen würde. Die Kartenspieler unter den hier Versammelten nennen mich - angesichts meiner Mission im Auftrag des Herrn - übrigens auch gern den Kreuzbuben. Und meine Helferin Diane S. Pencer gilt unter ihnen schlicht und ergreifend als die Königin der Herzen". Das damit angesprochene zarte weibliche Geschöpf hatte sich derweil noch einmal unter die Plane des Wagens begeben und kehrte von dort Sekunden später mit einer dicken rotweißen Kutte, einer rotweißen Bommelmütze, einem schwarzen Gürtel, einem weißblauen Mantel und einer ebensolchen Fellmütze in ihren Händen zurück. Und während um sie herum der Schnee unaufhörlich in immer dicker werdenden Flocken auf die Erde niederging, legte Diane die roten Kutte und den Gürtel mit wenigen geschickten Handgriffen Pauli an und setzte ihm die Bommelmütze auf das kahle Haupt. Sich selbst aber bekleidete sie alsdann mit der Fellmütze und dem weißblauen Mantel.

Weitaus weniger warm gekleidet lief Yelena Svensson durch ihre gutgeheizte Küche. Während im Backofen ein gigantischer Truthahn brutzelte und gemeinsam mit dem frisch gekochten Kaffee im ganzen Raum einen herrlich appetitanregenden Duft verbreitete, warf sie immer wieder einen kurzen Blick aus dem Fenster, vor dem die dicken, weißen Schneeflocken zu hunderten vorbeitanzten. Ein Seufzer entsprang dabei ihrem tiefsten Innern. Ach wie schön er doch immer wieder war, der erste Schnee im Jahr! Und gerade wie gerufen kam er zur morgigen Feier des Heiligen Abends. Ja, früher als Kind, da war es für sie selbstverständlich, daß Schnee zum Weihnachtsfest - das in ihrer russischen Heimat seinerzeit eigentlich immer erst am Neujahrstag begangen wurde - dazugehörte. Am jenem Tage wurde sie dann von ihren Eltern stets um die gleiche Stunde nach draußen geschickt, um mit den Kindern der Nachbarschaft einen großen Schneemann zu bauen. Und wenn sie dann nach gut anderthalb Stunden wieder in die ofenbeheizte Wohnstube zurückkam, dann waren Vater und Mutter verschwunden. Stattdessen aber warteten schon Väterchen Frost im rotweißen Wintermantel und seine ganz in blauweiß gekleidete Helferin Snegurotschka mit einem Sack glitzernder Geschenke auf sie. Und nachdem sie ihr Gedicht vom Tannenbaum aufgesagt hatte, verabschiedeten sich die beiden weihnachtlichen Besucher mit den merkwürdig vertrauten Gesichtszügen wieder von ihr und stapften hinaus in den Schnee, um nach eigener Aussage auch noch die anderen Kinder mit Geschenken zu erfreuen. Kaum waren sie fort, da kehrten auch Vater und Mutter wieder zurück und taten stets ganz überrascht, daß sie die festlich gekleideten Geschenkeüberbringer ein weiteres Jahr um wenige Sekunden verpaßt hatten. Gemeinsam mit ihren Eltern ließ die kleine Yelena dann den Abend beim Auspacken ihrer Geschenke mit Weihnachtsliedern, Tee und Gebäck ausklingen. Der Vater aber las ihr mit seiner wundervollen tiefen Baßstimme zur Guten Nacht - wie er es einige Zeit vorher schon im Angesicht seiner versammelten Gemeinde getan hatte - die Weihnachtsgeschichte nach dem Lukasevangelium aus seiner alten Bibel vor: "Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge ...". Weiter kannte sie die Geschichte zu ihrer Kinderzeit leider nicht, denn an dieser Stelle war sie jedes Mal eingeschlafen. Ihr Vater aber hatte sich lächelnd über sein Töchterchen gebeugt und ihr einen Kuß auf die Stirn gehaucht, worauf er sie liebevoll zudeckte und dann auf leisen Sohlen zurück ins Wohnzimmer zu ihrer Mutter schlich. Ja, Yelena erinnerte sich auch heute - Jahrzehnte danach - noch gern an jene Weihnachten in Familie zurück. Und nun würde sie es schon bald wieder selbst erleben dürfen. Verbrachten sie und ihr Lukas den Heiligen Abend in den vergangenen Jahren stets nur in trauter Zweisamkeit, so hatte sie diesmal erstmalig nicht nur die Gelegenheit, mit Lukas' Tochter Lisa und deren Mutter Nina Weihnachten zu feiern, sondern auch mit ihrer eigenen, langvermißten Tochter Jane und ihrem Enkelkind, dem kleinen Luke. Cathrin, Janes Lebensgefährtin, hatte sie allesamt am Abend des 24.Dezember zu sich eingeladen. Und im Gegenzug hatte auch Yelena sämtliche Mitglieder ihrer neuen, kleinen Familie für den heutigen Tag zum gemeinsamen mittäglichen Truthahnessen gebeten. Voller Vorfreude warf sie - wie schon ein dutzend Mal zuvor - einen Blick durch das Sichtfenster in den Backofen, öffnete dessen Tür schließlich einen Spalt weit und übergoß den Braten dabei mit einer weiteren Kelle warmen Wassers aus einem, auf der Herdplatte bereitstehenden Topf. Sie schloß die Ofentür wieder und ergriff die Kanne mit dem dampfenden Kaffee, den sie mit ruhiger Hand in die - auf dem Küchentisch bereitgestellten - Tassen eingoß. Dann krönte sie die pechschwarze Flüssigkeit mit je einem Schuß Milch und zwei Stückchen Zucker. Anscließend rückte sie noch einmal das bunte Weihnachtstischdeckchen zurecht und begab sich dann auf leisen Sohlen in ihr eheliches Schlafgemach, wo ihr Gatte noch immer in aller Seelenruhe sanft schlummerte und dabei lauthals schnarchte.

An Schlafen war im stark verschneiten Umfeld der London Bridge gar nicht zu denken, es sei denn, man wollte sich so kurz vorm Weihnachtsfest noch den Tod holen. Pauli und Diane waren in ihren wärmenden Outfits weiter bemüht, die auf dem Wagen mitgeführte, komplett aus Spenden stammende Winterkleidung an die frierenden Obdachlosen zu verteilen, während Wannabe auf Paulis Geheiß einen großen Karton mit alten Sonntagsausgaben der Times unter den Brückenpfeiler trug. Kaum hatte er seine gewichtige Fracht abgestellt, war er auch schon umringt von mehreren Obdachlosen, die ihm die vergilbte Lektüre quasi aus den Händen rissen. Der gute Charlie schaute dem emsigen Treiben nachdenklich zu, und erzitterte allein nur bei dem Gedanken, sein Bett und seine warme Daunendecke daheim bei dieser Kälte gegen eine druckergeschwärzte, dünne Papierschicht hinter einem zugigen Brückenpfeiler eintauschen zu müssen. Beschämt setzte er sich schließlich auf einen großen Stein am Fuße eines der Brückenpfeiler, vergrub sein Haupt zwischen den frierenden Händen und stammelte: "Mein Gott, ich hab so viel und diese armen Geschöpfe so wenig!". In diesem Moment stapfte von der Seite her der kleine Cedrick an ihn heran. In seinen bloßen Händen hielt er ein paar Fausthandschuhe und eine dicke Wattejacke, die er Charles Wannabe freudestrahlend überreichte: "Für Dich, Alter! Damit Du nicht frieren mußt unter Deinen dünnen Nobelfetzen. Ich hoffe, Du bist inzwischen nicht mehr sauer auf mich und hast nun auch nix mehr dagegen, wenn ich mir zukünftig hin und wieder eine kleine Spritze setzen muß?!". Charles schüttelte heftig den gesenkten Kopf, wozu er sprach: "Es tut mir leid! Da hab ich mich wohl echt benommen wie der letzte Trottel, was?!". Mike L. Jags Sohn aber meinte nur augenzwinkernd: "Nö, nicht wie der letzte! Trottel gibts ja sicher auch nach Dir noch jede Menge. Aber im Ernst: Im Grunde genommen hat mir Dein schräger Auftritt vorhin letztlich ja auch gezeigt, daß ich Dir nicht so ganz egal bin. Meinen väterlichen Erzeuger hätte es herzlich wenig gejuckt, ob ich an der Nadel hänge oder nicht. Wenn's nach dem gegangen wäre, dann hätte ich doch eh lieber heute als morgen verrecken können. Was ist so einer wie ich denn auch schon wert?!". Eine Träne kullerte dem Jungen übers dunkelhäutige Gesicht. Charles Wannabe aber, der sich während der kurzen, ergreifenden Ansprache des Knaben dessen Geschenke übergezogen hatte, wischte ihm nun das feuchte Rinnsal mit dem handschuhumkleideten Handrücken fort und zog den kleinen Kindskopf dann ganz fest an seine wattejackenbedeckte Brust. Und während er Cedrick sanft übers krause Haar strich, schluchzte der alte Stiesel: "Du, mein Söhnchen, bist viel mehr wert, als Du glaubst! Du allein hast es nämlich geschafft, einem arroganten, verbitterten Dummkopf wie mir, den das Befinden seiner Mitmenschen bislang einen Dreck scherte, endlich die Augen zu öffnen". Die beiden Mannsbilder verharrten einige Minuten in jener innigen Umarmung und bemerkten dabei gar nicht, daß sich ihnen von der Seite her längst Pauli genähert hatte. Dieser tippte jetzt dem Ex-Yard-Chef auf die Schulter und sprach: "Mein Sohn, ich könnte für einen kurzen Augenblick Ihre Hilfe gebrauchen. Wenn Diane und ich bei dem momentanen Schneegestöber mit unserem Planwagen noch weiterkommen wollen, dann ist nämlich ein zügiger Wechsel auf Winterbereifung unumgänglich, fürchte ich!". Wannabe erhob seinen Blick und schaute dabei in den immer dichter fallenden Schnee, den der inzwischen aufgekommene stürmische Wind eiskalt und mit geradezu atemberaubenden Tempo zu Boden peitschte, wo er sich mittlerweile zu einer Schicht von gut fünf Zentimetern angesammelt hatte. Dann entließ er den Kopf Cedricks aus seiner Obhut, erhob sich raschen Fußes und sagte: "Allzeit bereit! Bin schon zur Stelle!"

Zur Stelle und allzeit bereit war an einem anderen Ort auch Henry Fist, der gerade die Räumlichkeiten des für ihn zuständigen Arbeitsvermittlers bei einem der Londoner Sozialämter verließ. Eine gute dreiviertel Stunde hatte dort er mit der Nummer 024 in der rauhen, kalten Hand auf seinen 10-Uhr-Termin warten müssen, der sich dann innerhalb von nur dreieinhalb Minuten erledigt hatte. Eine kurze und knappe Begrüßung durch den Jobagenten, ein gelangweiltes Kopfschütteln auf die Frage nach Arbeit, eine einstudierte, recht unglaubwürdig vorgetragene Geste des Bedauerns verbunden mit einem abschätzigen Blick auf das Erscheinungsbild Henrys und eine knappe Verabschiedung, die sogar den Wunsch für ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein besseres Neues Jahr vermissen ließ. Kopfschüttelnd warf Henry Fist seine Nummer in den - vor der Tür - bereitstehenden Papierkorb und mit ihr ein weiteres Mal all seine leisen Hoffnungen auf eine Verbesserung seiner anhaltend elenden Lebenssituation. Es war zum Verzweifeln! Gab es denn nirgends auch nur eine noch so geringfügige Beschäftigung für ihn?! Während er noch so grübelte, näherte sich ihm ein Mann im feuerroten Anzug, über dem er einen langen dunklen Pelzmantel und eine Fuchsstola um den Hals trug. Das dumpfe Geräusch, das er beim Gehen machte, rührte scheinbar vom rechten steifen Bein her, welches er mit Unterstützung seiner rechten Hand bei jedem Schritt immer wieder dem Rest seines fülligen Körpers hinterher zog. Das recht kurzgeschnittene, von Pomade getränkte Haar jenes Fremden war pechschwarz, und seine Augen verdeckte eine getönte, schwarze Sonnenbrille. Seine Mundwinkel aber umspielte ein merkwürdiges, unbewegliches Grinsen, während er, vor Henry Fist stehenbleibend, durch die reichlich goldgespickten Reihen seiner Zähne loszischte: "Einen schönen Guten Tag, Mister Fist! Mein Name ist Lou Cypher. Wie ich zufällig mitbekam, sind Sie auf der Suche nach Arbeit. Und ich habe gehört, Sie haben mal in der Atomforschung gearbeitet. Nun, mein Freund, ich hätte da ein Angebot für Sie, das Sie wohl kaum ablehnen können. Wenn Sie mir umgehend in mein heimisches Labor folgen würden?! Dort können wir dann alles Weitere besprechen. Mein Wagen wartet draußen schon auf uns! Folgen Sie mir nach!". Ohne überhaupt eine Antwort seines sichtlich verblüfften Gegenüber abzuwarten, machte jene merkwürdige Gestalt auf dem steifbeinigen Hacken kehrt und hinkte vondannen. Henry Fist aber überlegte nicht lange. Er war verzweifelt genug, um nach diesem - ihm dargebotenen - Strohhalm zu greifen, ohne noch großartig nachzufragen. Wie pflegte doch Exbischof Hope immer zu sagen: Gott nähert sich uns in vielerlei Gestalt. Warum also nicht auch in jener, wenn sie auch etwas muffig und nach einem Hauch von Schwefel zu duften schien. Aber das war ja bei einem Wissenschaftler mit eigenem Labor letztlich auch gar nicht anders zu erwarten, oder?! Eiligen Schrittes folgte Henry Fist seinem möglichen neuen Arbeitgeber in Richtung Ausgang. Jenem Ausgang, der ihm in diesem Moment zum ersten Mal seit vielen Jahren zudem auch wie ein gängiger Ausweg aus seiner Misere anzumuten schien ...

11 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas startet in den Tag, Wannabe erkennt neue Ziele]

Um Ufer der Themse im Schatten der altehrwürdigen Towerbridge bemühten sich inzwischen ein Dutzend obdachloser Menschen mit Charles Wannabe als 13. Mann nach Leibeskräften, den schweren Planwagen auf einer Seite leicht vom Boden anzuheben und in dieser Position zu halten, während Diane und Pauli mit einem Hammer die hölzernen Wagenräder entkeilten und in aller Eile gegen eine der auf dem Wagen mitgeführten langen Schneekufen zu ersetzen. Sämtliche Kisten und Kartons hatten die Fünfzehn zuvor abgeladen und unter der Tower Bridge sicher verstaut, so daß der unaufhörlich in unverminderter Intensität niedergehende Schnee der kostbaren Fracht nichts anzuhaben vermochte. Kaum war die erste Kufe sicher angebracht, wechselte die versammelte Mannschaft auf die gegenüberliegende Wagenseite und vollführte dort noch einmal den gleichen Kraftakt. Kaum weniger schnaufend und prustend als die beiden Pferde vor dem Wagen besahen sie sich schließlich gemeinsam voller Stolz das Ergebnis ihrer Anstrengungen - aus dem Pferdewagen war binnen kürzester Zeit ein richtiger Pferdeschlitten geworden. Pauli und Diane entfernten mit ein paar Handgriffen noch rasch das Planverdeck und bedankten sich dann bei jedem einzelnen ihrer eifrigen, durchgefrorenen Helfer mit einem Kanten Brot und einem weiteren Plastikbecher heißen Tees mit Zitrone. Und wieder betete Pauli zusammen mit ihnen vor der Einnahme ihres kargen Mahls: "Gott sei Dank für Speis' und Trank! Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast!". Doch das abschließende "Amen" kam diesmal weder aus seinem Munde, noch aus dem der bezaubernden Diane oder den Zwischenräumen der zähneklappernden Lippen der zwölf Obdachlosen. Aus voller Kehle und ganzen Herzen entsprang es den Lippen Charles Wannabes, der sodann - zum Erstaunen aller - noch ein "Und ein gesegnetes Weihnachtsfest uns allen hier auf Erden!" nachschob. Einen Moment herrschte tiefe, andächtige Stille - dann aber besiegelten auch die anderen jenen ernstgemeinten Wunsch mit einem kräftigen "Amen!". Gemeinsam verzehrten sie ihr hartes Brot, das Charles Wannabe in diesem Augenblick wie der köstlichste Weihnachtsbraten anmutete. Dazu ließ er sich wieder auf seinem Stein am Fuße des Brückenpfeilers nieder, schloß die Augen und atmete den herrlichen Duft des Tees ein - Pfefferminze mit Zitrone, so wie ihn ihm seine geliebte Mutter früher immer gebrüht hatte, wenn er als kleiner Junge aus der eisigen Kälte vom Rodeln oder von einer gewaltigen Schneeballschlacht zurückkehrte. Eine schmale Hand legte sich bei diesem Gedanken spürbar auf Charles Wannabes Knie, wobei sich in seinem Kopf Vergangenheit und Gegenwart zu vereinen begannen, so daß er schließlich voller Sehnsucht seufzte: "Ach, Mami!". Erschrocken riß er die Augen auf, als es nur eine Sekunde später zu seiner rechten antwortete: "Mitnichten, Alter! Oder seh ich etwa wie Deine Mami aus?". Charles Wannabe schaute zur Seite und sah dabei direkt in das Gesicht des kleinen Cedrick, der - mit einem Male nachdenklich werdend - ergänzte: "Sie fehlt Dir schon sehr, was?! Kann ich gut verstehen!". Wieder löste sich eine Träne aus Cedricks Auge, wozu der Junge schluchzend anmerkte: "Seit Du da bist, plärr ich laufend! Dank Dir werd ich noch zu 'ner richtigen Heulsuse, Alter!". Charles Wannabe aber löste eine seiner Hände vom - bis dato festumklammerten - Teebecher und strich dem Kleinen übers lockige Haar, wozu er mit feuchtglitzernden Augen flüsterte: "Weinen kann auch sehr befreiend sein, weißt Du! Meine Mutter hat immer zu mir gesagt: 'Wein ruhig! Tränen reinigen die Seele und spülen die Verbitterung von ihr fort!'. Schade nur, daß ich selbst bisher so selten davon Gebrauch gemacht hab in meinem Leben".

Während Charles Wannabe weiter den Lockenkopf des kleinen, schluchzenden Knaben kraulte, rief ihm aus einiger Entfernung Pauli zu: "Mister Wannabe! Charles, mein Sohn, wir müssen jetzt wieder los! Dürfen wir Sie vielleicht ein Stück des Wegs mitnehmen? Bei ihrem Nobelschlitten da oben ist sicher bei dem Hundewetter eh schon die Zentralverriegelung eingefroren". Charles dachte einen Moment lang nach, dann nickte er: "Da könnten Sie recht haben, Pauli. Außerdem hab ich ja auch noch immer meine Sommerreifen drauf, so daß wohl das Fahrvergnügen eh ein wenig eingeschränkt wäre. Und wer will schon am Tag vor Heiligabend am Straßenrand liegenbleiben wie der letzte Penn ...". Entsetzt hielt er inne, dann stammelte er: "Sorry, so war das nicht gemeint! Ist nur so eine Redensart. Ein blöde. Eine ganz, ganz blöde!". Vorsichtig erhob sich der - mittlerweile mehr oder weniger komplett in Lumpen gehüllte - Expolizeibeamte von seinem steinernen Sitzmöbel. Er streckte Cedrick die Hand entgegen und raunte: "Na dann, bis bald, mein Lieber! Auf Wiedersehen!". Der Junge aber schüttelte zur Verwunderung von Charles nur traurig das Kindsköpfchen hin und her: "Ist schon ok, Alter! Mußt mir nix vormachen! Aus dem Auge, aus dem Sinn! Der kleine Mohr hat seine Schuldigkeit getan, Onkel Charlie aber steigt wieder auf zu den oberen Zehntausend, wo kein Platz ist für einen wie mich! Wirst schon sehn, noch eh der Hahn morgen früh dreimal kräht, da hast Du mich und das alles hier längst wieder vergessen". Charles Wannabe aber fiel auf dem hartgefrorenen Sandboden auf die Knie, packte mit aller Macht die Hand des Jungen und rief: "So wahr ich hier hocke, ich werde weder Dich noch Deine Freunde hier noch diesen Tag jemals in meinem Leben vergessen. Im Gegenteil: Ich lade Euch alle ein! Zum Krippenspiel am Heiligen Abend in der St. Pauls Cathedral und anschließend zum großen Weihnachtsessen in meine Wohnung". Und an den jungen Cedrick gewandt, ergänzte er rasch: "Und Dich, mein Kleiner, hol ich ganz persönlich ab. Hier, genau an dieser Stelle, am morgigen Abend um 16 Uhr 45!". Die Augen des farbigen Knaben begannen zu strahlen und blinzelnd erklärte er: "Ok, alter Mann, ich nehm Dich beim Wort!". Charles Wannabe aber nahm seinen kleinen Freund noch einmal ganz fest in die Arme und verabschiedete sich dann auch bei jedem der anderen Anwesenden mit einem kräftigen, warmen Handschlag. Schließlich sprang er gemeinsam mit Pauli und Diane auf den zum Schlitten umfunktionierten Pferdewagen, der sich sogleich unter dem "Hüah!" Paulis in Bewegung setzte und nach und nach - unter dem Klang der seitlich am Wagen angebrachten Schneeglocken - aus den Augen der ihm noch lange nachwinkenden Obdachlosen entschwand.

Ähnliche Geräusche wie die Kufen des Pferdeschlittens im Schnee machte derweil auch Lukas Svensson, der mit verschlafenem Blick durch seine zwei Augenschlitze in weißem Unterhemd und rotblau gestreiften Boxershorts mit Filzpantoffeln an beiden Füßen langsam in die Küche geschlurft kam. Gähnend drückte er seiner am Backofen stehenden Yelena einen zarten Kuß auf den Hals, wobei diese innig seufzend bemerkte: "Gutes Morgen, Schatz! Du haben geschlafen gut?". Sachte vollführte Svenssons Kopf eine leichte nickende Bewegung, wozu er - nochmals gähnend - hauchte: "Aber was ich wieder für einen Blödsinn geträumt hab?! Ach egal, ich gönn mir jetzt erstmal eine warme Dusche und eine ordentliche Rasur, damit ich Dich zartes Wesen später nicht wieder überall so zersteche mit meinen Bartstoppeln". Dabei blinzelte er ihr vielversprechend zu und begab sich anschließend ins Bad. Yelena aber deckte inzwischen den großen ausziehbaren Küchentisch komplett für 7 Personen ein. Dabei schaute sie immer wieder abwechselnd auf den Truthahn im Ofen und auf die Uhr, deren kleiner Zeiger sich in ihren Augen viel zu rasch der zwölf näherte. Noch einmal überschüttete sie den herrlich duftenden Braten in seiner gutbeheizten Behausung mit all ihrer Zuwendung in Form einer extragroßen Schöpfkelle reinen Wassers. Dann band sie sich ihre - ihr von Lukas zum Nikolaustag geschenkte - Küchenschürze mit der Aufschrift "Holmes Sweet Home" um und legte sich eiligen Schrittes noch rasch zwei große Topflappen zurecht, um so in Kürze dem knusprigen Bratvogel auf den Leib zu rücken.

Weit weniger eilig waren jene Schritte, die sich derweil in einer recht heruntergekommenen Gegend Londons am Rande eines schmutzigen Hinterhofs über eine steile schwarz geteerte Treppe auf den düsteren Weg hinab in eine der feuchtkalten Kellerwohnungen machten. Es waren die dürren, spärlich umhüllten Beine Henry Fists, die dort nun zaghaft Stufe für Stufe dem dumpfen Schritt des ihm vorangehenden steifbeinigen Mannes folgten. Jenes Mannes namens Lou Cypher, dessen Worte ihm auf dem Weg hierher im schwarzen Oldtimer mit den pechschwarz verdunkelten Scheiben in den herrlichsten Farben von nunan ein sorgenfreies Leben mit allen nur erdenklichen Annehmlichkeiten ausgemalt hatten. Von einem Gehalt in Höhe von 666 Pfund wöchentlich war die Rede gewesen, zuzüglich Sonderzuwendungen und einer einmaligen Verschwiegenheitsprämie. Wo dieses vermeintliche Märchenschloß, in dem er jenem Traumjob nachgehen sollte, genau lag, hatte Henry Fist allerdings trotz aller Bemühungen nicht herauszubekommen vermocht. Durch die verdunkelten Autoscheiben war schließlich die ganze Zeit kein einziger Lichtstrahl an sein Auge gelangt. Und auch Geräusche hatte er in der scheinbar schalldicht ausgepolsterten Fahrgastzelle des - einem Leichenwagen gleichenden - Automobils des mysteriösen Herrn Cypher beim besten Willen nicht ausmachen können. Nur eines wußte Fist genau - daß sie sich wohl noch innerhalb Londons befanden und es jetzt in die Tiefe hinab ging. Der Abstieg der Beiden endete dabei zunächst vor einer dicken gebeizten Eichenholztür, die Lou Cypher mittels eines - aus seinem Anzug hervorgekramten - rostigen Schlüssels aufschloß. Knarrend und quietschend sprang ihnen die Tür entgegen und gab den Blick frei auf ein langes, verstaubtes Kellergewölbe, das - dank einer bleiverglasten Laterne an der Decke in ein unheimliches blutrotes Licht getaucht war. Cypher bat seinen Begleiter umständlich einzutreten und ließ dann hinter ihm die Tür wieder ins Schloß fallen, wobei er in selbigem unbemerkt von dem sich ängstlich umschauenden Fist den rostigen Schlüssel sogleich wieder leise umdrehte und abzog. Von hinten näherte sich der Hinkefüßige daraufhin seinem Gast und flüsterte ihm ins Ohr: "Das also ist mein kleines, bescheidenes Reich, mein Freund! Aber keine Sorge, ich habe eine gewaltige Expansion schon ins Auge gefaßt. Mit Ihrer Hilfe nun dürfte sich meine Macht weltweit geradezu explosionsartig ausdehnen". Grinsend rieb er sich seine schmutzigen Hände und verkündete: "Sie verfügen über das nötige Fachwissen, ich über das Kapital und meine Partner über die Möglichkeit, schnell und unauffällig an das benötigte Equipment zu gelangen. Unser Unternehmen nennt sich 'Final Countdown' und hat bereits auf der ganzen Welt seine Geschäftsstellen. Und der Name ist dabei gleichzeitig Programm. Ja, mein Freund, unser Ziel ist der finale Countdown - die Endzeit - das Ende der Welt. Zugegeben, es wird für die gesamte Menschheit ein Ende mit Schrecken. Aber doch lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Schauen Sie sich doch nur um! Was hat diese achso tolle Welt uns Menschen denn noch zu bieten außer Armut, Elend, Seuchen, Verfall, Kriegen, Mord und Totschlag. Nennen Sie Ihr Leben etwa lebenswert? Was kann es Ihnen denn noch geben? Arbeit? Wohl kaum! Eine Familie? Nein, die haben Sie längst bis in alle Ewigkeit verloren? Freunde? Sehen Sie sich doch an! Wer will Sie denn zum Freund haben, außer mir? Und darum sollten wir uns auch keinen falschen Hoffnungen mehr hingeben, uns zusammentun und gemeinsam dem ganzen Spuk hier endlich ein Ende setzen. Mit ein paar gezielten nuklearen Erstschlägen unsererseits. Keine Sorge, Ihnen wird dabei an meiner Seite natürlich nichts zustoßen! Für mich und meine Leute hab ich da nämlich längst vorgesorgt. Tief unter der Erde existiert ein Unterschlupf, zu dem todsicher keine Form von Radioaktivität jemals vorzudringen vermag". Mit dämonischem Grinsen legte Lou Cypher seine stark behaarte Pranke um die Schulter Fists und ergänzte: "Überlegen Sie doch! Mit nur einem atomaren Schlag wären Sie all Ihre Sorgen für immer los. Und Sie könnten es noch dazu endlich einmal allen heimzahlen, die Sie bislang schief angesehen, beleidigt, beschimpft und wie den letzten Dreck behandelt haben - dem eingebildeten Lackaffen von Jobagent vom Sozialamt zum Beispiel. Und nicht zuletzt würden Sie mit mir gemeinsam in die Geschichte eingehen. Na, ist das vielleicht nichts?!".

Henry Fist grübelte. Wie oft hatte er sich das schon ausgemalt, es diesen hochnäsigen Zeitgenossen, die nur Spott und Hohn für ihn übrig hatten und ihn als Penner betitelten, einmal so richtig zu zeigen. Und jetzt gab ihm dieser Fremde die Gelegenheit dazu. Es war geradezu so, als könne der hinkende Mann all seine düsteren Gedanken erraten. Ja, die Idee war schon irgendwie verlockend. Schließlich hatte er ja nichts mehr zu verlieren. So krank der Vorschlag Cyphers im ersten Moment auch geklungen haben mochte, es war doch immerhin eine Option. Eine, die Lou Cypher und ihn quasi von einer Sekunde auf die andere zu Herrschern der Welt machen würde. Und so meinte er schließlich ein wenig zögerlich: "Ja, das alles klingt aus Ihrem Mund irgendwo sehr einleuchtend und durchdacht. Aber könnte ich mir vielleicht für meine endgültige Entscheidung noch ein wenig Bedenkzeit ausbitten?". Cypher betrachtete Fist etwas argwöhnisch mit verbissenem Blick, dann sprach er: "Also gut, warum nicht?! Nur warten Sie nicht zu lange, es gibt auch noch andere, denen ich dieses attraktive Angebot machen kann. Ich geb Ihnen, sagen wir, ein paar Stunden Bedenkzeit. Dann möchte ich Ihre Antwort wissen! Vielleicht gönnen Sie sich derweil einen kleinen Spaziergang im Hyde Park, so wie Sie es ja auch sonst zu tun pflegen, wenn Sie einmal ungestört grübeln wollen?!". Henry Fist sah sein Gegenüber mit großen Augen an. Woher wußte dieser verfluchte Teufelskerl nur soviel über seine Gepflogenheiten? Schließlich nickte er - von dem Auftreten des Hinkenden sichtlich eingeschüchtert - nur stumm, worauf Lou Cypher triumphierend ausrief: "Na dann, kommen Sie mal! Ich bringe Sie mit meinem Wagen noch bis zum Eingang des Parks, wo ich Sie dann um Punkt 17 Uhr auch wiederzutreffen gedenke. Und bis dahin: Zu keinem Menschen auch nur ein Sterbenswörtchen, sonst wird es Ihnen schlecht ergehen. Ich habe nämlich ein Auge auf Sie und werde Sie finden, egal, wo auch immer Sie sich aufhalten mögen!". Sprachs und machte sich dumpfen Schrittes mit seinem nachdenklichen Gast in Richtung der verschlossenen Holztür auf. Dort öffnete er sogleich das Schloß mit einer einzigen schwungvollen Bewegung des passenden Schlüssels und hinkte - dem sprachlosen Fist voran - die vielen dunklen Stufen zum Hinterhof hinauf, wo die beiden Männer alsdann wieder in dem schwarzen Oldtimer platznahmen und mit geradezu höllischem Tempo davonbrausten.

Deutlich langsamer und in angenehmerer Gesellschaft war derweil Charles Wannabe auf dem Pferdeschlitten unterwegs. Dabei hatte der frischgebackene Detektiv während der ganzen Fahrt mit Pauli und Diane über seinen Fall geredet und kramte nun gerade sein Smartphone aus der Hosentasche hervor, auf dem inzwischen 6 Anrufe in Abwesenheit angezeigt wurden. Vermutlich lag der untere Teil der London Bridge komplett in einem Funkloch, erklärte sich der Kriminalist diesen Zustand und wählte mit der Rückruftaste sogleich die angezeigte Nummer, die bei allen Anrufen gleich war. Am anderen Ende aber meldete sich nur eine Sekunde später das besorgt klingende, zarte Stimmchen Claudia Palmers: "Gott sei Dank, Charles, du lebst! Ich hatte mir schon solche Gedanken gemacht. Wo warst Du denn? Du ahnst ja gar nicht, was sich inzwischen alles an Erkenntnissen zu unserem Fall bei mir angesammelt hat. Also mal der Reihe nach: Dieser Alfred von 'Hitch & Cock' ist ausgebildeter Krankenpfleger und seit einiger Zeit ausschließlich mit der Betreuung von Hudson Butler, wohnhaft am Eaton Place Nummer 165 betraut, welcher an Parkinson - einer langsam schubweise voranschreitenden, nervlich bedingten Schüttellähmung - leidet. Allerdings ist der gute Alfred Robber - wie er bürgerlichem Namen heißt - wenn man mal seine Vergangenheit durchleuchtet, kein unbeschriebenes Blatt. Von 1997 bis 2001 ließ sich der junge Mann sogar selbst pflegen, und zwar auf Staatskosten im Knast, wo er eine Haftstrafe wegen schweren Kunstraubs verbüßte. Und bei dem mysteriösen Ableben eines Schwerstpflegefalles, den er vor Mister Butler betreute, sind laut Angaben der Polizei noch einige Fragen offen, auch wenn damals kein Fremdverschulden nachgewiesen werden konnte. Und dann ist da auch noch eine ganz andere heiße Spur, auf die ich zufällig beim Bildergoogeln im Netz gestoßen bin. Es gibt da nämlich die Homepage eines dubiosen Kunstsammlers namens Leon Ardo, der geradezu besessen zu sein scheint von dem Gedanken, sämtliche Apostelfiguren Großbrittaniens besitzen zu wollen. Allein von der verschwundenen Paulusfigur gibt es auf seiner Seite 241 verschiedene Bilder zu finden. Seine Adresse hab ich Dir übrigens soeben per Mail auf Dein Handy geschickt!". Wannabe warf einen Blick auf sein Smartphonedisplay, wo in leuchtender Schrift eine neue Email-Nachricht angezeigt wurde. Dann hauchte er in den Hörer: "Ach Claudia, es tut so gut, Deine Stimme wiederzuhören! Du ahnst ja gar nicht, wie sehr ich sie schon vermißt hab. Wie sehr ich das alles vermißt hab. Dich, unser Büro, mein trautes Heim, meinen Kamin, trockene Kleidung, ein Gläschen Wein, leise Musik, ein heißes Bad, ja sogar den alten Luk ... Ach, was red ich! Wir sprechen später, wenn ich wieder im Büro bin, ja?! ... Ganz lieben Dank erstmal für Deine Bemühungen! Ich mache mich gleich auf den Weg zu diesem Herrn Ardo in ...". Ein paar kurze Berührungen seiner Finger auf dem Display seines Smartphones verschafften ihm im Nu die zugehörige Adresse: "... 24 Hyde Park Street". Mit einem glückseligen "Bis später, bella donna!" beendete er das Telefonat mit Claudia und tippte Pauli auf dem Kutschbock vor sich auf die Schulter, wobei er noch einmal mit fragendem Blick die Anschrift Leon Ardos wiederholte. Pauli aber nickte nur und sprach: "Oh, welch ein Zufall! Genau da wollte ich später sowieso noch hin!". Dann riß er die Zügel seines Schlittens fest an sich und bewirkte damit eine recht deutliche Kursänderung in Richtung des zentral gelegenen Hyde Park ...

12 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Bei Lukas findet sich Besuch ein, Wannabe findet keinen Zugang zu einem Künstler]

In der Küche der Svenssons brutzelte der Festbraten munter seinem geschmackvollen Endzustand entgegen, als es mit dem letzten Gongschlag Big Bens aus der Ferne plötzlich auch an der Haustür läutete. Yelena warf rasch ihre Schürze achtlos beiseite und lief ganz aufgeregt in den Flur, wo ihr beim Betätigen der Wechselsprechanlage zwei muntere weibliche Stimmen und ein Kinderlachen entgegenschalten: "Hallo Ihr Lieben, wir sind's! Cathrin, Jane und der kleine Luke!". Freudestrahlend drückte Yelena auf den Türöffner, und nur eine Minute später standen die drei dick eingepackten Gäste vor der geöffneten Wohnungstür und baten frierend um Einlaß. Yelena aber schloß jeden der drei fest in ihre Arme und drückte sie an ihr Herz, wobei sie ausrief: "Ach, wie schön, daß ihr sein da endlich! Jetzt nur schnell kommen herein und wärmen Euch in Küche an Herd auf. Da nämlich brutzelen ... Bosche moij, ich ja noch haben Braten in Röhre". Jane, die gerade ihrer Freundin Cathrin aus dem Mantel half, zwinkerte Yelena zu und meinte mit einem Blick auf deren schlanken Bauch: "Aber Mutti! Davon sieht man bei Dir ja gar nichts! Mir hat man das damals schon gleich angesehen. Hast Du das denn Deinem Mann überhaupt schon gesagt?". Yelena verstand die Anspielung und schmunzelte: "Ach Du! Immer ruhig machen Späße mit altes Mütterchen. Du von mir nix mehr bekommen Brüderchen oder Schwesterchen. Biologisches Uhr haben längst getickt zu Ende ... Und jetzt ihr machen euch gschon emütlich, ich mich noch müssen kümmern um großes, dickbauchiges Vogel ...". Lukas Svenssons Kopf lugte verstohlen hinter der Schlafzimmertür hervor: "Hat da jemand grad über mich gesprochen!". Yelena winkte nur lächelnd ab und verschwand dann raschen Schrittes in der Küche. Ihr Gatte aber stürmte, sich den eben erst übergestreiften Anzug noch einmal eilig zurechtrückend, auf die drei mittäglichen Gäste zu und begrüßte sie nun allesamt mit einer liebevollen Umarmung. Dann half er auch seiner Stieftochter Jane und seinem Enkel Luke aus deren Jacken, die er behutsam an den Garderobenständer neben seinem alten Trechcoat hing. Anschließend nahm er sein Patenkind Luke auf den Arm und entschwand mit ihm - vergnügt die Melodie von "You Are The Sunshine Of My Life" vor sich hersummend - in die Küche. Cathrin und Jane aber hakten sich munter unter und folgten seinem Beispiel.

In der Küche war Gastgeberin Yelena Svensson derweil keineswegs untätig gewesen. Sie hatte sic die Topflappen übergezogen, und stellte nun voller Stolz wie auf einem Präsentierteller den Truthahn in der Mitte der festlich gedeckten Tafel zur Schau. Cathrin und Jane griffen ihr unter die Arme, indem sie rasch die Schüssel mit den Kartoffeln, dem Gemüse und der Soße dazugesellten. Lukas aber, der seinen kleinen Namensvetter inzwischen abgesetzt hatte und nun auf dem hohen Kissenberg eines der Küchenstühle thronen ließ, kümmerte sich um das Entkorken des passenden Rotweins sowie um das Öffnen der Traubensaftpackung für den kleinen Luke. In diesem Augenblick klingelte es erneut an der Haustür. Lukas Svensson aber sprach mit ruhiger Stimme zu seiner, bereits im Loslaufen begriffenen Frau: "Laß nur, mein Engel, ich geh schon!". Damit begab er sich bedächtigen Schrittes in den Flur, wo nunmehr seinem Ohr über die eingeschaltete Wechselsprechanlage eine durchaus vertraute Stimme entgegenschallte, welche - von Zähneklappern unterbrochen - rief: "Ich bin's Papi, Lisa! Und die Mutti hab ich auch mitgebracht!". Lukas' Gesicht erstrahlte schon allein bei dieser kurzen Vorankündigung in freudiger Erwartung seiner geliebten Tochter und der ihm nach all den Jahren der Trennung inzwischen wieder freundschaftlich verbundenen Exfrau. Und so drückte er kräftig auf den roten Knopf neben dem Lautsprecher, wodurch mit einem Surren die Haustüre aufsprang und so die wartenden Frauen einließ. Es dauerte nicht einmal eine Minute, da standen Lisa und Nina Svensson im Flur, wo Lukas ihnen sogleich aus den dicken Winterjacken half und sie dann - nach einer ausgiebigen und herzlichen Umarmung - bat, in die Küche durchzutreten. Dort angekommen wurden sie sogleich von Yelena, Cathrin und Jane in Empfang und in den Arm genommen. Nur dem kleinen Luke war das ganze Umarmen ein bißchen unheimlich, und so reichte er den zwei Neuankömmlingen ein wenig schüchtern und dennoch brav nur die kleine Hand zum Gruß. In Windeseile hatten die beiden Gastgeber schließlich auch die zwei Nachzügler unter ihren Gästen am Tisch plaziert und dann Wein und Traubensaft in die, darauf bereitstehenden Gläser eingeschenkt. Dann aber nahmen auch sie an den beiden Stirnseiten platz. Nun saßen sie endlich alle gemeinsam um den langgemachten Eßtisch verteilt und legten - jeder für sich - für einen Augenblick im Angesicht all der aufgetischten Köstlichkeiten die Hände andächtig in den Schoß. Stille kehrte ein im Raum, nur der kleinste unter den Gästen ruckelte ein wenig nervös auf seinem Kissenthron hin und her.

Lukas aber erhob erst sich und dann seine Stimme, indem er feierlich verkündete: "Herr, wir danken Dir, daß Du uns heute alle hier gesund und munter zusammenkommen ließest und daß Du uns mit diesem reichen Mahl beschenkt hast! So laß uns denn gleichermaßen Deiner Geburt und Deiner nahen Wiederkunft gedenken, und laß uns einander und all unseren Mitmenschen stets mit derselben Liebe begegnen, mit der Du uns begegnest! Amen!". Yelena, Jane, Cathrin, Lisa und Lukas Exfrau Nina stimmten gemeinsam bekräftigend in jenes "Amen!" ein, während der kleine Luke ein unsicheres "Ey man?!" hervor- und damit zugleich die versammelte Frauenmannschaft zum Schmunzeln brachte. Der Hausherr aber strahlte inmitten all seiner Gäste einfach nur überglücklich und sprach: "Wie schön es doch ist, seine Lieben so zahlreich versammelt zu haben und mit euch nun dieses festliche Mahl teilen zu dürfen. Doch denken wir, bevor wir mit dem Essen beginnen, auch an all diejenigen, die heute nicht mit uns an diesem Tisch sitzen und sich nicht an solchen Köstlichkeiten laben können. Denken wir für einen Moment an die Menschen, die gar nichts besitzen - nichts außer ihrem Leben, ihrem Glauben und der Hoffnung auf ein neues, besseres Morgen. Laßt uns einen Toast ausbringen auf sie und auf die, die ihnen durch ihr unermüdliches Tun dabei helfen, das Leben auf Erden menschenwürdiger und erträglicher zu gestalten. Und nicht zuletzt sollten wir auch für all jene beten, die ihren Mitmenschen immer nur mit Argwohn und Spott begegnen und sich das Leben durch ihre angestaute Bitterkeit dabei oft selbst unnötig schwer machen, allen voran mein langjähriger Kollege und Partner Charles Wannabe. Möge auch er gerade in diesen festlichen Tagen für sich einen Weg finden, der ihm neue Lebensfreude und neues Glück beschert! In diesem Sinne: Auf ein frohes und gesegnetes Fest für alle Menschen! Und auf ganz besonders schöne und besinnliche Feiertage für den guten, alten Charles!". Nun erhoben auch sämtliche Ladies erst sich von ihren Stühlen und dann ihre, mit blutrotem Rebensaft randvoll befüllten gläsernen Kelche und verkündeten einstimmig: "Auf ein frohes und gesegnetes Fest!". Nur der kleine Luke sagte nichts und leerte stattdessen sein volles Saftglas in einem einzigen Zug, wobei sein kleiner Bauch zugleich ein leises Knurren von sich gab.

Auch im Hyde Park nahe der Speakers Corner - jener Ecke, an der von Zeit zu Zeit große Reden geschwungen wurden - knurrte leise ein leerer Magen, der seinem Besitzer Henry Fist allerdings momentan weitaus weniger Kopfzerbrechen machte als der Vorschlag eines gewissen Herrn Cypher, mit ihm gemeinsam mittels eines nuklearen Holocausts die Welt zu vernichten. So stapfte er mit hängendem Kopf bibbernd durch den dichten Schnee und versuchte, das Für und Wider jenes wahnwitzigen Plans nüchtern gegeneinander abzuwägen, um so zu einer möglichst objektiven Entscheidung zu gelangen. Cypher schien ihm, seinen Plan gut durchdacht zu haben. Und er würde ihn zweifellos mit oder ohne sein Zutun in die Tat umsetzen. Schließlich gab es gewiß auch noch andere Atomforscher, die gegenüber solch einer Verlockung des Geldes und der Macht nicht abgeneigt wären. Wenn er hingegen diese Chance ergreifen würde, dann wäre er - der gesellschaftlich ausgestoßene und geächtete Henry Fist - mit einem Male derjenige, der mit über Gedeih und Verderb, über Leben und Tod der ganzen Menschheit entschiede. Und das wäre schon ein ganz gewaltiger Karrieresprung. Und die Menschen, die er dabei zugrunde richten würde?! Mußten die ihm denn leid tun? Hatte er denn jemals jemandem so leidgetan, daß der auch nur einen Moment darüber nachgedacht hätte, etwas zu machen, was seine Armut mildern könnte?! Nein, um die Menschheit war es wohl kaum schade: Die einen lebten in Saus und Braus und scherten sich einen Dreck darum, wie es den Armen ging - die hatten es eigentlich nicht anders verdient, als daß man sich selbst einen Dreck um sie scherte und ihnen den Garaus machte. Und die andern lebten im Elend wie er und hofften jeden Tag darauf, daß man sie endlich von ihren Qualen erlösen würde - für die aber bedeutete dann der Tod durch die Bombe vielleicht eben genau diese Erlösung! Im Grunde genommen sprach also doch alles dafür! Und so erhob Henry Fist sein blaßes Haupt und swarf es trotzig den herabprasselnden Schneeschauern entgegen und murmelte: "Ja, genau, ich werde es tun! Zum Teufel mit der verkommenen Welt! Es lebe die gewaltige, alles verändernde Sprengkraft des Atoms!".

Zu etwa gleicher Zeit war auch der Pferdeschlitten mit Pauli, Diane und Wannabe an seinem Ziel vor dem Anwesen in der Hyde Park Street 24 angelangt. Die Drei stiegen aus und liefen zu der großen gußeisernen Eingangspforte. Dort angekommen betätigte Charles den goldenen Klingelknopf, während Pauli ihm auf die Schulter klopfend, erklärte: "Machen Sie nur gemeinsam mit Diane ihren Besuch bei diesem Herrn, ich vertrete mir inzwischen im Park ein wenig die Füße, wenn Sie gestatten?!". Wannabe war sichtlich überrascht darüber, daß Pauli bei diesem Wetter einen beschwerlichen Spaziergang im eisigen Schnee der Aussicht auf die warmen Räumlichkeiten einer prunkvollen Villa vorzog. Dennoch reichte er seinem Gefährten kopfnickend die Hand und sprach: "Bis hierhin erst einmal vielen Dank für alles! Sie ahnen ja gar nicht, wie sehr Sie mir geholfen haben! Es ist mir eine wahre Freude und Ehre, Sie kennengelernt haben zu dürfen! Also dann: Man sieht sich!". Pauli aber legte beide Hände freudestrahlend um die des Privatdetektivs und erwiderte: "Auch mir war es ein wahres Vergnügen, mein Sohn, einmal mehr mitzuerleben, wie binnen kürzester Zeit aus einem verschlossenen und unzufrieden mit sich und seiner Umwelt wirkenden, ungläubigen Zeitgenossen ein wahrhaft liebenswerter Mensch entstand, indem er die harte Schale ablegte und sich das Herz erweichen ließ. Sie werden es erleben, mein Sohn, so lebt es sich in Zukunft entschieden besser und länger! Glauben Sie mir! Und vor allem, glauben und vertrauen Sie Gott! Er wird Ihnen zukünftig bis in alle Ewigkeit den rechten Weg weisen. Auf Wiedersehen, mein Freund!". Erst jetzt bemerkte Charles Wannabe, beim Berühren von Paulis linker Hand, daß dort in der Handinnenfläche eine offene Wund klaffte. Entgeistert besah er sich den recht tiefen Riß, während Pauli nur milde lächelnd meinte: "Ach, das! Das ist weiter nichts, da bin ich nur beim Kistenschleppen vorhin an einem herausragenden Nagel hängengeblieben. Sehen Sie, es blutet ja schon fast gar nicht mehr! Solche Wunden hatte ich schon einige im Leben, die verheilen bei mir immer recht schnell!". Damit löste er seine Hand eilends aus der Wannabes und entschwand dann in aller Seelenruhe in Richtung Hyde Park, sich im Gehen noch ein letztes Mal umdrehend und Charles und Diane fröhlich zuwinkend.

Wannabe aber betätigte gedankenversunken noch einmal den Klingelknopf neben dem Eisentor, worauf ein Summen selbige sogleich aufspringen ließ. Diane und Charles schlüpften durch das geöffnete Tor und liefen sodann über einen schmalen Betonweg die fünf kleinen Stufen zum Eingang der Villa hinauf. Dort wurden sie an der leicht geöffneten Tür schon von einem Mann im silbernen Morgenmantel empfangen, der sie nach ihren Namen sowie dem Anlaß ihres Besuchs fragte und Wannabe in seinem schäbigen Aufzug dabei ein wenig argwöhnisch beäugte. Charles räusperte sich kurz, dann sprach er: "Nun, das an meiner Seite ist Lady Diane S. Pencer. Ich selbst heiße Charles Wannabe und komme von der Detektei 'Wannabe Svensson'. Ich ermittle derzeit im Fall einer verschwundenen hölzernen Statue, wobei mich die Ermittlungen nun unter anderem auch hierher führen. Und mit wem habe ich die Ehre?". Der, mit stoppligem Dreitagebart und frischgefönter, silbergrauer Löwenmähne vor ihm stehende Mann riß die Haustüre mit einem Male sperrangelweit auf, postierte sich breitschultrig - den Kopf leicht nach hinten werfend - im Türrahmen und erwiderte: "Ardo, mein Name! Leon Ardo, Kenner und Sammler von Kunst. Eine verschwundene Statue, sagen Sie?! Darf man fragen, um welche es sich dabei handelt?". Wannabe nickte: "Man darf! Es geht um den Paulus aus der Saint Pauls Cathedral, der gestern abend ...". Ardo schlug entsetzt die üppig edelsteinberingten Finger seiner Hände über dem Kopf zusammen: "Um Gottes Willen, nicht doch der Paulus! Das ist doch nicht möglich! Ich hab ihn doch gestern abend erst selbst noch von Angesicht zu Angesicht bestaunen und ablichten dürfen. Sie müssen nämlich wissen, es verlangt mich einfach mehrere Male die Woche danach, diesem Meisterwerk nahe zu sein. Am liebsten hätte ich ihn ja hier ganz bei mir zu ...". Sein ungebremster Redefluß kam mit einem Male jäh zum Erliegen. Nervös strich er sich durchs buschige Haar: "Ach herrje, dieser, für Sie vielleicht etwas ungewöhnliche Wunsch macht mich doch nicht etwa verdächtig?!". Wannabe nickte: "Oh doch, das macht er! Ebenso wie ihre geradezu fetischhafte Neigung zu seiner fotografischen Ablichtung aus allen möglichen und unmöglichen Blickwinkeln. Und darum nun, um es mal auf den Punkt zu bringen, meine Frage: Haben Sie gestern abend die Paulusfigur aus der Kirche entwendet? Raus mit der Sprache! Ja oder nein?". Im langen Morgenmatel warf sich der selbsternannte Kunstsammler vor Charles Wannabes Füßen zu Boden und beteuerte unter Tränen: "Nein! Himmel! Nein! Ich hätte doch nie! Wie könnte ich denn?! Wie können Sie überhaupt?!". Ebenso rasch, wie er zu Boden gegangen war, stand er im nächsten Moment wieder auf den Beinen. Die Tränen in seinen Augen waren wie auf Kommando versiegt und einer spontan aufkommenden Empörung gewichen, mit der er nun losbrüllte: "Ja, wie können Sie es auch nur wagen, mir etwas Derartiges zu unterstellen?! Hinfort mit Ihnen, gehen Sie mir aus den Augen! Verlassen Sie sofort mein Anwesen!". Damit schlug er Charles und Diane wutentbrannt die Haustür vor der Nase zu. Wannabe aber verkündete sogleich lauthals durch die geschlossene Tür: "Für heute sind Sie mich vielleicht los! Aber heute ist nicht alle Tage! Ich komm wieder, keine Frage!". Diane und er machten daraufhin auf dem Hacken kehrt und liefen zurück zum Pferdeschlitten, auf dessen Kutschbock sie gemeinsam auf Paulis Wiederkehr zu warten gedachten.

Der war derweil auf seiner einsamen Wanderung inmitten des Hyde Parks an einer Wegkreuzung angelagt, von wo ihm aus anderer Richtung mit zugekniffenen Augen Henry Fist entgegenstiefelte. Beinahe hätte der gedanklich abwesende Mann den Geistlichen vor sich über den Haufen gerannt. Erst in allerletzter Sekunde bemerkte er ihn doch noch und blieb entgeistert stehen, wozu er stammelte: "Sie, Sir?! Was verschlägt ... verschlägt Sie denn ... denn bei diesem ... diesem Wetter hierher?". Pauli zuckte mit den Schultern: "Das Gleiche könnte ich auch Sie fragen, zumal Sie für diese Witterung ja noch deutlich unpassender gekleidet sind als ich! Hatten Sie Glück auf Ihrer Jobsuche?". Henry Fist blieb stumm. Verunsichert überlegte er, was er auf diese Frage erwidern sollte. Schließlich rang er sich zu einem leisen "Ja" durch. Pauli streckte ihm freudig die Hand entgegen: "Na also, wer sagt's denn?! Und was ist das für eine Arbeit, wenn ich fragen darf?". Henry Fist senkte den Kopf ein wenig, um so den unmittelbaren Augenkontakt zu seinem Gegenüber so gut es ging zu vermeiden: "Ach, etwas mit Atomenergie eben. Einfach, schnell und äußerst gut bezahlt. Da kann man dann doch quasi gar nicht anders als zugreifen, oder?!". In Henry Fists Frage klang ein wenig so etwas wie eine versteckte Bitte um Absolution mit. Das bemerkte auch Pauli und entgegnete nachdenklich: "Nun, im Grunde genommen ist das richtig! Viel Geld für wenig Arbeit, das klingt natürlich verlockend! Nur ist bei solchen Angeboten erfahrungsgemäß auch die Gefahr immer recht groß, daß man einem Betrüger oder Halsabschneider auf den Leim geht. Man sollte sich daher im Voraus immer erst einmal fragen, ob man das damit verbundene Risiko, am Ende von der Gegenseite nur über den Tisch gezogen zu werden, eingeht und einem möglichen Gauner dabei nicht nur seine Begabungen und Fähigkeiten, sondern auch seine Seele verkauft. Denken Sie doch nur einmal daran, wie es Judas erging, der für 30 Silberstücke Jesus an die Hohepriester verriet und ihn damit ans Kreuz lieferte. Am Ende erhängte er sich aus lauter Verzweiflung am Ast eines Baumes. Nein, man darf bei allem, was man tut, niemals seinen Glauben und die Liebe zu seinen Mitmenschen verraten. Sonst richtet man sich schon zu Lebzeiten selber, noch bevor dereinst das Gericht Gottes über einen hereinbricht!". Henry Fist schluchzte laut, und weinend bekannte er: "Vater, vergib mir! Denn ich habe schwere Schuld auf mich geladen! Wie konnte ich mich bloß so blenden lassen vom glänzenden Schein des Geldes?! Ich war wahrhaftig im Begriff, an diesen Lou Cypher meine Seele zu verkaufen und ihm obendrein die gesamte Menschheit mit einem Schlag ans Messer zu liefern". Henry Fists Knie begannen zu zittern. Er packte die Knopfleiste vom Mantel Paulis, um sich daran festzuhalten, und flehte: "Bitte, bitte, helfen Sie mir! Er kommt doch heute nachmittag um 5 wieder hierher und will mich holen, dieser Teufel! Und dann will er alles Leben auf der Erde auslöschen, mit einer riesigen atomaren Explosion! Er hat da ein geheimes Labor und einen Atombunker, alles tief unter der Erde, hier in London. Nur, wo genau, das kann ich Ihnen leider nicht sagen, da ich auf der Hin- und Rückfahrt ja durch die totale Verdunklung seines Wagens nichts sehen konnte! Sie müssen ihn aufhalten, sonst sind wir allesamt verloren! Bitte!". Pauli schaute Henry Fist einen Moment lang erschrocken in die Augen. Dann aber strich er ihm ruhig übers zerzauste Haar und sprach mit fester Stimme: "Schon gut, mein Sohn! Sie haben sich richtig entschieden! Laufen Sie jetzt nur rasch in Richtung Hyde Park Street, und teilen Sie alles, was Sie wissen, dort Diane und dem Herrn mit, der vorhin unter der Brücke bei uns war. Er wird schon wissen, was zu tun ist. Ich selber muß noch ein wenig hierbleiben und eine wichtige Verabredung wahrnehmen! Nur keine Angst, Henry, mit Gottes Hilfe wird alles gut! Gemeinsam werden wir schon dafür sorgen, daß dieser verfluchte Lou Cypher Ihnen und uns allen nichts anhaben kann!". Schnellen Schrittes lief Henry Fist in die Richtung, aus der Pauli gekommen war, von dannen. Der Gottesdiener aber blieb im menschenleeren, verschneiten Park allein zurück ...

13 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas hat einiges zu verdauen, Wannabe macht flinke Hufe]

Charles und Diane hockten gemeinsam auf dem Kutschbock, blickten auf den langsam vorbeischlitternden Verkehr und lauschten dem eintönigen Glockenschlag Bin Bens, als Wannabe mit einem Mal seine Hand erhob und seinen Zeigefinger die Straße hinunter in Richtung Hyde Park ausrichtete, wozu er in den dicht fallenden Schnee hineinblinzelte und rief: "Na, nun schlägt's aber 13! Wenn das nicht der Herr ist, der sich vor wenigen Stunden auf der Suche nach Arbeit von der London Bridge zum Sozialamt aufbrach. Herr Fist, wenn ich mich nicht irre?! Und ich irre mich eigentlich nie!". Die vor Kälte zitternde Gestalt, der seine Ansprache galt, war inzwischen raschen Schrittes nähergekommen und stammelte nun, nach Luft schnappend: "Mister ... Sir Chales ... Herr Wannabe ... Ich ... also Mister Pauli ... er hat ... er meinte ... ich sollte zu Ihnen ... Sie wüßten dann schon, was ... was zu tun sei ...". Charles Wannabe sprang vom Kutschbock herab, zog sich die Fäustlinge von den Händen und gab sie Henry Fist. Anschließend streifte er sich kurzerhand auch noch die Wattejacke von den Schultern und legte sie behutsam um Fist's frierenden Leib, wozu er mit besorgter Stimme sprach: "Mein lieber, guter Mann! Sie zittern ja wie Espenlaub. Daß Sie sich nur nicht noch den Tod holen bei dem Sauwetter. Und nun atmen Sie erst einmal tief durch und dann erzählen Sie ganz in Ruhe, was Sie auf dem Herzen haben!". Henry Fist, der inzwischen einen Knopf der Wattejacke geschlossen und sich dann eilends die Handschuhe übergezogen hatte, nickte ganz aufgeregt mit dem Kopf: "Ja, ja ... den Tod holen ... ganz recht ... wir alle werden uns bald den Tod holen, wenn wir ... wenn wir ihn nicht aufhalten ... aufhalten, diesen gemeingefährlichen Kerl mit dem Hinkefuß ... Er heißt Lou ... Lou Cypher ... und er wohnt in ... in einem Loch ... Kellerloch, von wo aus er mit ... mit einer Atombombe ... die ganze Menschheit mit einem Schlag ... einem nuklearen Erstschlag ver ... vernichten will!". Diane und Charles stockte der Atem. Entsetzt begann der eben noch so ruhige Wannabe Henry Fists Oberkörper mit leichtem Druck seiner auf die Schultern gelegten Hände zu schütteln: "Was sagen Sie da? Eine Atombombe! Das ist ja schrecklich! Wann und wo denn nur? So reden Sie doch!". Henry Fist aber zuckte nur mit den - von Wannabe fest umklammerten - Schultern: "Ich ... ich weiß es doch nicht ... Ich ... ich konnte doch nicht erkennen, wo ... wo sich der Keller befindet ... Alles ... alles, was ich weiß ist ... er trägt einen roten Anzug ... er hinkt ... er nennt sich Lou Cypher ... und seine Organisation heißt ... Final Countdown". Charles Wannabe entließ Fists Schultern wieder aus seinem Griff und dachte einen Moment nach, dann sprach er mit fester Stimme, wohl mehr zu sich selbst als zu dem armen Henry: "Nur keine Panik! Durchdrehen macht alles nur noch schlimmer!". Und sichtlich ruhiger werdend, ergänzte er schließlich: "Wir bringen Sie jetzt erst einmal unverzüglich zum Yard, und Sie schildern dort alles, was sie erlebt haben, dem zuständigen Beamten noch einmal ganz genau, in allen Einzelheiten". Mit diesen Worten half er Henry Fist auf die Ladefläche des Pferdeschlittens, und instruierte dann Diane wie auch die beiden Pferde: "Auf gehts, in Windeseile - so schnell die Hufe traben - nach SW1 Broadway Nummer 10, in die Heiligen Hallen von New Scotland Yard. Hüahh!". Auf Charles Geheiß zog Diane die Zügel an, und vier Paar Pferdebeine setzten sich in Trab, wodurch der Schlitten mit leisem Glöckchenklang erst langsam, dann aber zügig immer schneller werdend, in Bewegung geriet.

Nahezu unfähig zu jeglicher Form von Bewegung hockten derweil Lukas Svensson und der kleine Luke mit übervollen Bäuchen auf dem Sofa im heimischen Wohnzimmer. Opa Lukas hatte dabei seinen Enkel auf dem Schoß und seine Lesebrille auf der Nase sitzen und las dem andächtig lauschenden Knaben die Weihnachtsgeschichte von Dickens vor. Dabei ließ er seine Arme immer wieder zur Veranschaulichung des Gelesenen durch die Luft kreisen und veränderte seine Stimme, je nachdem, ob er sie dem alten Geizkragen Scrooge, dem armen kleinen Tiny Tim, Bob Cranchet oder den drei Geistern der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht lieh. Yelena lugte immer wieder durch die Tür ins Zimmer, während sie in der Küche gemeinsam mit ihrer Tochter Jane, Cathrin und Nina den großen angefallenen Berg abzuwaschenden Geschirrs bewältigte. Lukas' Tochter Lisa aber stand mitten im Flur, wo sie andächtig ihre mitgebrachte Geige zwischen Schulter und Kinn eingelegt hatte und - mit dem Bogen sanft über deren Saiten streichelnd - die anrührend weihnachtliche Melodie von "Hark The Herald Angels Sing" hervorzauberte. Nina Svensson, ihre Mutter, mußte sich während des Geschirrabtrocknens immer wieder mit dem Handrücken über die Wange streichen, um sich so die eine oder andere verstohlene Träne wegzuwischen, wozu sie seufzend anmerkte: "Ach, was ist sie nur für eine wundervolle, bezaubernde Frau geworden, meine kleine Lisa. Die Kinder werden ja so schnell erwachsen. An ihnen merkt man erst, wie rasch man älter wird und einem dabei das kurze Erdenleben langsam und unaufhaltsam durch die Finger rinnt". Jane und Yelena schauten sich gegenseitig an und nickten stumm. Cathrin aber hielt mit einem Male inne. Ihr Gesicht verlor seine so anmutige, zartrosa Färbung, und mit bedrückter Stimme fragte sie: "Geht es Ihnen dann auch manchmal so, daß Sie darüber nachdenken, was Sie alles an schwerer Schuld in ihrem Leben auf sich geladen haben und wie Sie damit weiterleben oder gar einmal in Frieden sterben sollen?!". Nina Svensson schaute die blasse Frau nachdenklich an, dann sprach sie: "Ja, hin und wieder schon. Wenn man, wie ich, einen leitenden Posten auf dem rutschigen Parkett internationaler Weltpolitik innehat, dann muß man immer wieder Entscheidungen treffen, in denen es für die Menschen durchaus um einiges geht - vielleicht im Einzelfall sogar um Leben und Tod. Dieser Gedanke belastet einen im Nachhinein natürlich sehr. Allerdings muß ich dann in solchen Momenten auch stets daran denken, um wieviel schwerwiegender es wohl sein muß, wenn man das Leben eines Menschen mit den eigenen Händen für immer auslöscht?!". Nun waren es Cathrin und Jane, die sich mit einem beklemmenden Gefühl im Bauch tief in die Augen schauten. Ja, es kam ihnen beiden in diesem Augenblick fast so vor, als würden ihnen Ninas eindringliche Worte quasi einen Dolch mitten ins Herz stoßen. Im Wohnzimmer war Lukas derweil mit Ebenezer Scrooge und dem zukünftigen Weihnachtsgeist gemeinsam auf einem Friedhof an einem Grabstein angelangt, dessen eingemeißelter Name sich dem Geizhals in diesem Moment in schrecklichster Weise offenbarte. Und Opa Lukas schlüpfte noch einmal in die Rolle Ebenezer Scrooges, der - bei ihm stimmlich ein wenig wie Charles Wannabe klingend - nun die zitterde Hand in die Höhe streckte, um inständig zu flehen: "Ich will Weihnachten in meinem Herzen ehren und versuchen, es zu feiern! Ich will in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft leben! Die Geister von allen dreien sollen in mir wirken! Ich will mein Herz nicht ihren Lehren verschließen! Oh, sage mir, daß ich die Schrift auf diesem Steine weglöschen kann!". Cathrin, die in der Küche nur den letzten Satz dieses Rollenspiels vernahm, wurde im selben Augenblicke leichenblaß, verdrehte ihre Augen und sank in sich zusammen. Nur das rasche Zugreifen Janes bewahrte die geliebte Freundin vor dem Sturz auf den weißgekachelten Küchenboden. Und mit leiserwerdender Stimme wisperte sie, kaum noch zu verstehen: "Steven! ... Weglöschen!". Dann aber verlor sie das Bewußtsein.

Im Eiltempo bog der Pferdeschlitten mit Charles, Diane und Henry Fist derweil in die Einfahrt von New Scotland Yard ein, wo er an der geschlossenen Schranke von einem sichtlich verdutzten Yusuf Kebab in Empfang genommen wurde. Der türkischstämmige Schrankenwärter des Yard stellte sich mit breiten Schultern den wiehernden Pferden in den Weg, verschränkte seine muskulösen Arme vor dem stählernen Bauch und knurrte: "Ey, was guckt Ihr! Ihr kummt hier net rein!". Erst jetzt bemerkte er auf dem Kutschbock - in Lumpen gehüllt - das vertraute Gesicht Charles Wannabes und sprach,auf der Stelle zur Seite tretend: "Verzeihung, Mister Wannabe! Ich hab Sie nicht gleich erkannt! Klar man, mit Ihnen und solch hübscher Jungfrau an Ihrer Seite dürfen auch schon mal die Gäule durchgehen". Mit diesen Worten begab er sich in sein Wärterhäuschen und öffnete per Knopfdruck den Schlagbaum, so daß der Pferdeschlitten passieren konnte. Vor dem Haupteingang des 20stöckigen Gebäudes angelangt, brachte Diane die Pferde sodann mit einem einzigen festen Zug an den Zügeln zum Stehen. Charles sprang sogleich vom Kutschbock und half dann Henry Fist beim Absteigen von der Ladefläche. Schließlich reichte er auch Diane seine hilfsbereiten Hände, doch die schüttelte nur leicht mit dem Kopf und sprach: "Charles, ich denke, von hier an kommen Sie nun auch wieder ganz gut ohne mich zurecht. Ich für meinen Teil würde mich, wenn Sie nichts dagegen haben, lieber wieder an Paulis Seite um all die Hilfsbedürftigen da draußen kümmern. Sie haben es doch am eigenen Leib hautnah zu spüren bekommen, wie sehr all diese armen Menschen unsere Hilfe nötig haben!". Charles Wannabe nickte sichtlich berührt, dann ergriff er Dianes Hand, drückte sie ganz fest und meinte: "Ja, das habe ich! Also dann, alles Gute für sie Beide! Grüßen Sie Pauli von mir und sagen Sie ihm nochmals ein herzliches Dankeschön für alles, was er für mich getan hat!". Und etwas melancholisch angehaucht, fügte er leise hinzu: "Nur noch eine Frage, Diane! Werden wir jemals wieder voneinander hören?". Diane aber beugte sich vom Kutschbock ein wenig zu Charles hinunter und hauchte ihm einen Kuß auf die Stirn, wozu ihre zarte Stimme verkündete: "Oh ja, das verspreche ich Ihnen!". Lächelnd erhob sie ihr Haupt wieder und startete ihren Zwei-PS-Schlitten mit einem forschen "Hüah!". Charles brauchte nach diesem berührenden Abschiedsmoment erst einmal einige Sekunden, um wieder zu sich zu kommen, dann jedoch drehte er sich mit einem kleinen wäßrigen Schleier vor Augen blitzartig zu Henry Fist um und erklomm mit ihm gemeinsam schnellen Fußes die 36 Stufen der Treppe, die zum Eingang des Yardgebäudes hinaufführte.

Auch Cathrin Napolitani hatte einen Moment gebraucht, um wieder zu sich zu kommen, doch nun schlug sie langsam die Augen auf und sah sich erschrocken um. Dabei flüsterte sie ganz aufgeregt: "Wo bin ich? Was ist passiert?". Sie blickte in das Gesicht Lukas Svensson, dessen bärtiger Mund auf sie mit beruhigender Stimme einredete: "Nur keine Angst, Kate! Du hattest nur einen kleinen Ohnmachtsanfall. Jane und ich haben Dich zusammen von der Küche ins Wohnzimmer getragen und Dich hier aufs Sofa gelegt. Du solltest Dich jetzt ein wenig ausruhen und schonen. Möchtest Du einen Schluck Wasser trinken?!". Cathrins Kopf nickte. Lukas aber nahm sofort ein auf dem Couchtisch bereitstehendes Glas mit Quellwasser zur Hand und führte es vorsichtig an ihre Lippen, während er mit seiner anderen, freien Hand behutsam unter ihren Kopf griff und ihn ein wenig anhob, so daß sie - ohne sich zu verschlucken - trinken konnte. Schluck um Schluck leerte Cathrin das Glas bis zur Neige, woraufhin Lukas ihren Kopf wieder auf die Sofalehne zurücklegte und ihr dabei die Frage stellte: "Erinnerst Du Dich vielleicht noch, warum Du so plötzlich ohnmächtig wurdest?". Ihr Blick ging zur linken Seite, wo ihre Freundin Jane hinter der Rückenlehne des Sofas stand und die ganze Zeit über ihr eisklates Händchen hielt. Ja, sie erinnerte sich daran, was sie soeben zu Fall gebracht hatte. Es waren die Bilder in ihrem Kopf - diese furchtbaren Bilder, die sie seit Jahren immer wieder heimsuchten: das dunkle Zugabteil, die Klinge zweier Messer, die weitaufgerissenen Augen ihres Mannes Steven, die unaufhörlich zustoßenden Bewegungen zweier zarter Frauerhände und Blut, überall Blut ... Blut, das sich ganz einfach nicht wegwischen ließ, so sehr man sich auch bemühte. Wieder schaute sie auf die ihr nahestehende Freundin, sah die Angst in ihrem Gesicht - jene panische Angst, die sich auszumalen versuchte, was geschehen würde, wenn das sie Beide auf weig verbindende grausige Geheimnis doch eines Tages noch ans Licht der Öffentlichkeit geriete. Eine Angst, die sie natürlich teilte, und die sie in solchen Augenblicken dennoch immer öfter gegen die Möglichkeit abwog, mit einem Geständnis endlich ihre Seele von der schweren, qualvollen Last der Schuld zu befreien. Janes Finger streichelten in diesem Moment liebevoll über den Handrücken Cathrins, deren Blick nun wieder langsam zu Lukas Svensson hinüberschweifte, wobei ihre blassen Lippen schließlich ein leises "Nein, ich kann mich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern!" hervorpreßten.

Sehr genau erinnern mußte sich hingegen im selben Augenblick Henry Fist, der gerade im Büro des - nach dem gewaltsamen Ableben seines Vorgängers Harold Freakadelly - übergangsweise mit der Leitung des Yard betrauten Sir Jeffrey Douglas, auf einem der Stühle platzgenommen hatte. Jeffrey Douglas hatte mit seinen gerade erst 29 Jahren - die man ihm auf den ersten Blick gar nicht ansah, da ein pechschwarzer Vollbart mehr als die Hälfte seines Gesichts bedeckte - bereits eine steile Karriere hinter sich. Von der Ausbildung zum Polizeibeamten war er aufgrund guter Beziehungen statt in den Streifendienst gleich in den höheren Polizeidienst aufgestiegen. Dort hatte er dann auch keine noch so kleine Chance ausgelassen, sich zu profilieren. Immer wieder machte er mit spektakulären Alleingängen von sich reden und leitete schließlich nach nur drei Jahren schon eine eigene Abteilung im Yard. Und als dann der Posten des Yardchefs für die Zeit bis zum Jahresende vakant wurde, da ließ der eifrige Jüngling erneut seine, bis ins britische Oberhaus reichenden, Beziehungen spielen, um sich die prestigeträchtige Stelle zu sichern. Auch in der neuen Position war er nun wieder bereit, einiges zu riskieren, um am Ende seinen Namen unvergeßlich zu machen. Douglas betrachtete sich die traurige Gestalt Henry Fists genau, dann setzte er sein schlankes Gesäß lässig auf der Tischplatte seines Schreibtischs ab und winkte den neben der Tür stehenden Charles kurz zu sich. Gönnerhaft grinsend sprach er, mit einem recht abfälligen Blick auf Wannabes Kleidung: "Vielen lieben Dank, daß Sie mir den Herrn so rasch hierher gebracht haben, Mister ... wie war noch gleich der Name ... ach ja, Wannabeer! Ich denke, von nun an komme ich ganz gut allein mit dem Herrn First zurecht. Sie haben doch sicher Wichtigeres zu tun, oder? Zum Beispiel ausgiebig duschen und ihre Kleidung richten, nicht wahr?! Einen schönen Tag noch!". Damit war dann für den kommissarischen Yardchef die Unterhaltung mit dem Zubringer jenes wertvollen Zeugen auch schon beendet. Stumm wies seine Hand auf die Ausgangstür, die auch sogleich von einem der anwesenden Beamten geöffnet und hinter einem kopfschüttelnd abtretenden Charles Wannabe wieder geschlossen wurde. Fassungslos stand der auf diese Weise hinauskomplimentierte Ex-Yard-Chef im Vorzimmer seines ehemaligen Büros, wo ihn die zuständige Sekretärin Sabrina Meltstone hinter ihrem Computermonitor nur mitleidig schulterzuckend ansah und ihm schließlich zuhauchte: "Tut mir leid, Sir Wannabe! Aber so ist er eben, der Neue! Ein richtig arroganter Typ. Gar kein Vergleich zu dem liebenswürdigen Mister Freakadelly und sogar noch um ein Vielfaches schlimmer als ...". Wannabe nickte: "Stimmt, Misses Meltstone, gegen den war dann wohl sogar ich selbst zu meinen schlimmsten Zeiten noch Gold wert. Naja, bleibt mir für den armen Henry und uns alle nur zu hoffen, daß er wenigstens was von seinem Job versteht". Und sich vorsichtig zu Sabrina Meltstone hinüberbeugend, ergänzte er leise flüsternd: "Ich weiß natürlich, daß es gegen die Vorschriften verstößt und daß ich gar kein Recht habe, Sie das zu bitten! Aber könnten Sie mich vielleich informieren, falls sich hier in diesem Fall etwas Neues ergeben sollte. Es läge mir wirklich sehr viel daran!". Sabrina nickte ein wenig überrascht, und Charles reichte ihr voller Dankbarkeit zum Abschied lächelnd die Hand. Dann verließ er das Vorzimmer und trat auf den Flur, wo schon eine Sekunde später sein Smartphone zu klingeln begann.

Wannabe befreite das Funktelefon aus der Tasche seiner zerschlissenen Anzughose und führte es an sein Ohr, wo ihm eine tiefe Baßstimme recht nüchtern verkündete: "Mister Wannabe, Charles Wannabe?! Ihre Sekretärin Misses Palmer gab mir Ihre Nummer. Mein Name ist Sergeant Bulldog von der Metro Police. Ich muß Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, daß Ihr Fahrzeug - ein roter Ferrari mit dem amtlichen Kennzeichen WANNA B 3 - aufgrund des verkehrswidrigen Parkens in Höhe der London Bridge kostenpflichtig abgeschleppt werden mußte und sich nun auf dem Hof von Scotland Yard befindet. Von dort können Sie es gegen die Entrichtung der fälligen Gebühr in Höhe von 48 Pfund und 6 Pence jederzeit innerhalb der üblichen Geschäftszeiten abholen, die da wären ...". Schmunzelnd unterbrach Charles Wannabe den Beamten beim Aufsagen seiner streng vorschriftsmäßig vorgetragenen Ansage: "Mein lieber Sergeant Bulldog, ich kenne die Zeiten. Vielen Dank und einen schönen Tag noch sowie Frohe Festtage für Sie und Ihre Familie!". Der Beamte am andern Ende war sprachlos. So nett hatte sich in seiner ganzen langjährigen Dienstpraxis noch nie jemand für die Benachrichtigung über eine gebührenpflichtige Abschleppaktion bedankt. Wannabe aber beendete durch eine sanfte Berührung des Telefondisplays den Anruf und machte noch einmal auf dem Absatz kehrt. Zurück an der Tür des Yardchefvorzimmers klopfte er kurz an und wartete, bis von drinnen her ein zartes "Ja, bitte!" erschallte. Dann öffnete er vorsichtig die Tür und trat noch einmal an den Schreibtisch Sabrina Meltstones heran, wobei er der bezaubernden jungen Frau zuraunte: "Sie hätten wohl nicht zufällig ein wenig Kleingeld für mich?! Sagen wir mal 48 Pfund und 6 Pence?! Der gemeinsamen alten Zeiten wegen, zum Beispiel?!". Das Fräulein Sabrina grinste: "Na, übertreiben Sie es da jetzt nicht ein wenig mit Ihrer Tarnung als mittelloser Stadtstreicher, Sir Wannabe?! Aber gut, wenn Sie mich so lieb darum bitten und weil ja auch bald Weihnachten ist, werd ich mal nicht so sein!". Damit zog sie ihre Handtasche unter dem Schreibtisch hervor, entnahm ihrer Geldbörse eine 50-Pfund-Note und überreichte sie ihrem ehemaligen Chef augenzwinkernd mit den Worten: "Stimmt so! Mit dem Restgeld können Sie sich ja noch einen schönen heißen Kaffee oder ein anderes wärmendes Getränk besorgen! Nur keinen billigen Fusel bitte!". Wannabe aber machte in seinem schäbigen Aufzug einen geradezu höfischen Knicks vor ihr und sprach mit feierlicher Stimme: "Fest versprochen, meine Dame! Meinen heißesten Dank und ein Frohes Fest für Sie, Misses Sabrina!". Damit kehrte er erneut auf den Hacken seiner schmutzigen Nobelschuhe um und verließ pfeifend das Büro über den langen Flur des 20. Stockwerks in Richtung Lift. Mit diesem aber ließ er sich sogleich ins Erdgeschoß befördern, wo er, das Foyer durchschreitend - am Empfang und dem dahinterstehenden, sichtlich verblüfften George Adams vorbei - durch die gläserne Eingangstür hinaus ins Freie trat. Hier hielt er für eine Sekunde inne, warf einen verträumten Blick in den jetzt nur noch leise rieselden Schnee. Und mit festen, ruhigen Schritt stapfte er schließlich die Treppenstufen hinunter direkt in den langgestreckten Innenhof des Yard ...

14 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Bei Lukas bahnt sich etwas an, Wannabe hat ein Schlüsselerlebnis]

Lukas Svensson war in seinem trauten Heim derweil in Aufbruchstimmung begriffen. Auch wenn er seine kleine Familie - und besonders Cathrin in ihrem angeschlagenen Zustand - nur ungern allein ließ, so wollte er dennoch endlich wissen, wie weit sein Partner Charles inzwischen mit den Ermittlungen im Fall der verschwundenen Paulusfigur gekommen war. Und so warf er sich nun im Flur rasch seinen abgewetzten Regenmantel über und verabschiedete sich von seiner Tochter Lisa, seiner Exfrau Nina, seiner Stieftochter Jane und seinem Enkel Luke jeweils mit einer ausgiebigen, innigen Umarmung. Daraufhin begab er sich noch einmal ins Wohnzimmer, wo Cathrin nach wie vor sehr blaß wirkend - mit einer dicken Wolldecke sorgsam eingehüllt - auf dem Sofa lag und ihm müde entgegenlächelte. Lukas aber ergriff ihre Hand und raunte besorgt: "Soll ich nicht doch einen Arzt holen? Ich hab da einen alten Freund, Doktor Quinn C. Ok, der ist zwar eigentlich Gerichtsmediziner. Aber immerhin besitzt er einen Doktortitel und versteht sein Handwerk als Arzt. Außerdem ist er immer unheimlich dankbar, wenn ihm im Dienst mal was Lebendiges unterkommt". Cathrin schüttelte lächelnd den Kopf: "Nein, laß mal, aber in die Hände eines Pathologen begebe ich mich dann doch lieber erst, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden läßt". Lukas Svensson stubste ihre Nasenspitze mit seinem Zeigefinger an und sprach: "Na gut! Wenn Du ein wenig lächelst, gefällst Du mir ja auch schon gleich wieder viel besser, Kate! Du solltest Deine beiden süßen Mundwinkel meiner Meinung nach eh viel öfter mal der Schwerkraft entziehen, das steht Dir nämlich richtig gut zu Gesicht!". Yelena Svensson war inzwischen von hinten auf leisen Sohlen unbemerkt an ihren Mann herangetreten und umklammerte nun seine breite, trechcoatummantelte Hüfte mit beiden Armen, wobei sie die Finger ihrer beiden Hände sogleich vor seinem umfangreichen Bauch ineinander verhakte. Dazu hauchte sie ihm ins Ohr: "So, so! Das Herr also wollen sich aus Staub machen ganz still, leise und heimlich! Und dann auch noch hobeln süßes Holz mit Gefährtin von Tochter von geliebtes Ehefrau. Du sein und bleiben echtes Schweresnöter, liebes Luki! Ach, ich Dich schon vermissen jetzt, wo Du noch nicht mal sein gegangen!". Seufzend begann sie, sanft an seinem Ohrläppchen zu knabbern, während Cathrin auf dem Sofa - diskret und müde zugleich - ihre Augen schloß. Lukas aber löste sich aus der innigen Umklammerung seiner Gattin, drehte sich zu ihr um und drückte ihr zum Abschied einen langen Kuß auf die warmen Lippen, die sich noch in selber Sekunde dem Drängen seiner vorstoßenden Zunge öffneten. Ihr ganzer Körper erschauderte, während nun auch sie ihre Augen zukniff und dem Spiel ihrer beider frischvereinten Zungen freien Lauf ließ. Erst ein - nach mehreren Minuten einsetzendes - leichtes Zupfen am Saum ihres Kleides riß Yelena aus der Verzückung des intimen Augenblicks hinaus. Sie schlug langsam die Augen wieder auf und schaute an sich herab, wo das verängstigte Gesicht des kleinen Luke blickte, der ihr sogleich zuraunte: "Aber Oma, Du darfst doch den Opi nicht aufessen!". Yelena und Lukas schmunzelten, wobei sich der Exinspektor zu seinem Patenkind hinunterbeugte und ihm zuflüsterte: "Weißt Du was, mein Junge! Das erklär ich Dir später, wenn Du einmal größer bist!". Der Knabe aber machte ein sichtlich enttäuschtes Gesicht: "Menno, das sagen Mami und Tante Kate auch immer!". Damit stiefelte der der kleine Luke zurück in den Flur, wo er Lisa Svensson beim Üben mit ihrer Geige zusah. Auch der große Luke entschwand - seiner Gemahlin im Gehen noch einmal eine flüchtige Kußhand zuwerfend - in dieselbe Richtung, wo er schon wenige Sekunden später hinter sich die Wohnungstür leise ins Schloß fallen ließ. Im kühlen Hausflur zog er sich seine Handschuhe über und lief dann gemächlich die Treppe hinab zur Haustür und durch sie hinaus auf die schneebedeckte Straße.

Auf ihr war inzwischen auch Charles Wannabe an Bord seines frisch aus polizeilicher Obhut ausgelösten roten Ferrari unterwegs. Im Autoradio lief mit gedämpfter Lautstärke der Countryklassiker "On The Road Again", dessen Melodie der wattejackenbekleidete Privatdetektiv leise mitsummte. Man, wie hatte dieser Typ in der Garage der Kriminaltechnik geguckt, als er Charles in seiner schäbigen Kluft nach dem roten Ferrari fragen hörte. Doppelt und dreifach hatte er Wannabes vorgelegten Ausweis und den dazu überreichten Geldschein auf Echtheit überprüft, bevor er ihn in die schummrige Garagenhalle zu dem Luxusschlitten durchließ. Ja, und dann, in der alten Halle, waren bei Charles mit einem Male die Erinnerungen hochgekocht - Erinnerungen an seine wohl glanzvollste Zeit im Yard. Unter jenem Dach hatte schließlich seinerzeit der beschlagnahmte Rolce Royce des zuvor erschossenen Mafiabosses Spirelli gestanden, in dessen Kofferraum man die beiden Tatmesser entdeckte, die ihm endlich nach mehreren Jahren zähen Ermittelns die nötigen Beweise für die äußerst medienwirksame Aufklärung des Mordes an dem leitenden Bankangestellten Steven Napolitani bescherten. Das Ansehen, das ihm jener unerwartete Fund einbrachte, hatte ihn dann auch zum Chef der neugegründeten britischen Antiterroreinheit CI7 aufsteigen lassen. Ein steiler Karrieresprung war das gewesen - auch wenn er sich damals nicht erklären konnte, weshalb Spirellis sonst so professionell vorgehende Leute so dumm gewesen sein sollten, die Tatwaffen im Auto ihres Bosses zu lagern, statt sie einfach irgendwo auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen. Das abrupte Ende des mitgesummten Liedes riß Charles Wannabe aus seiner nostalgisch angehauchten Gedankenwelt. Aus den Lautsprecherboxen seines Autoradios aber drang sogleich die sachliche Stimme eines Nachrichtensprechers an Charles' Ohr, welche verkündete: "Es ist jetzt viertel nach 2 Uhr nachmittags. Und hier nun wieder die RADIO AKTIV 201.5 QUARTER NEWS, unsere Kurznachrichten zur vollen Viertelstunde ... London. In der britischen Hauptstadt kam es aufgrund des plötzlich einsetzenden Schneefalls zu mehreren schwerwiegenden Unfällen. Der Busverkehr kam zeitweise komplett zum Erliegen, so daß viele Berüfstätige und Gäste unserer Stadt auf die Ubahnen ausweichen mußten. Auf großes Interesse stieß dabei auch ein neues Projekt des Verkehrsministers mit dem Titel U-TUBE, Hier können Reisende und andere Privatpersonen nun von ihrem Handy aus übers Internet ihre Videobotschaften hochladen, die anschließend über einen Zentralrechner 24 Stunden rund um die Uhr direkt auf eigens dafür angebrachten Monitore in den U-Bahn-Stationen und in den Wagen der U-Bahn-Züge weitergeleitet werden ...". Charles Wannabe stellte das Radio leiser und schüttelte nur mitleidig den Kopf. Was für eine schwachsinnige Idee! Wer bitte will denn seine Videobotschaften per Ubahn verbreiten. Ja, welcher halbwegs normale Mensch fuhr denn heutezutage beim ständigen Chaos bei den Öffentlichen überhaupt noch Ubahn?!

Einer von denen, die sich dennoch hin und wieder auf ein derartiges öffentliches Nahverkehrsabenteuer einließen, war Lukas Svensson, der just in diesem Moment die Ubahn in Richtung "Baker Street" bestieg. Er preßte sich dabei mit den Massen langsam ins Innere des menschenüberfluteten Wagens. Die Luft im Abteil, dessen Tür sich hinter ihm sogleich wieder leise zischend verschloß, war verbraucht und stickig. Ohnmächtig zu Boden sinken - wie es bei ihm daheim Cathrin Napolitani beinahe getan hatte - konnte man hier dennoch nicht, dazu war es einfach viel zu eng. Geräuschvoll setzte sich schließlich der Zug in Bewegung, wobei Lukas die ganze Zeit gezwungen war, auf den Monitor an der Decke zu starren, der pausenlos irgendwelche wildfremden Gesichter mit ihren gesprochenen Botschaften präsentierte: "Hi, mein Name ist Shinhead. Und ich grüße ganz lieb meinen Schatz in Number 1 Charts Road. Glaub mir, o Conner, nothing compares to you! ... Hallöle! Ich bin der Siegfried aus dem Schwäbliländle ... Ja, hallo erstmal! Ich weiß gar nicht, ob Sie's schon wußten?! Also jetzt um diese Zeit Ubahn fahren?! Ok, das kann man natürlich machen, äh, muß man aber nicht! ... Lurchi hier! Nur mal ganz schnell eben, Herr Becker! Was jetzt die Schadensregulierung in dem Fall einer plötzlich aufgetretenen Inkontinenz angeht?! Jaa, das läuft! ... Ohmmm! Also mein Name war früher mal Christian, aber jetzt heiß ich ganz anders. Ich wollt allen, die die negativen Schwingungen noch nicht in sich empfangen haben, nur mal eines mitteilen: Vorsicht, Freunde! Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, und niemand stellt von Grün auf Rot das ...". Ein kleiner gelber Lichtblitz durchzuckte den Monitor, dann blieb er schwarz und stumm. Lukas aber schien sich an diesem Zustand recht wenig zu stören, ebenso wie die anderen, mit ihm zusammen eingeferchten Fahrgäste. Svensson bewegten in diesem Moment ganz andere Gedanken. Und einer von ihnen galt seinem Partner Charles Wannabe.

Eben jenem Charles Wannabe, der in dieser Sekunde sein Auto vor seiner Haustür einparkte, und dann - sich im Geiste schon nackt und Kopf bis Fuß mit einer ganzen Flasche Duschöl übergossen unter der warmen Dusche sehend - in seiner muffigen Wattejacke aus dem Wagen hüpfte. Er geriet dabei auf dem spiegelglatten Gehsteig ins Schlittern, landete auf dem eh schon defekten Hosenboden und rutschte auf ihm unsanft der Eingangstür entgegen. Vorsichtig erhob er sich und klopfte sich den Schneematsch vom Hintern. Dabei registrierte er beim anschließenden Betrachten seiner Finger eine eigenartige braune Beimengung, deren offensichtlicher Urheber ihm nur eine Sekunde später in Form eines schwanzwedelnden, zottligen Mischlingshundes direkt vor die Füße lief. Charles, der angewidert ein - in dieser Situation nicht ganz unpassendes - "Shit!" durch seine knirrschenden Zähne preßte, sah grimmig auf den wild hechelnden, herrenlosen Köter mit seinem zerzausten, verdreckten Fell herab, als sich seine Gesichtszüge mit einem Male sichtlich entspannten. Er kniete sich schließlich sogar zu dem kleinen Floteppich herunter und strich ihm mit der unbeschmutzten Hand über den reudigen Pelz, wobei er die andere Hand notdürftig zugleich im noch nicht konterminierten Schnee des Gehsteigs säuberte. Dazu sprach er: "Meine Güte, Du siehst ja vielleicht aus! Fast so schrecklich wie ich, was?! Und Du hast auch eine Dusche mindestens genauso dringend nötig wie ich! Wie sieht's aus, Lust mitzukommen, kleiner Streuner?!". Als hätte der Hund die Frage verstanden, streckte er ihm seine angewinkelte Pfote entgegen und hob und senkte dabei seinen Kopf wieder und wieder in raschem Tempo. Charles Wannabe ergriff die dargebotene Hundetatze und grinste: "Ok, dann mal los! Ich muß nur noch rasch meinen Schlüssel ...". Zu seiner Verwunderung ging sein Griff in die linke Jackentasche seines Anzugs ins Leere. Seine Hand wechselte auf die rechte Jackentasche, doch auch da fand sich kein Schlüssel. Dafür gelangten sein Zeige- und Ringfinger durch ein großes Loch in der Tasche auf deren Innenseite sogleich wieder ins Freie. Tja, diesen Weg mußte dann wohl auch das Schlüsselbund mit dem Haustür- und Wohnungsschlüssel sowie dem Schlüssel zum Hauseingang der Baker Street 221B irgendwann im Verlaufe des Tages gefunden haben. Auf jeden Fall war es jetzt weg! Und so kam Charles erst einmal nicht in seine Wohnung, geschweige denn an eine heiße Dusche oder frische Kleidung. Nun war er also quasi selbst obdachlos und mittellos obendrein - mit dem einen Pfund und den 94 Pence, die er nach der Auslösung seines Autos noch in der Tasche seiner Wattejacke mit sich trug. Alles, was ihm sonst noch übrigblieb, war, zurück ins Büro zu fahren und darauf zu hoffen, daß Claudia oder auch Lukas ihm irgendwie weiterhelfen konnten.

Schulterzuckend machte Wannabe seinem Hundfreund das Dilemma seiner Situation verständlich und wies dann mit dem Zeigefinger auf den roten Ferrari am Straßenrand. Wieder vollführte der Hund eine Kopfnickbewegung, und Charles begab sich mit ihm gemeinsam vorsichtig über den glatten Gehweg hinweg zum Auto. Wannabe öffnete die Beifahrertür, worauf sein streunender Freund mit einem Satz auf den zugehörigen Ledersitz sprang, während Charles selbst um das Auto herumlief und auf der Fahrerseite einstieg. Er blinzelte seinem tierischen Beifahrer zu und startete dann den Motor, der wider Erwarten nur ein leises Stottern verlauten ließ und dann schwieg. Ein fachkundiger Blick aufs Amaturenbrett reichte aus, um Charles auch dieses Phänomen zu erklären. Der Zeiger der Tankanzeige klebte am unteren Ende des roten Bereichs fest. Wieder formten Charles' Lippen jenen vielbemühten Kraftausdruck mit den vier Buchstaben. Statt allerdings - wie es sonst seine Art gewesen wäre - laut loszufluchen, dachte er nun erst einmal ganz nüchtern nach. Was hätte wohl Pauli in dieser Situation getan? Sicher hätte er wieder irgendsoeinen weisen Bibelspruch oder eine Kalenderweisheit parat gehabt, sowas wie "Wenn sich Dir eine Tür verschließt, öffnet sich Dir dafür ein ... Schlitten?!". Nein, Charles Wannabe litt keineswegs an einer Form von Aphasie - jener Erkrankung, wo einem plötzlich die richtigen Wörter fehlen, und daher im Zweifelsfalle kurzerhand durch andere, den Sinn entstellende ersetzt werden. Vor sich erblickte er durch die Windschutzscheibe hindurch in einer Seitengasse tatsächlich einen Schlitten. Allerdings nicht irgendeinen, sondern eben jenen Pferdeschlitten, in dem er zuvor schon mit Diane und Pauli gereist war. Ja, er hätte diese beiden Gäule und den kufenuntersetzten ehemaligen Planwagen unter Millionen wiedererkannt. So sprang er, gefolgt von seinem Hundefreund, wieder aus dem roten Ferrari heraus und lief eiligen Schrittes auf den winterlich umgerüsteten Pferdewagen zu. Auf dessen Kutschbock fand er beim Eintreffen zu seinem Erstaunen zwar weder Diane noch Pauli, dafür aber einen kleinen, im Wind flatternden Brief vor, auf dem schwarz auf weiß zu lesen war: "Lieber Charles! Ich leihe Ihnen meinen Schlitten, bis der Ihre wieder fahrbereit ist. Geben Sie ihn einfach am zweiten Weihnachtstag bei Exbischof Hope ab! Und machen Sie sich keine Sorgen, Diane und mir geht es gut! Wir werden beide bald wieder da anzutreffen sein, wo wir eigentlich hingehören. Was aber unser Wiedersehen angeht, so verweise ich dabei auf: MARY X. MAS. DECEMBER. 24 CUINCHURCH". Wannabe schüttelte den Kopf. Tja, dieser Pauli war schon ein wundersamer Bursche. Wie er das mit dem leeren Tank seines Autos nur wieder vorhergesehen haben mochte? Und woher wußte Pauli überhaupt, wo er wohnte? Im Grunde genommen aber war all das eigentlich ganz egal. Die Hauptsache war doch schließlich, daß Charles Wannabe und sein streunender Hundekumpel erstmal einen fahrbaren Untersatz hatten, der sie auf schnellstem Weg zum Detektivbüro zurück und damit gleichzeitig der Aussicht auf eine warme Dusche und etwas Neues zum Anziehen näher bringen würde. Und so ergriff Charles Wannabe das reudige Hundchen zu seinen Füßen sachte mit beiden Händen, hob es in die Höhe und setzte es auf der Ladefläche des Schlittens wieder ab, auf dessem Kutschbock er sogleich ebenfalls platznahm und die Pferde mit einem kräftigen "Hüah!" zum Aufbruch in Richtung Baker Street 221B ermunterte.

Im Chefbüro von Scotland Yard ging derweil die Vernehmung des Zeugen Henry Fist durch Sir Jeffrey Douglas zuende. Dem Yardchef erschien die Aussage Fists dabei durchaus plausibel. Schon lange gab es immer wieder ernstzunehmende Hinweise, daß Europa ein Nuklearanschlag größeren Ausmaßes ins Haus stehen könne. Wer dafür als möglicher Urheber infrage käme, blieb allerdings bis zu diesem Zeitpunkt stets im Dunkeln. Die Terrororganisation "Nowoij Djehn", die für die eventuelle Ausführung eines solch großangelegten Unternehmens am wahrscheinlichsten erschien, galt nach dem Tod ihrer beiden wichtigsten Köpfe Iwan Kowarno und Derrik Crawler als zerschlagen. Und eine Tochtergesellschaft schien es bislang nicht zu geben. Nun aber trat mit dem Namen "Final Countdown" eine weltweit agierende Im- und Exportfirma auf den Plan, die bekanntermaßen unter anderem in New York, Moskau und Berlin Niederlassungen unterhielt. Daß es auch in London ein Büro gab, war dem Yard bekannt, doch dieser - in der Charts Road gelegene - Gebäudekomplex war auf keinen Fall das von Fist beschriebene Versteck jenes Lou Cypher, der bei dem Atomanschlagsplan offensichtlich alle Fäden in der Hand hielt. Nein, es gab bei den Behörden bislang auch nicht den geringsten Hinweis auf diesen mysteriösen Herrn, geschweige denn auf seinen möglichen Aufenthaltsort. Und so erwuchs in Jeffrey Douglas nach all dem Gehörten langsam und unaufhaltsam der Plan für einen weiteren seiner spektakulären Alleingänge, die ihm - im Falle eines Erfolges - jede Menge Ruhm, Ansehen und eine Titelseite in jeder größeren englischen Tageszeitung einzubringen versprachen. War er während der Aussage Fists die ganze Zeit über im Büro auf und abgegangen, so nahm er nun wieder vor dem sichtlich eingeschüchterten Mann lässig auf der Schreibtischplatte platz und sprach mit vorwurfsvoller Stimme: "Meine Güte, was machen wir denn da bloß? So, wie Sie den Fall hier schildern, sitzen Sie jetzt aber ganz schön in der Tinte, mein lieber Henry! Gesetzt dem Fall, es fände sich plötzlich ein Augenzeuge, der sich im Sozialamt an Sie erinnert und Sie aus freien Stücken mit diesem Herrn Cypher mitgehen sah. Das schaut doch dann für die Geschworenen vor Gericht gleich so aus, als seien Sie einer seiner Komplizen und hätten am Ende nur kalte Füße bekommen. Wer würde jemandem wie Ihnen denn dann überhaupt noch glauben, daß Sie von den kriminellen Absichten des Herrn Cypher anfangs gar nichts gewußt haben?! Und so ein Zeuge ist schnell gefunden. Wollen wir wetten, daß ich Ihnen morgen früh gleich auf Anhieb vom Flur des Sozialamtes gleich ein ganzes Dutzend Männer heranschaffe, die gegen eine äußerst großzügige Erstattung ihrer Unkosten zu so einer Aussage bereit wären, und das sogar unter Eid?! Nein, mein Bester, wenn ich Ihnen unbeschadet aus der Sache heraushelfen soll, dann müßten Sie mir schon noch ein wenig entgegenkommen und wohl oder übel auch etwas für mich tun! Ich schlage vor, wir statten Sie mit einem unserer Peilsender aus und folgen Ihnen dann beim ja eh schon vereinbarten Zusammentreffen mit diesem Herrn Cypher unauffällig bis zu dessen Versteck nach. Dort heben wir die Räuberhöhle mit unseren Beamten einfach aus. Und schon sind die Verbrecher im Knast, die Gefahr ist gebannt, und Sie sind aus dem Schneider! Ein Kinderspiel! Na, was sagen Sie dazu?". Henry Fist zögerte ein wenig, dann meinte er nervös: "Ich soll mich noch einmal mit diesem Herrn Cypher treffen?! Aber der Mann ist doch gefährlich! Was ist, wenn er mir etwas antut?". Jeffrey Douglas beugte sich zu Henry Fist herunter und legte ihm die Hand auf die Schulter: "Nun machen Sie aber mal halblang, First! Wir sind doch die ganze Zeit über direkt an Ihnen dran! Was soll Ihnen denn da schon passieren? Sobald dieser Cypher auch nur eine falsche Bewegung macht, greifen wir ein und nehmen ihn fest! Wie ich schon sagte, ein Kinderspiel und ganz ohne jedes Risiko". Die beiden Beamten, die hinter Fist und Douglas an der Bürotür Wache hielten, tuschelten miteinander, wobei der eine dem anderen zuflüsterte: "Ganz ohne jedes Risiko?! Ja, aber nur für einen!". Der andere aber grinste nur breit und raunte zurück: "Ja genau, ob der kleine Penner dabei seinen Hals riskiert, interessiert den Chef am Ende doch eh nur einen Dreck!". Noch immer zögerte Henry Fist mit seiner Zustimmung für die waghalsige Aktion. Douglas aber entzog ihm mit verärgerter Mine die aufgelegte Hand wieder und fauchte ihn stattdessen an: "Also gut, wenn sie partu nicht wollen, wir können auch anders! Ich ruf jetzt einfach den Haftrichter an, erzähl ihm Ihre merkwürdige Geschichte vom zufälligen Treffen inklusive meiner kleinen Weltvernichtungs-Beihilfe-Theorie, und schon sitzen Sie die längste Zeit Ihrer restlichen Tage im Loch! Wenn Ihnen das besser gefällt?!". Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm er den Telefonhörer zur Hand und wählte eine mehrstellige Nummer. Dazu machte er noch immer ein sehr ernstes Gesicht und hielt sich den Hörer ans Ohr. Kleinlaut aber tönte ihm aus Fists Richtung ein "Ja doch, ich tu's ja!" entgegen, während an seinem anderen Ohr zugleich eine montone weibliche Stimme verkündete: "Beim nächsten Ton ist es genau 15 Uhr, 0 Minuten und 0 Sekunden", gefolgt von einem deutlichen Beep ...

15 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas trifft überfällige Entscheidungen, Wannabe begegnet einem flüchtigen Bekannten]

Bedächtigen Schrittes näherte sich Lukas Svensson, zuvor aus dem U-Bahn-Schacht des Bahnhofs "Baker Street" per Rolltreppe langsam aufgefahren, über die frisch vom Schnee befreiten Gehsteige dem zweigeschössigen Haus mit der Nummer 221B. Er klopfte sich schließlich, dort angelangt, den Schnee von den Schuhen, bevor er - seinen, im Regenmantel mitgeführten Schlüssel im Schloß herumdrehend - die schwere Holztür öffnete. Aus dem hinteren Teil des Hausflurs drang ihm dabei ein lautes Schnarchen entgegen, das zweifellos dem dort zusammengekauert auf der Bank liegenden Saxophonspieler Saxi zuzuordnen war. Svensson aber lächelte nur und ließ die Haustür vorsichtig hinter sich ins Schloß gleiten. Er näherte sich dem schlafenden Mann auf leisen Sohlen, wobei er sich im Gehen seinen Regenmantel und die Jacke seines Anzugs abstreifte, und dem Schlafenden letztere behutsam über den viel zu leicht bekleideten Leib legte. Dabei mußte er äußerst vorsichtig vorgehen, um nur nicht gegen das unter der Bank verstaute Instrument des Straßenmusikers zu treten und ihn so am Ende noch zu wecken. Anschließend machte Lukas Svensson auf dem Hacken wieder kehrt und schlich bedächtig die Stufen zum Obergeschoß hinauf. Dort hauchte er leise sein: "Gestatten, Sherlock Holmes!" in die Sprechbox von Wannabes achso teurem Schließsystem, dessen Computerstimme ihm sogleich ein "Willkommen zurück, großer Meister! Ich bitte einzutreten!" entgegenwarf. Die Tür sprang auf und schon stand er in seinem Büro vor einer sichtlich verdutzten Claudia Palmer, die erst einmal ihre schmale Brille auf der kleinen Nase zurechtrückte und dann sogleich losposaunte: "Schön, Sie zu sehen, Mister Svensson, Sir! Darf ich Ihnen einen Kaffee oder einen Tee anbieten und etwas Gebäck vielleicht? Nein?! Nun gut, Sie wollen sicher auch viel lieber gleich wissen, wie es um den Fall und um Charles ... ich meine, Mister Wannabe ... bestellt ist, nicht wahr?! Also gut: Da war erst einmal dieser Herr Butler, der den Paulus geschnitzt hat. Aber der hat Parkinson, und wohl nur deshalb bei der Befragung am ganzen Körper gezittert, und außerdem eigentlich auch gar kein erkennbares Motiv. Anders sein Pfleger, ein gewisser Alfred Robber, der hat ziemlich was auf dem Kerbholz, so mit Kunstdiebstahl und Vorstrafe. Vielleicht sogar mit Mord?! Und dann ist da noch dieser Kunstfreak Leon Ardo mit seinen 241 Fotos von der Paulusfigur. Ich hab da übrigens auch eine, die hat mir Charles ... Sir Wannabe ... per Mail geschickt. Ebenso wie eine mysteriöse Fußspur vom Tatort. Wenn Sie mal schauen möchten?!". Damit drehte sie den Designerlaptop auf dem Schreibtisch kurzerhand in Svenssons Richtung. Lukas warf einen kurzen Blick auf die beiden, zur Diashow zusammengestellten Bilder, denen sich versehentlich auch eine Fotografie von Charles Wannabe - in stolzer Pose vor einer Yacht namens "Giovanni" stehend - zugesellt hatte. Lukas mußte unweigerlich schmunzeln, was auch Claudia letztendlich nicht entging. Erstaunt drehte sie den Laptop wieder zu sich um und errötete ein wenig, wozu sie stammelte: "Das ... also das ... ich weiß gar nicht, wie das jetzt ... das gehört doch gar nicht ... zu dem Fall dazu ... Entschuldigen Sie bitte, Sir! ... Herrje, ist mir das jetzt aber peinlich!". Svensson unterbrach ihr Stottern mit einem milden: "Das muß Ihnen nicht peinlich sein, Claudia! Daß Sie und den guten Charles mehr verbindet als nur eine rein geschäftliche Arbeitgeber-Arbeitnehmerin-Beziehung, war ohnehin längst ziemlich offensichtlich. Zudem glaube ich, Sie haben einen recht guten Einfluß auf ihn, was mir doch im Grunde genommen nur recht sein kann. Und außerdem ist ihrer beider Privatleben ja auch ganz allein ihre Sache. Was nun den Fall angeht, so haben wir, wenn ich Sie richtig verstanden habe, momentan zwei heiße Spuren - und die heißen Alfred Robber und Leon Ardo. Hat sich Charles denn schon zurückgemeldet nach seinem Besuch bei Mister Ardo?!". Claudia schüttelte den Kopf: "Nein, noch nicht! Und erreichen kann ich ihn im Moment auch nicht. Hab's grad eben versucht, aber ich bekomme immer gleich die Mailbox, so als ob sein Handy aus ist oder er wieder in einem Funkloch steckt". Lukas Svensson überlegte kurz, wobei er sich mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam übers glattrasierte Kinn strich, dann sprach er: "Also gut, dann gehen wir zwei Hübschen jetzt zusammen noch einmal den einzelnen Spuren nach. Lassen Sie uns bei diesem Herrn Ardo beginnen! Vielleicht treffen wir da ja auch Ihren oder vielmehr unseren lieben Charles an!". Noch einmal erröteten Claudias Wangen, dann aber war sie bereits mit einem einzigen Satz am Garderobenständer, von dem sie in aller Eile noch ihre Lederjacke angelte, um dann mit Lukas Svensson gemeinsam das Büro zu verlassen und über Treppe und Hausflur nach draußen zu treten, wo Beide sogleich in Claudias Wagen einstiegen und mit ihm im Eiltempo um die Ecke davonbrausten.

Um die entgegengesetzt gelegene Ecke des Hauses kam nur eine Sekunde später der Pferdeschlitten mit Charles Wannabe und seinem kleinen Streunerfreund gebogen, und machte nach einem langgezogenen "Brrrr!" aus dem Munde des Privatermittlers direkt vor dem Hauseingang der Baker Street 221B Halt. Charles hüpfte, immer noch ganz in textilumhüllte Watte gepackt, vom Kutschbock und hob dann auch seinen schwanzwedelnden Fahrgast von der Ladefläche, wobei er ihm mit einem Leuchten in den Augen verkündete: "Wir sind da! Gleich gibts für meinen kleinen vierbeinigen Stadtstreicher ein leckeres Schüsselchen mit Wasser und für den Onkel Charlie hoffentlich einen guten edlen Schluck Whiskey". Und mit einem verschmitzten Augenzwinkern ergänzte er: "Ich hab da oben nämlich noch heimlich einen alten Flachmann gebunkert, mußt Du wissen! Und ich mein damit zur Abwechslung mal nicht den guten alten Lukas Svensson, meinen treuen Weggefährten und Partner". Er setzte den hechelnden Kläffer wieder auf dem Boden ab und eilte mit ihm in freudiger Erwartung die Stufen zum Eingang hinauf, worauf er den Klingelknopf unterhalb des goldenen Türschilds mit der Aufschrift "Wannabe Svensson" betätigte. Zu seiner Verwunderung rührte sich nichts. Kein Summen des Türöffners, keine Nachfrage über die Wechselsprechanlage, kein sich oben weitöffnendes Fenster. Etwas angesäuert knurrte Charles, in fast der gleichen Tonlage wie das zitternde, kleine Wollknäul zu seinen Füßen: "Da hast Du es, Pauli! Von wegen: 'Wenn sich Dir eine Tür verschließt, öffnet sich Dir dafür ein Fenster!'. Rein gar nichts öffnet sich hier! So ein Mist!". Wütend klopfte Charles mit der - sich zur Faust ballenden - kalten Hand gegen das Holz der Haustür. Erst nur einmal, mehr aus Versehen, dann noch zwei weitere Male mit Absicht und voller Wucht - einem Gefühl ohnmächtiger Verzweiflung nachgebend. Da war plötzlich engelsgleich hinter der Tür ein leises Stimmchen zu hören, dessen fast unverständliches Nuscheln einem Wunder gleich an Charles' Ohr drang: "Was ist denn das für ein Lärm da draußen? Kann man hier nicht mal in Ruhe pennen? Moment mal, ich komm ja schon! Bin schon unterwegs!". Ein immer näherkommendes Schlurfen war innen zu vernehmen, dann wurde knarrend die Tür aufgerissen, und ein verschlafener Mann, dessen äußere Erscheinung geradezu wie das Spiegelbild der von Charles Wannabe anmutete, stand mit weit aufgerissenen Augen da, und stammelte entsetzt: "Oh, Sie, Sir! ... Verzeihung! Ich ... Ich geh gleich! ... Bin schon weg! ... Tut mir leid ... Unendlich leid, Sir!". Mit ernster Miene packte Charles Wannabe den schmuddlig gekleideten Straßenmusiker am speckigen Kragen und knurrte: "So, Ihnen tut das also leid! Und Sie glauben allen Ernstes, damit sei es schon getan?! Damit ist die Sache hier erledigt, wie?! Nein, mein Lieber, so nicht! Die Sache ist noch lang nicht erledigt! Nicht für mich!".

Plötzlich umspielte ein Schmunzeln Wannabes Gesicht, und er ergänzte: "Ich habe mich nämlich in aller Form zu entschuldigen! Und zwar bei Ihnen, mein lieber Mann. Was war ich vorhin nur für ein unsensibler Armleuchter! Renne Sie einfach über den Haufen und belle sie dann auch noch an, statt Ihnen aufzuhelfen und Ihnen einen warmen Platz für die Nacht anzubieten. Ich hoffe inständig, Sie nehmen meine Bitte um Verzeihung an und geben einem arroganten Lackaffen wie mir noch eine zweite Chance, vielleicht bei einem schönen heißen Kaffee?!". Dazu zog er das Restgeld aus der Tasche seiner Wattejacke hervor und übergab es dem staunenden Saxi. Dann pfiff Charles Wannabe seinen Hundefreund zu sich und schloß hinter ihm die Haustür wieder, so daß weder die Kälte herein noch die eh schon recht spärlich vorhandene Wärme hinaus strömen konnte. Sogleich streckte er dem Saxophonisten die Hand zur Versöhnung entgegen und verkündete: "Ich heiße übrigens Charles, mein Freund!". Zögernd ergriff der Musiker die Hand des plötzlich so veränderten Fremden und erwiderte: "Sehr angenehm, kannst mich Saxi nennen, Charles!". Wannabe nickte, während Saxi sich zum Getränkeautomaten an der Wand hin umdrehte und das Pfundstück des überreichten Kleingeldes in zwei Becher extraheißen Kaffee investierte. Die restlichen 94 Pence reichten laut der am Automaten angebrachten Preisliste gerade noch für einen Doppelpack eines karamelgefüllten, schokoumhüllten Keksriegels. Fragend schaute Saxi auf den hinter ihm stehenden Wannabe, der aber nickte eifrig: "Au fein, diesen Raider hab ich schon als Kind immer gern gemocht!". Saxi drückte sofort den entsprechenden Knopf am Automaten, worauf der folienverpackte Doppelriegel in dessen Schacht plumpste. Der Saxophonist entzog dem Automatenzugang die eingepackte Süßware, entledigte sie kurzerhand ihrer glänzenden Hülle, und reichte einen der beiden entnommenen Riegel an den Ex-Yard-Chef weiter, wozu er meinte: "Der heißt inzwischen zwar längst Twix, aber am Geschmack ändert das nix!". Genüßlich biß der nordirische Straßenmusiker daraufhin in seinen Riegel, Wannabe aber stellte seinen dampfenden Kaffee auf der Bank neben dem Automaten ab und legte seinen Schokoriegel quer darüber. Dann faltete er für einen Augenblick andächtig die Hände ineinander und ließ seinen Blick nach oben schweifen, wozu er raunte: "Gott sei Dank für Speis' und Trank! Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was Du uns bescheret hast! Amen!". Den Bissen in seinem Mund rasch herunterschlingend, stimmte Saxi in das "Amen!" ein und biß dann nur umso lustvoller noch einmal in den verbliebenen Rest seines Riegels. Charles wollte es ihm gerade gleichtun, als etwas an seinem linken Schienbein scharrte. Ein leises Winseln war zu vernehmen, worauf sich Wannabe sogleich zu seinem aufgeregten Hundefreund hinunterbeugte und sprach: "Meine Güte, wie konnte ich Dich nur vergessen, Du Strolch! Klar bekommst Du auch was!". Mit diesen Worten zerbrach er seinen Keksriegel in ein kleineres und ein größeres Stück, besah sich beide kurz und hielt dann das größere der beiden dem Hundchen hin, wozu er freudestrahlend ausrief: "Ja, ihr habt tatsächlich alle recht, Mum, Lukas, Claudia, Pauli, Diane! Geben ist seliger denn nahmen, und Weihnachten ist stets das, was man von Herzen gibt, nicht das, was man bekommt!". Er streichelte dem kleinen, verbissen an seinem Riegel knabbernden Tier über den zerzausten Pelz und biß mit einer Träne im Auge in das ihm übriggebliebene Stück Keksriegel, dessen köstliches Aroma er sich in aller Ruhe auf der Zunge zergehen ließ.

Im 20. Stock des Yard ging es derweil weitaus weniger genüßlich und andächtig zu. Jeffrey Douglas hatte in aller Eile den derzeitigen Leiter der Mordkommission, John Wayne Powerich, als Einsatzleiter für die von ihm soeben ins Leben gerufene Geheimaktion "Stopping A Bomb" auserkoren, den er nun im großen Konferenzraum gemeinsam mit den weiteren, allesamt von ihm höchstpersönlich handverlesenen Beamten des Yard in aller Eile über den bisherigen Erkenntnisstand und die exakte Vorgehensweise briefte. Am Ende der detaillierten Ausführungen von Sir Douglas erhob Inspektor Powerich die Hand und fragte überrascht: "Sir, haben Sie da bei Ihrer Planung nicht noch etwas vergessen?". Douglas schaute ihn überrascht an: "Keine Ahnung, was Sie meinen!". Powerich aber erhob sich von seinem Platz, beugte seinen Oberkörper leicht nach vorn und stützte sich mit den Handinnenflächen auf der gläsernen Platte des ovalen Konferenztisches ab, wozu er anmerkte: "Ich meine die Antiterroreinheit CI7 und ihren momentanen Chef, diesen Amerikaner Jack ...". Douglas winkte müde ab: "Was hat denn der Ami mit unserem Einsatz hier zu tun? Wir vom Yard sind ja wohl noch allemal manns genug, um die Sache hier allein durchzuziehen, oder, meine Herren?!". Zögerlich begannen einige der versammelten Köpfe zu nicken, unter dem prüfenden Blick ihres Chefs wurden es schließlich immer mehr und zuletzt waren es alle außer das halbkahle Haupt John Wayne Powerichs. Der erklärte unbeeindruckt: "Sir, das verstößt gegen jede Regelung bezüglich der Verantwortlichkeiten. Hier geht es eindeutig um einen Akt von internationalem Terrorismus! Und da ist nunmal der CI7 zuständig. Außerdem sollte auch Ihnen bekannt sein, daß jener Ami - wie sie ihn abschätzig zu nennen pflegen - in seiner aktiven Dienstzeit bei einer der erfolgreichsten Antiterroreinheiten in L.A. innerhalb von weniger als 24 Stunden einen ganz ähnlichen Fall zum Abschluß gebracht hat. Dabei ist es zu einem großen Teil seinem mutigen Handeln zu verdanken, daß die Bedrohung durch die Bombe seinerzeit aufgrund einer kontrollierten Explosion selbiger über unbewohntem Wüstengebiet nahezu komplett ohne Auswirkungen für die Bevölkerung von Los Angeles und Umgebung blieb". Erzürnt schlug Jeffrey Douglas mit der Faust auf den Glastisch, wozu er hysterisch losbrüllte: "Schluß jetzt, Powerich! Wenn Ihnen hier was nicht paßt, können Sie gern zurücktreten! Und das nicht nur von der Einsatzleitung, sondern gleich auch von Ihrem Posten als Chef der Mordkommission! Also, wie entscheiden Sie sich!". Einen Moment lang war es still im Raum, dann erwiderte John Wayne Powerich: "Also gut, wie Sie meinen! Dann trete ich eben hiermit zurück mit allen Konsequenzen. Das ist mir letztlich immer noch lieber, als am Ende bei einem Scheitern der Aktion möglicherweise die Mitschuld am Tod von Millionen Menschen zu tragen. Einen schönen Abend noch, die Herren! Und möge Gott uns allen beistehen und vergeben, wenn das hier schiefgeht!". Damit löste er seine Handflächen von der Schreibtischplatte und verließ erhobenen Hauptes den Raum, während sich die Zeiger der Wanduhr über der Tür unaufhaltsam auf vier Uhr nachmittags zubewegten und ihm die entrüstete Stimme des cholerisch wirkenden Yardleiters nachrief: "Ich hoffe, Sie wissen, daß Sie trotz Ihres Ausscheidens weiter an die Geheimhaltungsklausel Ihres Arbeitsvertrages gebunden sind, es sei denn, Sie wollen unbedingt Ihr weiteres Leben wegen Landesverrat im Gefängnis verbringen". John Wayne aber lächelte im Hinausgehen nur milde in sich hinein und raunte dabei leise: "Keine Sorge, ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe!" ...

16 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas auf Abwegen, Wannabe kann nur sitzen und warten]

In seinem finsteren Kellerloch hockte Lou Cypher an einem wackligen Campingtisch vor seinem Netbook und hämmmerte eifrig in die Tasten. Er startete das Chatprogramm ICQ und meldete sich in dem eingeblendeten Fenster mit seinem ICQ-Nickname LordDeVil und seinem dazugehörigen Passwort an, worauf ihm der Ton eines Nebelhorns binnen weniger Sekunden verkündete, daß er nun online war. Dabei tauchten auf der linken Seite des Bildschirms in der Liste seiner Kontakte die Nicknames DCALive und PreMount auf, bei denen das ihren Namen und Benutzerbildern vorangestellte grüne Blumensymbol ebenfalls Sende- und Empfangsbereitschaft signalisierte. Und so begab sich Cypher alias LordDeVil mit beiden Kontakten auch unverzüglich in einen regen Nachrichtenaustausch. Er teilte den Zweien dabei mit, daß er inzwischen einen versierten und scheinbar auch recht naiven Nuklearforschungsexperten an der Angel hätte, den er in exakt einer Stunde zu sich holen würde. DCALive und auch PreMount taten im Gegenzug kund, daß dies eine sehr erfreuliche Nachricht sei und damit ihr - vor einigen Monaten gemeinsam ins Leben gerufenes Projekt "Final Countdown" nun sicher planmäßig zügig voranschreiten würde. DCALive ergänzte zudem, daß er inzwischen nach seiner erfolgreichen OP im Ausland über einen kleinen Umweg durch Rußland nach England zurückgekehrt sei und dabei nebenbei auch höchstpersönlich dem reibungslosen Ablauf des Transports, der Verladung und der Verschiffung der erst kürzlich aufgetriebenen - in Einzelteilen verpackten und in den zugehörigen Papieren passenderweise als Feuerwerkzubehör deklarierten - Abschußeinrichtungen für die Atomsprengköpfe in aller Herren Länder beigewohnt habe. PreMount ergänzte, daß er mit der Beschaffung von waffenfähigem Uran 235 mittels Reaktivierung einiger, seiner noch von früher vorhandenen Kontakte in Ostdeutschland auch gut vorangekommen sei. Ein alter, zu Zeiten der DDR noch nicht erschlossener Seitenstollen der früheren Wismut AG zeige brauchbare Vorkommen jenes radioaktiven Uranisotops - ein rascher Abbau sowie die anschließende Aufbereitung und Auslieferung in alle Welt könne somit nun von seiner Seite aus jederzeit sichergestellt werden. Lou Cypher zeigte sich in seiner Antwort sichtlich zufrieden, mahnte aber gleichzeitig noch einmal dazu, jetzt nur nichts zu überstürzen. Der genaue Termin für die weltweite Aktion stünde für ihn von Anfang an sowieso unumstößlich fest, und er würde ihn ihnen nun auch noch im Verlaufe des heutigen Tages kundtun. Man solle vonseiten der beiden Herren allerdings nicht erschrecken, wenn der Tag X noch in so weiter Ferne erschiene. Erstens nähme das unauffällige Heranschaffen, das Zusammensetzen und Ausrichten der Raketen in den vielen, weltweit eigens dafür angemieteten Lagerhallen sicher einige Monate an Vorbereitung und Absicherung nach außen in Anspruch. Zum zweiten wäre man auch gezwungen abzuwarten, bis sich jener Staub, den der dreiste Diebstahl der russischen Trägerraketen überall aufgewirbelt hatte, wieder legte. Und drittens schließlich käme ja, so ließ es Cypher anklingen, ein wenig mehr Zeit seinen beiden Partnern sicher auch ganz gelegen, da sie - wie sie bereits zuvor mehrmals äußerten - jeder für sich in London auch noch ein paar alte, persönliche Rechnungen zu begleichen hätten. Am Ende zähle bei einem so groß angelegten Unternehmen von internationaler Tragweite sowieso nicht das Tempo, sondern allein der garantierte, sozusagen bombensichere Erfolg. Mit diesem Schlußsatz verabschiedete sich Lou Cypher alias LordDeVil von seinen beiden Geschäftspartnern in deren Unterschlüpfen und meldete sich in aller Eile ab, um anschließend wieder zum Hyde Park aufzubrechen, wo ihn seiner festen Überzeugung nach schon Henry Fist mit einer klaren, positiven Entscheidung erwartete.

Tatsächlich war bei Henry Fist alles klar, zumindest soweit es den gefährlichen Plan von Yardchef Jeffrey Douglas betraf. Ein Mitarbeiter, der sich Kuh nannte, hatte dem ehemaligen Forschungsassistenten in der - im Keller befindlichen - Technikabteilung des Yard einen Minifunksender in einen, zuvor mittels eines Bohrers vom Schuhinnern her extra angelegten Hohlraum im Schaft seiner Gummisohle eingebaut. Der Test des davon ausgehenden Signals war zufriedenstellend verlaufen, und so wurde Henry Fist nun von zwei sonnenbebrillten Beamten aus dem Dunstkreis Douglas' nach draußen zum - im Innenhof bereitgestellten - schwarzen Einsatzjeep des Yard geleitet, auf dessen hinterer Sitzbank er platznehmen durfte, links wie auch rechts sofort eingekeilt von je einem seiner beiden Begleiter. Als Fahrer hatte man einmal mehr - den in dieser Funktion bereits vielfach erprobten - George Adams vom Empfang dienstverpflichtet. Der Motor des Wagens lief, man war abfahrbereit und wartete nun nur noch auf Sir Douglas, der nach dem Ausscheiden Powerichs nun kurzerhand selbst die Einsatzleitung übernahm. Es dauerte noch einige Minuten, dann trat durch die Glastür am Yardeingang ein Mann in schwarzer Uniform und Schnürstiefeln, ausgestattet mit schußsicherer Weste und einem Stahlhelm mit Visier sowie Ellenbogen- wie auch Knieprotektoren ins Freie, der schon Sekunden später auf der Beifahrerseite in den Jeep einstieg. Erst als er das getönte Visier seines Helms hochklappte, erkannte man darunter das Gesicht von Jeffrey Douglas, welcher George Adams sichtlich gereizt anwies: "Na los doch! Worauf warten Sie denn noch, Sie Bremsklotz?!". Dank George Adams geschickten Händen kam das Einsatzfahrzeug rasch in die Gänge und fuhr schließlich unter der - von Yusuf noch rasch in Windeseile hochgefahrenen - Schranke hindurch mit quietschenden Reifen vom Hof.

Weniger schnell waren derweil Lukas Svensson und Claudia Palmer unterwegs. Eigentlich bewegten sie sich samt ihrem fahrbaren Untersatz momentan gar nicht im nicht ganz unüblichen Stop-and-Go des vorweihnachtlichen Feierabendverkehrs inmitten der Londoner City. Und während Claudia am Steuer in den recht kurzen Go-Phasen angestrengt auf den Verkehr vor sich zu achten hatte, nutzte sie die deutlich längeren Stop-Phasen immer wieder, um ihren Beifahrer mit einem vorwurfsvollen Blick zu strafen und ihn dann lang und breit darauf hinzuweisen, daß ihr gemeinsames Feststecken ja eigentlich ganz allein seine Schuld sei. Dabei schweifte ihr Blick an seinem Körper hinunter zu jener, von ihm mit beiden Händen fest umklammerten, bunt bebilderten Plastiktüte mit dem silberfarbenen Aufdruck "Holly Day's Xmas Shop". Lukas konnte in diesen Momenten nicht umhin, sich immer wieder wortreich zu entschuldigen, daß er sie quasi zu diesem Umweg durch die überfüllte Innenstadt genötigt hatte, nur um sich für die schöne Bescherung am Heiligen Abend noch rasch ein Weihnachtsmannkostüm zu kaufen. In jener klassischen Verkleidung mit dem roten Mantel, der roten Hose, dem schwarzen Gürtel und dem weißen Rauschebart wollte er dann nach dem abendlichen Besuch des Krippenspiels in Saint Pauls daheim unter dem Tannenbaum - wie in seiner früheren deutschen Heimat üblich - noch seine Kinder, seinen Enkel und seine liebreizende Frau mit ein paar Geschenken beglücken, und hoffte dabei natürlich insgeheim schon darauf, von letzterer anschließend im Gegenzug nach dem Zubettgehen auch noch ein wenig beschenkt und beglückt zu werden. Allein der Gedanke daran schaffte es in Lukas' Augen bereits, die geringen Kostüm-Anschaffungsunkosten von 2 Pfund 41 Pence wieder wettmachen und das mißmutige Gesicht und den nicht ganz so leisen Ärger Claudias noch ein Weilchen über sich ergehen zu lassen, während er gleichzeitig andächtig und erfüllt von weihnachtlicher Vorfreude dem Hupkonzert der gestreßten Autofahrer rund um sich herum lauschte.

Geradezu still hingegen war es im Vorzimmer zum Chefbüro des Yard, jetzt wo der Chef selbst ausgeflogen war und sich die Fernüberwachung der von ihm ins Leben gerufenen Geheimaktion zum größten Teil komplett in der Technikabteilung im Keller abspielte. Sabrina Meltstone war in das Lesen des soeben im ganzen Hause verbreiteten Memos mit der Nummer 24/1/1972 vertieft, in dem die gesamte Mitarbeiterschaft von Jeffrey Douglas persönlich nochmals unter Strafadrohung eindringlich darauf hingewiesen wurde, daß man über firmeninterne Abläufe unbedingtes Stillschweigen gegenüber jedermann - auch gegenüber anderen Regierungsbehörden des Empire - zu wahren habe. "Die Unterrichtung Dritter über innerbetriebliche Interna unterliegt ausschließlich dem amtierenden Leiter von New Scotland Yard", endete das Schreiben des selbigen schließlich kurz und knapp. Ein paar kleine Sorgenfalten auf der Stirn verunstalteten das sonst so glatte, makellose Gesicht der bezaubernden jungen Frau, die sich fragte, warum die anderen und sie extra noch einmal über etwas belehrt wurden, was sie doch alle schon in ihrem Arbeitsvertrag unter Punkt 24/8 mitunterschrieben hatten. Im selben Moment klopfte es an der Tür ihres Büros - erst zaghaft, dann fester. Jäh aus ihrer Gedankenwelt aufgeschreckt, stammelte die Chefsekretärin ein unsicheres: "Äh ja, bitte!", worauf die Tür weit aufgestoßen wurde und unter leisem Surren ein elektrischer Rollstuhl auf sie zurollte. Hinter einem großen Strauß roter Rosen aber lugte, schüchtern lächelnd, das Gesicht Tim Hackermans hervor. Sabrina Meltstone versuchte, die augenblicklich in ihr aufkommende Aufgeregtheit in einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck umzuwandeln, was ihr auf den ersten Blick auch ganz gut gelang. Dazu fragte sie ganz beiläufig und recht barsch, mit starrem Blick auf den Computermonitor Timmys achso süßen Kulleraugen erfolgreich ausweichend: "Was willst Du hier? Mir noch einmal sagen, daß es endgültig aus ist, daß Du mich nicht liebst und auch nie wirklich geliebt hast? Mich noch einmal demütigen und zum Heulen bringen? Das kannst Du Dir sparen, ebenso wie Dein welkes Gemüse da zum Trösten meiner tiefverletzten Seele. Ich glaube, es ist besser, wenn Du wieder kehrt machst und verschwindest! Ich hab hier nämlich zu arbeiten!". Timmy aber dachte gar nicht an Umkehr. Er legte seine Rosen auf dem Schreibtisch ab, und griff dann nach Sabrinas zartem, leicht zitternden Händchen, welches er mit beiden Händen fest umschloß, zu sich heranzog und schließlich auf seiner linken Brust in Höhe des Herzens wieder ablegte. Dazu sprach er mit leiser, zdünner Stimme: "Sabrina, Liebes! Du hast allen Grund, sauer auf mich zu sein! Ich war ein Esel! Daß ich Dich so brutal von mir weggestoßen hab, geschah dabei keineswegs, weil ich Dich nicht liebe. Ganz im Gegenteil: Ich hab es getan, weil ich Dich mehr liebe als alles andere auf der Welt! Ich wollte doch nur nicht, daß Du an der Seite eines Krüppels unglücklich wirst. Ich glaubte eben, ohne meinen Unterleib sei ich kein richtiger Mann mehr und könne Dir nicht die Liebe und Leidenschaft bieten, wie ein so traumhaft schönes Wesen wie Du sie erwartet und verdient. Es bedurfte erst der recht eindringlichen Worte eines alten Freudes und einer schlaflosen Nacht, bis ich einsah, was für ein Blödsinn das Ganze doch war. Wenn man sich wirklich liebt, dann spielen die Schwächen und Handicaps des anderen doch gar keine Rolle. Ich würde Dich doch schließlich auch kein bißchen weniger lieben, wenn Du eine Hakennase, einen Damenbart oder X-Beine hättest. Und darum bitte ich Dich heute und hier auch von ganzem Herzen um eine zweite Chance für uns! Kannst Du einem dummen, ängstlichen Trottel wie mir noch einmal verzeihen?!". Und als Sabrina daraufhin auch weiter nur schweigend den Monitor anstarrte, ergänzte er: "Also, wenn Du möchtest, dann knie ich mich sogar noch zu Deinen Füßen nieder und küsse Dir die bestrumpften Waden?! Es braucht dann am Ende nur zwei kräftige Männer, die meinen schwachen Körper mit seinem oftmals nicht minder schwachen Geist wieder in den Rolli zurücksetzen". Sabrina schaute mit einem Schmollmund zu ihm herüber. Oh Gott, wie süß sie doch auch dann noch war, wenn sie schmollte?! Ihr zartes Stimmchen aber knurrte leise: "Daß Du Dich ja unterstehst, mir hier wie ein sabbernder Hund die Beine abzuschlecken. Das kannst Du machen, wenn wir wieder zuhause sind und ich Dir geistesschwachem Jungen mal ordentlich den gelähmten Hintern versohlt hab. Also sowas Bescheuertes! Zu glauben, Du wärst ohne intakten Unterleib für mich weniger wert! Das kann auch nur einem Kindskopf wie Dir einfallen! Hast echt Glück, das ich bis dato innerhalb der britischen Singlemännerwelt noch keinen brauchbaren Ersatz für Dich gefunden hab! Und darum nehm ich Dich auch fürs Erste nochmal zurück!". Und ihm zublinzelnd ergänzte sie: "Aber nur, weil Weihnachten ins Haus steht und es in meinem Bettchen daheim allein so schrecklich kalt ist, und auch nur, bis ich was Besseres finde! Und jetzt komm endlich rübergesaust und küß mich, Du süßer Trottel!". Mit strahlenden Augen setzte Tim seinen Rollstuhl in Bewegung und begab sich um dem Schreibtisch herum an Sabrinas linke Seite, von wo aus er den - sich ihm wie in Zeitlupe mitsamt dem ganzen Rest ihres liebreizenden Gesichts zuwendenden - rotgeschminkten Lippen Sabrinas sogleich einen langen, innigen Kuß aufdrückte.

Ähnlich, wenn auch doch nicht ganz so nahe war man sich auch im Hausflur der Baker Street 221B gekommen, wo Saxi und Charles Wannabe nach dem gemeinsam eingenommenen, kargen Mahl dicht nebeneinander auf der Bank sitzend ein wenig ausruhten, während Wannabes Hundefreund - von seinem neuen Herrchen aus Ermangelung einer noch besseren Idee soeben auf den Namen Vierbein getauft - ganz aufgeregt zwischen den Füßen der Männer hin und her lief. Saxi hielt unterdess Charles gerade eben jene Anzugjacke entgegen, die er vorhin beim unsanften Weckruf des Exkriminalisten über seinem schlafenden Körper ausgebreitet vorgefunden hatte, und blickte ihn dazu fragend an. Charles Wannabe aber nickte eifrig und sprach: "Die stammt eindeutig von meinem Partner Lukas. Lukas Svensson, ein wahrer Menschenfreund und ein echter Pfundskerl". Und augenzwinkernd ergänzte er rasch: "Ok, eigentlich schon mehr ein Zwei-Zentner-Kerl. Und was seine Klamotten angeht, hat er echt keinerlei Geschmack. Wie kann man sich nur so ein minderwertig genähtes Teil von einem No-Name-Anbieter andrehen lassen. Vermutlich hat er es mal wieder billig für weniger als 20 Pfund auf irgendeinem Grabbeltisch gefunden". Saxis Blick musterte Wannabes wie auch seine eigene Erscheinung nach dieser abschätzigen Bemerkung mehrfach von oben bis unten. Als Wannabe das registrierte, wurde er sogleich ein wenig verlegen, und ergänzte schließlich kleinlaut: "Ja gut, so schlecht ist die Verarbeitung bei dem Anzugstoff ja dann nun auch wieder nicht ... Also schön, die Jacke ist tausendmal besser als beispielsweise mein schmuddliger Wattepelz hier. Und was nützt einem auch schon der edelste Zwirn, wenn er von oben bis unten völlig verdreckt mit einem riesigen Loch in Höhe des Hosenbodens daherkommt". Saxi nickte schmunzelnd: "Ganz genau! Man sagt zwar immer: Kleider machen Leute. Aber auch der nobelste Stoff der Welt vermag aus einem unausstehlichen Fiesling noch lange keinen guten Menschen zu machen. Das kann nur menschliche Nächstenliebe, wie sie einem geläuterten Herzen entspringt - so einem wie dem Deinem, Charles!". Wannabe war sichtlich gerührt und bekannte schniefend: "Das hast Du aber schön gesagt, mein Freund". Dabei zog er seine Knie ein wenig an, wodurch seine Füße unter der Bank gegen den Holzkasten mit dem Saxophon stießen und dadurch ein dumpfer Knall erzeugt wurde. Mit einem Ausdruck des Bedauerns schaute Wannabe zu dem Musiker an seiner Seite herüber. Der aber lächelte nur: "Keine Sorge, der Kasten hat schon ganz andere Erschütterungen ziemlich schadlos überstanden! Du ahnst ja gar nicht, aus wieviel schäbigen Kaschemmen ich in meinem Leben schon rausgeflogen bin, weil man mir nach einer durchspielten Nacht die vereinbarte Gage nicht zahlen wollte. Dabei ist mein kunstvolles Spiel auf dem Saxophon gewiß jeden einzelnen Penny wert. Soll ich Dir mal was vorspielen?!". Charles nickte eifrig. Und so holte Saxi sein Instrument aus dem hölzernen Kasten unter der Bank hervor, machte kurz ein paar seiner Entspannungsübungen für die Lippen und begann dann voller Inbrunst, die Melodie von Dionne Warwicks "That's What Friends Are For" zu intonieren. Charles Wannabe aber lauschte sichtlich berührt dem famosen Spiel des begabten Nordiren. Nachdem schließlich der letzte Ton verklungen war, und sich der Saxophonist vor seinem Ein-Mann-Publikum verneigte, klatschten Charles' Hände geradezu wie von selbst sekundenlang Beifall. Dabei seufzte der Ex-Yard-Chef und verkündete: "Sehr schön! So schön möchte ich das auch können. Aber mir wurde schon in Kindheitstagen die Freude am Spielen eines Instruments für immer genommen, als der von meinem Vater engagierte Hauslehrer mich jahrelang zwang, Blockflöte zu spielen. Nie wieder habe ich danach irgendein Instrument angerührt, was ich heutezutage zutiefst bedaure". Saxi nickte mit einem Ausdruck tiefen Mitgefühls: "Ja, aus Zwang heraus kann eben keine brennende Leidenschaft entstehen. Und die braucht es nunmal, wenn man ein Instrument so gekonnt beherrschen will, daß man andere damit tief in ihrer Seele zu berühren vermag". Jetzt war es Charles Wannabe, der nickte. Saxi aber streckte ihm sein Saxophon entgegen und sprach: "Also, wenn Du willst, dann bring ich Dir gern mal bei, wie man aus dem Teil die Töne rausbekommt". Wannabes Gesicht aber überkam sogleich ein freudiges Strahlen: "Das würdest Du wirklich tun für mich?! Ok, da sag ich nicht nein!".

Zum Neinsagen war es nun auch für Henry Fist endgültig zu spät. Die neonrote Digitaluhranzeige am Amaturenbrett vor ihm im Wagen raste geradezu auf das gefürchtete 17:00:00 zu. Durch die Windschutzscheibe des, am Rande einer Straße zum Stehen gekommenen Jeeps konnte er vor sich in gut 200 Metern Entfernung schon den Eingang zum Hyde Park erblicken, während sich neben ihm eine der Autotüren öffnete. Der dort sitzende Beamte sprang sogleich wie auf Kommando heraus und hielt sodann die Tür sperrangelweit auf. Jeffrey Douglas aber drehte sich zu Henry Fist um und raunte: "Also, alles bleibt wie besprochen! Sie verhalten sich gegenüber diesem Mister Cypher so unauffällig wie nur möglich und tun alles, was er sagt. Wir bleiben Ihnen auf den Fersen und schnappen zu, sobald wir es für richtig halten. Versaun Sie uns das bloß nicht mit Ihrer absurden, kindischen Angst! Sonst platzt unser Deal, und ich kann rein gar nichts mehr für Sie tun! Und dann heißt es unweigerlich: Aufwiedersehen große Freiheit, willkommen Zelle Nummer 7!". Henry Fist nickte mit gesenktem Haupt. Dann stieß ihn der zweite Beamte zu seiner Rechten auf Douglas' Zeichen hin derart unsanft aus dem Auto hinaus auf den Gehsteig, daß er dort fast zu Boden gegangen wäre. Nur mit Mühe gelang es Fist, sich doch noch rechtzeitig abzufangen, worauf er sofort, wenn auch etwas angeschlagen in Richtung Hyde Park davontaumelte. Jeffrey Douglas schaute abwechselnd auf den vor ihm Weglaufenden und die Anzeige des mitgeführten PDA in seiner Hand, auf dem ein blinkender grüner Punkt jeweils die aktuelle Position Henry Fists anzeigte. George Adams, der der ganzen Aktion von Anfang an mit eher gemischten Gefühlen beiwohnte, räusperte sich kurz und raunte dann: "Sir, ich wollte ja vor dem Mann da nichts sagen, aber nun kann ich doch nicht mehr umhin anzumerken, daß ich die geplante Verfolgung bei dieser Witterung und den um diese Zeit mit ziemlicher Sicherheit komplett verstopften Straßen in der Innenstadt schier für unmöglich und deshalb für den reinsten Wahnsinn halte. Wir spielen hier sozusagen mit dem Leben eines unschuldigen Mannes ...". Weiter kam Gelegenheitschauffeur Adams nicht mit seinen Bedenken, denn von der Beifahrerseite her brüllte es ihm schon entgegen: "Schnauze, Mensch! Ich hab Sie hier zum Fahren angestellt und nicht zum Quatschen! Also tun Sie gefälligst auch, wofür man Sie bezahlt und bringen uns samt dem Auto jetzt erstmal ein wenig außer Sichtweite".

Deutlich respektvoller und auf höherem Niveau, wenn auch teilweise kaum weniger kontrovers, war indes die Unterhaltung von Claudia Palmer und Lukas Svensson verlaufen, die immer wieder um die Thematik vom Sinn oder Unsinn des Umwegs zu jenem Ziel in der Hyde Park Street Nummer 24 - welches sie in ihrem Wagen in diesem Augenblick erreichten - kreiste. Und während Claudia erst das Auto am Straßenrand und dann den Motor abstellte, bat Lukas sie inständig um die Beilegung jener leidigen Diskussion. Es sei, so meinte er, nunmal geschehen und man könne daran nichts mehr ändern. Beim nächsten Mal aber wäre man halt schlauer, sofern es denn für sie Beide als Team überhaupt noch ein nächstes Mal gäbe. Claudia zeigte sich einverstanden mit dieser Lösung, und so verließ man gemeinsam kurzerhand das abgestellte Auto, worauf Fräulein Palmer sogleich schnurstracks auf die Eingangspforte zu Leon Ardos Anwesen zuging, während Lukas auf halber Strecke urplötzlich wie angewurzelt stehenblieb und - durch den sachte herabrieselnden Schnee hindurch - einem, in dieser Sekunde ganz langsam in eine Seitengasse einlenkenden schwarzen Jeep nachsah. Der Exinspektor rieb sich ungläubig die Augen und äußerte dabei recht laut, wenn auch mehr zu sich selbst: "Das war doch eins von unseren Einsatzfahrzeugen, oder?!". Claudia machte auf der Stelle kehrt, begab sich raschen Schrittes zu Lukas Svensson zurück und folgte dessen, in die Ferne schweifendem Blick. Von einem Fahrzeug war da weit und breit nichts zu sehen, weder von einem des Yard noch von sonst irgendeinem. Nur eine einsame, schwarze Katze passierte gerade von links nach rechts die Straße. Und kopfschüttelnd meinte sie schließlich: "Ist vielleicht doch mal langsam Zeit für eine Brille, oder, Mister Svensson, Sir?!". Schulterzuckend schaute Lukas sie an und folgte ihr dann bedächtigen Schrittes zum Eingangstor der Kunstsammlervilla ...

17 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas' Ermittlungen kommen langsam ins Rollen, Wannabe packt der Abschiedsblues]

Auf dem schneebedeckten Weg am Eingang des Hydeparks - vor Kälte und Angst gleichermaßen zitternd - wartete Henry Fist auf die Ankunft jener schwarzen Limosine, die schon wenige Sekunden später direkt neben ihm am Straßenrand hielt. Auf der Beifahrerseite wurde unter lautem Quietschen von Hand die Scheibe heruntergekurbelt, worauf Lou Cypher sogleich seine grinsende Fratze herussteckte und dazu leise zischte: "Na kommen Sie schon näher, Henry, mein Freund! Sagen Sie mir nur rasch ins Ohr, wie Sie sich entschieden haben!". Zögernd trat Henry Fist dichter an das Auto heran, das in seinen furchterfüllten Augen dieses Mal nur noch mehr wie ein Leichenwagen auszusehen schien. Dann beugte er sich langsam zum Ohr Cyphers herunter und raunte nervös: "Meine Antwort lautet: Ja! Ja, ich tu's! Mister Cypher, ich bin Ihr Mann!". Cypher nickte zufrieden: "Wußt ich es doch! So ein großartiges Angebot wie das meine kann man einfach nicht abschlagen. Das Paket, das ich Ihnen da anbiete, beinhaltet schließlich ja auch gleich drei Dinge auf einmal: Geld, Macht und vor allem Rache. Süße, gnadenlos grausame Rache an der gesamten widerlichen Menschensippschaft! Mit einem Schlag Millionen Leben einfach per Knopfdruck auslöschen - effektiv und sauber zugleich - das ist doch eine wahrhaft unwiderstehliche Versuchung. Wer kann dazu schon nein sagen?!". Der Blick Lou Cyphers verklärte sich bei diesen Worten, um am Ende schoß seine lange, klebrige Zunge pfeilschnell aus seinem Mund hervor und bohrte tief mit ihrer mittig gespaltenen Spitze sichtlich erregt tief in Fists ihm in diesem Augenblick zugewandtes Ohr hinein - geradezu so tief, als wolle sie über diesen Zugang direkt bis in sein Hirn vorstoßen. Entsetzt und angewidert entzog Henry Fist sein Ohr und seinen ganzen Kopf schlagartig diesem unerwarteten Übergriff und bemerkte dabei das grünliche Funkeln in den kühl ins Leere starrenden Augen seines züngelnden Angreifers. Cypher fuhr seine Zunge wieder ein und lachte geradezu dämonisch: "Ach, wie reizend naiv Sie doch sind, mein lieber Mann. Und dabei riechen und schmecken Sie doch so herrlich nach Schweiß und Dreck. Sie ahnen ja gar nicht, was Ihnen da alles entgeht mit ihren kleinbürgerlichen Moralvorstellungen. Nun ja, ich will Sie für den Anfang erst einmal nicht weiter mit meinem freizügigen und ausschweifenden Lebensstil schockieren. Dafür ist später noch genügend Zeit. Jetzt schlüpfen Sie erst einmal hinten bei mir rein, damit wir uns im Anbruch der Dämmerung gemeinsam in aller Ruhe in den nachmittäglichen Verkehr stürzen können". Auf der Beifahrerseite wurde von Cyphers lang ausgestrecktem Arm die hintere Wagentür aufgestoßen, durch die sich Henry Fist äußerst zögerlich ins Wageninnere preßte. Er setzte sich, wobei er seine Hände übereinander gekreuzt auf seinen Schoß legte - eine Geste, die Cypher beim verstohlenen Blick in den Rückspiegel ein leises Zischen entlockte. Der Mann mit dem Hinkefuß startete den Motor und trat mit dem gesunden Fuß das Gaspedal durch, sodaß sich der Wagen mit seinen zwei Insassen ruckartig in Bewegung setzte.
Nicht minder ruckartig entwichen im Hausflur der Baker Street 221B diverse Töne dem Saxophon, an dessen Mundstück Charles Wannabes Lippen klebten, während sich sein Gesicht beim stoßweisen Blasen vor Anstrengung jedes Mal aufs Neue von blaßrosa nach dunkelrot verfärbte. Zugegeben, daß es sich bei der dabei hervorgebrachten Tonfolge um die Melodie des schottischen Klassikers "Auld Lang Syne" handeln sollte, mußte einem vorher schon gesagt werden. Dennoch waren die Fortschritte, die Wannabe machte, für die kurze Zeit seines Übens schon recht beachtlich, weshalb ihm Saxi auch immer wieder mit anerkennendem Nicken seinen Respekt zollte. Und auch Vierbein konnte nicht umhin, sich auf seine Hinterpfoten zu stellen und mit emporgestreckter Hundeschnauze den noch gar nicht aufgegangenen Mond anzuheulen. Ob sich dahinter allerdings nur das verzweilte Winseln um Gnade einer leidgeprüften Hundeseele oder aber ein Zeichen tiefster Bewunderung verbarg, war nicht genau auszumachen. Und doch glaubte der tapfer weiterblasende Charles natürlich felsenfest an das letztere.

Lukas Svensson ahnte derweil nichts von jenen versteckten Talenten seines Partners. Claudia und er waren inzwischen vom Kunstsammler Ardo an dessen Haustür in Empfang genommen und sogleich ins Wohnzimmer gebeten worden, woran wohl der laszive Augenaufschlag und der kurze Rock Claudias nicht ganz unschuldig gewesen sein dürften, wenn man die eindeutigen Blicke des Kunstliebhabers richtig auslegte. Aufgeregt schilderte Ardo seinen zwei Gästen bei einer Tasse Kamillentee das vorherige, unschöne Zusammentreffen mit Wannabe, den er statt bei seinem Namen immer wieder nur einen "ungehobelten Fatzke" nannte. Im Laufe des gemeinsamen Teetrinkens beruhigte sich der löwenmähnige Ardo schließlich zusehends, so daß Lukas die Zeit für gekommen erachtete, ihn nach seinem Interesse an der Paulusfigur zu befragen. Ardo aber schaute Lukas Svensson mit großen Augen an und erklärte schließlich ausschweifend: "Die Figur war ja noch bis vor ein paar Monaten für mich von eher geringem Interesse. Aufmerksam auf sie wurde ich quasi durch einen Zufall, als ich sie neben einem Spendenaufruf im Hintergrund auf einem Zeitungsbild entdeckte. Und so begab ich mich Mitte September eines Samstags in die Kathedrale, die gerade für die anstehende Hochzeit eines deutschstämmigen Briten mit einer russischstämmigen Britin hergerichtet wurde, um mir mit meiner Digicam ein eigenes Bild von der Statue zu machen. Ich näherte mich also ganz leise dem Objekt meiner fotografischen Begierde, als ich direkt davor ein Mädchen im Rollstuhl sitzen sah, das sich mit der Holzfigur unterhielt wie mit einem Menschen. Ich weiß ja auch nicht warum, aber ich blieb wie angewurzelt stehen und lauschte ihrer einseitigen Unterhaltung, bei der sie trotz allem immer wieder so tat, als reagiere sie auf etwas, was die Figur zuvor zu ihr gesagt habe. Später sprach ich die Kleine an und erfuhr, daß sie Lilly heißt und fast täglich in die Kirche geht, um mit dem Paulus zu reden. Er habe so etwas Lebendiges an sich, das würde ihr Vati auch immer sagen. Bei diesen Worten wurde sie mit einem Male sehr traurig und rollte schließlich schluchzend vondannen. Ich hab die Kleine danach zwar nie wiedergesehen, aber die Begegnung mit ihr hat mich tief im Innern berührt. Und immer, wenn ich in der Folge den Paulus besuchte und ablichtete, hatte auch ich das Gefühl, er spräche zu mir. Ja, manchmal sieht es - wenn man die einzelnen Schnappschüsse nebeneinander hält - sogar so aus, als würden sich seine Gesichtszüge und seine Körperhaltung im Laufe der Zeit ganz leicht verändern". Nachdenklich kratzte sich Lukas Svensson am Kopf und notierte mit einem seiner vielen winzigen Bleistiftstummel das Gehörte stichpunktartig auf einem seiner Notizzettel, den er sogleich zusammengeknüllt in seinem Regenmantel verstaute. Er bedankte sich daraufhin bei dem Kunstkenner und wünschte ihm noch einen schönen Tag und ein frohes Weihnachtsfest, worauf er mit Claudia im Schlepptau bedächtigen Schrittes die Villa verließ. Ardo aber sah Beiden aus dem Türrahmen noch lange nach, wobei seine Augen einmal mehr vor allem an den üppigen Rundungen Claudias zu kleben schienen. Erst als sie, in Claudias Wagen davonbrauseend, aus seinem Blickfeld verschwanden, begab sich der immer noch Morgenummantelte wieder in seine noble Behausung zurück.

Auch George Adams wäre in diesem Moment wohl lieber bei sich zuhause gewesen bei all der Mühe, die es ihm machte, in der anbrechenden Dunkelheit auf den heillos überfüllten und glatten Straßen immer weit genug und dennoch auch nicht zu weit hinter jener schwarzen Limosine zurückzubleiben, die auf ihrer rasanten Fahrt kreuz und quer durch halb London fahren zu wollen schien. Hinzu kam das Gezeter und Gebrüll des unausgeglichenen Yardchefs neben ihm, der sichtlich nervös teils sogar innerhalb eines einziges Satzes zwei bis drei widersprüchliche Anweisungen gab. Irgendwann beschloß der erfahrene George dann kurzerhand, seine Ohren einfach auf Durchzug zu stellen, so wie er es auch hin und wieder bei besonders hartnäckigen Zeitgenossen bei sich am Emfang zu tun pflegte. Er schaltete die Scheibenwischer ein, und lauschte dabei der leisen, monotonen Melodie, die sie beim Wegwischen der Schneeflocken von der Windschutzscheibe machten. Gerade wurde wieder eine Flocke vom Fensterglas hinfortgefegt, als mit einem Male in einer engen Gasse unmittelbar vor seinen Augen ein roter Laster wie aus dem Nichts von links aus einer Seitenstraße herausgeprescht kam und ihm damit sogleich auf ganzer Breite den Weg versperrte. George Adams trat mit voller Kraft auf die Bremse, wodurch die Stirn des nicht angeschnallten Sir Douglas unsanft die Bekanntschaft der Windschutzscheibe machte. Georges Hände lösten sich unterdess vom Steuer und schlugen mit ihren Innenflächen wieder und wieder verzweifelt auf die Hupe. Am Laster wurde die Scheibe auf der Fahrerseite heruntergekurbelt und ein untersetzter Herr steckte schulterzuckend den Kopf heraus, wozu seine Lippen ein lauloses "Immer mit der Ruhe!" formten. Diesem Motto folgend machte er sich dann auch ganz gemächlich daran, den Rückwärtsgang einzulegen und dann Zentimeter um Zentimeter nach hinten zurücksetzend die Straße wieder freizugeben. Am Ende dieser mehrminütigen Aktion aber lächelte er freundlich aus seinem Fenster heraus und winkte den Männern im Yardjeep gönnerhaft zu. Nun waren es Georges Lippen, zwischen denen sich zwei lautlose Worte formte, die der geneigte und im Lippenlesen versierte Beobachter des Ganzen leicht als ein "Blödes Arschgesicht!" zu entschlüsseln vermochte. Die schwarze Limosine war dank des zeitraubenden Vorfalls natürlich längst über alle Berge. Und während George ziemlich wütend seinen Kopf wieder und wieder auf den Mittelpunkt seines Lenkrads niedersausen ließ, brüllte es neben ihm: "Sie elender Versager! Zu blöd, um an einem lahmen Oldtimer dranzubleiben, der noch dazu auch von einem ebensolchen gelenkt wird! Wenn wir den jetzt verloren hätten, dann wäre das ganz allein Ihre Schuld!". Georges Gesicht färbte sich tief rot, und an seinem Hals begann die Schlagader sofort wild zuckend hervorzutreten, wozu nun auch er seine Stimme deutlich zur Geltung brachte: "Meine Schuld?! Ich hab Ihnen doch gleich gesagt, daß eine Verfolgungsjagd durch London unter diesen Umständen der reinste Wahnsinn ist! Sie kamen sich doch so unheimlich klug vor und sind mir einfach über den Mund gefahren. Und jetzt ist alles meine Schuld?!". Jeffrey Douglas aber keifte unbeeindruckt zurück: "Ja, genau so sieht es aus, und so wird es auch später in meinem Bericht stehen! Und jetzt halten Sie gefälligst Ihr vorlautes Mundwerk und fahren endlich weiter! Wir haben ja dank meiner weisen Vorausschau schließlich noch den Peilsender, der uns die Richtung vorgibt! Also vorwärts und dann an der nächsten Kreuzung nach links". Am liebsten wäre George Adams jetzt ausgestiegen und gegangen und hätte den Brüllaffen neben sich einfach sitzengelassen, aber das konnte er dem armen Henry Fist nicht antun, der schließlich auf seine Hilfe angewiesen war, wenn er am Ende des Tages nicht in einem Leichensack stecken wollte. Und so kam George dem Befehl seines Vorgesetzten nach und lenkte den Einsatzwagen des Yard nunmehr nach dessen - dem Display seines PDA entnommenen - Vorgaben durchs vorabendliche London.

Das dabei gesuchte schwarze Gefährt raste derweil in unvermindertem Tempo über die Straßen Londons, wobei Lou Cypher am Steuer immer wieder grinsend in den Rückspiegel schaute, wo sein zusammengekauerter Fahrgast nervös auf seinem Platz hin und her rutschte. Schließlich meinte Cypher: "Nun, mein Freund, wo wir jetzt quasi Partner sind, gestatte mir doch, daß ich Dir ein kleines Begrüßungsgeschenk mache. Schau doch einmal hinter Dir auf der Hutablage nach! Ich habe da etwas deponiert. Keine Angst, nur eine Kleinigkeit, nichts Weltbewegendes! Das kommt dann später, viel später! Wenn wir gemeinsam auf der Erde das Licht ausschalten, nicht wahr?!". Eingeschüchtert nickte Henry Fist und drehte dann den Kopf ein wenig nach hinten, wo auf der Ablagefläche hinter der Rücksitzbank tatsächlich ein großer, roter Stoffbeutel lag. Er nahm ihn an sich und öffnete ihn vorsichtig, wobei in seinem Innern ein weinroter Anzug, ein zartrosanes Seidenhemd, ein schwarzes Netzhemd und ein schwarzes Tangahöschen sowie ein paar beigefarbene Lederhalbschuhe zum Vorschein kamen". Von vorn aber zischte es leise: "Na, gefällt's Dir? Passen dürfte alles! Ich hab da nämlich ein Händchen, wenns um die Größe bei einem Mann geht! Probier die Sachen doch gleich mal an! Hier sieht Dich ja schließlich keiner, außer mir!". Henry Fist schüttelte ängstlich den Kopf, aber Cypher ließ nicht locker: "Na, mach schon! Zieh Dich aus! Oder willst Du am Ende gar, daß ich böse werde, Du undankbarer Wurm?!". Wieder schüttelte Fist sein Haupt und begann dann langsam damit, sich auszuziehen. Er legte seine zerschlissenen, schmutzigen Sachen neben sich auf der Sitzbank sorgsam zusammengefaltet übereinander, so daß er binnen weniger Minuten nur noch in Slip und Slippern dasaß. Aus dem Augenwinkel bemerkte er im Rückspiegel den lüsternen Blick Lou Cyphers, der in mit seiner gespaltenen Zunge sogleich antrieb: "Na komm schon, mach weiter! Nur nicht so schüchtern! Ich schau Dir schon nichts weg, Süßer!". Mit hochrotem Kopf und gesenktem Blick entledigte sich Henry Fist nun auch noch seines Schlüpfers und verbarg seine Blöße dabei sogleich umständlich durch das Vorlegen beider übereinander gekreuzter Hände. Cypher wandte seinen Blick für einen Moment lang von ihm ab. Henry Fist aber nutzte diese Gelegenheit, um sich in aller Eile den Tanga und das Netzhemd überzustreifen, was in dem daraufhin zurückkehrenden Blick Lou Cyphers sichtliche Erregung hervorrief. Ungeduldig krächzte der Hinkefuß: "Na los, zieh schon auch noch das Hemd und den Anzug an! Ich möchte schließlich sehen, wie er Dir steht! Und vor allem: Zieh endlich Deine alten Schuhe aus!". Wild begann Henry Fist den Kopf hin und her zu werfen und flehte: "Nein, nicht die Schuhe! Die kann ich nicht ausziehn, die muß ich anbehalten! Wenn ich die verliere, dann bin auch ich verloren ...". Erst jetzt bemerkte Henry Fist, daß er in seiner panischen Angst gerade dabei war, sich um Kopf und Kragen zu reden. Und so zermarterte er sich in aller Eile das Hirn, um eine plausible Erklärung für sein merkwürdiges Verhalten zu erfinden. Schließlich ließ er es auf einen Versuch ankommen und stammelte: "Ja, dann bin ich verloren, also sozusagen. Die Schuhe ... die haben nämlich ... nämlich mal meinem Vater gehört, müssen Sie ... mußt Du wissen. Und der sagte ... also, der sagte immer, Junge ... Junge, die Schuhe darfst Du nie verlieren oder weggeben, sonst ... also, sonst soll Dich der Teufel holen!". An Henry Fists Ohren drang mit einem Male schallendes Gelächter. Und sich mit der rechten Hand den Bauch haltend, prustete Cypher: "Was, das ist alles?! Und davor fürchtest Du Dich noch heute als ausgewachsener Mann. Hat Angst, daß ihn der Teufel holen könnte, wie dämlich! Ok, genug gefaselt: Runter mit den Drecksschuhen! Oder ich werd ganz schnell ungemütlich und zeig Dir gleich mal was, wovor Du wirklich Angst haben kannst!". Henry Fist riß sich zitternd die abgetretenen Schuhe von den Füßen und legte sie dann auf den Kleiderstapel neben sich. Lou Cypher aber betrachtete das Ganze zufrieden und sprach schließlich: "Gut, und jetzt kurbelst Du das Fenster runter und wirfst Deine alten Klamotten hinaus. Na los, wird's bald!". Henry Fist hatte längst aller Mut zum Dagegenhalten verlassen. Er fühlte sich diesem schrecklichen Kerl vor ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und versuchte nur noch, sein nacktes Leben zu retten, indem er alle Anweisungen Cyphers befolgte. Und so kurbelte er die geschwärzte Scheibe an der Hintertür des Wagens herunter und warf alle seine alten Sachen inklusive seiner Schuhe in hohem Bogen aus dem Fenster, wo sie am Straßenrand über mehrere Meter verteilt im Schnee landeten.

Tim Hackerman hatte inzwischen im Chefvozimmer des Yard seine Lippen von denen der wiederversöhnten Sabrina gelöst und schickte sich nun an, die mitgebrachten roten Rosen mit Wasser zu versorgen. Sabrina klebte derweil mit ihren Augen am Bildschirm ihres Computers, wo nun wieder das merkwürdige Memo von vorhin ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Tim, der inzwischen auf der Suche nach einer Vase in alle möglichen Schränke geschaut hatte, wandte sich hilfesuchend an seine Freundin: "Brienchen, wo habt ihr denn hier die Vasen versteckt?". Sabrina aber zog schon wieder einen Schmollmund: "Ich hab Dir schon hundertmal gesagt, Du sollst mich nicht Brienchen nennen und schon gar nicht Sabbel. Ich heiße Sabrina oder meinetwegen auch Gebieterin für Dich und damit basta!". Und schmunzelnd ergänzte sie: "Vasen hab ich hier keine, aber der Alte sammelt so komische olle Biermaßkrüge hinter seinem Ledersessel in den oberen beiden Regalen in seinem Vitrine im Chefbüro. Die sollten vom Umfang her genau das Richtige sein für die Bedürfnisse meines süßen, kleinen Rosenkavaliers. Fahr nur ruhig nach nebenan und hol Dir einen runter!". Timmy war über diesen ungewöhnlichen Vorschlag sichtlich erstaunt: "Aber ich kann doch nicht einfach so ins Büro Deines Chefs und mir ...". Sabrina aber zwinkerte ihm zu: "Doch kannst Du! Der Alte ist eh nicht da und außerdem guckt er die ollen Krüge seit seinem Einzug meist eh nur mit dem Hintern an. Dafür muß ich die blöden Bierbecher einmal im Monat alle abstauben, während er mir dabei von seinem Ledersessel aus ganz genau zuschaut. Na, wo der da hinguckt, kannst Du Dir ja sicher vorstellen! Jedenfalls nicht auf die Bierkrüge!". Tim Hackermann runzelte kurz die Stirn, dann fragte er: "Und wo steckt der Lüstling jetzt! Wo sind denn überhaupt alle abgeblieben? Selbst der Empfang war vorhin bei meinem Eintreffen unbesetzt". Sabrina Meltstone nickte: "Die sind alle auf Außeneinsatz. Irgendsoeine Top-Secret-Aktion mit einem armen Kerl, den uns der Charles Wannabe ins Haus geschleppt hat, als Lockvogel". Timmy verdrehte die Augen: "Hör mir bloß mit diesem Wannabe auf! Wenn Du wüßtest, was der alles so treibt ... Egal, also was ist das jetzt mit diesem Lockvogel?". Die Schulterpolster von Sabrinas Seidenbluse hoben sich leicht, wozu sie erklärte: "Keine Ahnung! Aber irgendwas stimmt da nicht! Kaum war der Mann vernommen, schon wurde er in den Keller zur Technikabteilung verfrachtet. Und der Alte rannte wie angestochen rum, engagierte und feuerte Mister Powerich quasi in einem Abwasch, schnallte sich eine schußsichere Weste um und machte dann selbst einen auf Einsatzleiter, wozu er George vom Empfang abzog und als Chauffeur mitnahm. Ich sag Dir, da läuft wieder irgendsoeine kleine Schweinerei des Alten, von der keiner was wissen soll!". Timmy dachte einen Augenblick lang nach, dann wendete er seinen Rollstuhl und entschwand - Sabrina eine flüchtige Kußhand zuwerfend - durch die Ausgangstür in den menschenleeren Flur des 20.Stocks, wobei er noch rief: "Kümmerst Du Dich bitte um die Blümchen, Brienchen?! Ich versuch mal, bei den Jungs im Keller rauszufinden, was hier abläuft. Wir sehen uns dann heut abend bei mir, ja?!". Sprachs und hatte die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten, mit voller Wucht hinter sich ins Schloß fallen lassen. Die völlig verdutzte, einsam zurückgebliebene Sabrina aber knurrte nur leise vor sich hin: "Typisch Mann! Das Aufräumen bleibt wieder mal an mir hängen, nur weil der Herr was besseres vorhat. Und Brienchen hat er mich auch schon wieder genannt, der Lümmel! Dabei heiße ich Sabrina, ist denn das so schwer?!". Ihr kleiner Fuß in den hochhackigen Lederstiefeln stampfte einmal kräftig auf dem Büroteppich auf, wobei ihr Gesicht gleichzeitig wieder den für sie so typischen Schmollmund machte. Dann aber fiel ihr Blick auf den liegengebliebenen Rosenstrauß auf ihrem Schreibtisch und mit einem verschmitzten Lächeln ergänzte sie: "Aber irgendwie süß ist er ja trotzdem, mein kleiner, schnuckliger Rollerboy Timmy!".

Mit offenstehenden Türen und eingeschaltetem Warnblinklicht parkte derweil am Straßenrand der schwarze Einsatzjeep des Yard, hinter dem sich in einigem Abstand inzwischen eine lange Schlange ähnlicher Jeeps gebildet hatte. George Adams stand wie zur Salzsäule erstarrt neben dem von ihm zuvor gelenkten Auto auf dem schneebedeckten Bürgersteig und schüttelte wie in Trance die ganze Zeit über den Kopf. Dicke Tränen rannen ihm dabei über die Wangen, wozu seine beiden stark geröteten Augen zornig auf den zu seinen Füßen knienden Jeffrey Douglas herabschauten. Dieser aber hielt in seinen Händen einen ausgelatschten Schuh und betrachtete ihn dabei lang und breit von allen Seiten. Dazu hauchte die zittrige Stimme des amtierenden Yardchefs leise: "Warum nur hat er das getan, dieser Penner First? Wenn ihm dieser Cypher jetzt das Licht ausbläßt, dann ist das ganz allein seine Schuld! Eigentlich war die ganze unsinnige Aktion ja eh mehr oder weniger seine Idee und die von diesem Wannabeer. Ich wasche meine Hände da völlig in Unschuld! Alles, was ich jetzt noch tun kann, ist, im Interesse der nationalen Sicherheit und zur Vermeidung einer aufkommenden Massenpanik in der Bevölkerung unverzüglich eine breitangelegte Informationssperre auszurufen über diese Aktion und über alles, was uns dieser First im Rahmen seiner Vernehmung anvertraut hat. Und dann werde ich mich zum Zwecke der Erholung erst einmal auf eine weite Reise begeben - je weiter von hier weg, desto besser.". Damit erhob sich Jeffrey Douglas wieder, und stiefelte mit festem Schritt zielsicher zu seinem Wagen zurück, wo er sogleich auf dem Beifahrersitz platznahm und seinem Fahrer George zurief: "Also los jetzt, zurück zum Yard! Und zwar ein bißchen zügig, wenn ich bitten darf! Oder bekommen Sie das etwa auch nicht hin, Mister Addons". Georges Hände aber ballten sich zu Fäusten, während er auf dem Hacken kehrt machte und dem selbstgefälligen Douglas entgegenschrie: "Ich heiße Adams, Sie Armleuchter! Und ab sofort können Sie Ihren heuchlerischen Hintern allein durch die Gegend fahren. Ich bring Sie jedenfalls nirgends mehr hin, höchstens noch um die Ecke, wenn Sie jetzt nicht endlich Ihre Klappe halten!". Entgeistert starrte ihn Douglas an, dann knallte er wutentbrannt von innen erst die Beifahrertür und dann auch die Fahrertür des Jeeps zu. Schließlich rutschte er auf die Fahrerseite hinüber und startete den Motor. Per Knopfdruck ließ er noch rasch die Fensterscheibe auf der Beifahrerseite herunter und rief George Adams aus dem vorbeifahrenden Wagen heraus zu: "Das wird Ihnen noch sehr leidtun, Sie kleines Licht, Sie! Und übrigens versteht es sich ja wohl von selbst, daß Sie nach dieser verbalen Entgleisung mir gegenüber mit sofortiger Wirkung entlassen sind!" ...

18 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas begegnet Charles, Wannabe trifft auf Svensson]

Lou Cypher hatte inzwischen sein Ziel erreicht, und das gleich im doppelten Sinne. Zum einen war er mit seiner Limosine bei seinem Kellerversteck angelangt, zum anderen hatte er seinen heißbegehrten Atomexperten Henry Fist völlig eingeschüchtert und willenlos hinter sich auf dem Rücksitz hocken. Und so stieg er breitgrinsend aus dem Auto und öffnete seinem Gast die Hintertür, wozu er sprach: "Nur herein, mein Lieber, in die gute Stube. Geh nur vor, Du kennst den Weg ja sicher noch!". Vom Scheitel bis zur Sohle ausgestattet von Lou Cypher entstieg Henry Fist dem Wagen und machte sich auf wackligen Beinen über den Hauseingang und die dahinter befindliche Treppe auf den Weg hinab in den Keller. Er mußte dabei jetzt in der Dunkelheit noch mehr als vorher am Tage auf seine Schritte achten, um nicht ins Stolpern zu geraten und dadurch zu Fall zu kommen. So dauerte es einige Minuten, bis er sich zur Eingangspforte des Kellerlochs vorgetastet hatte, die - der ihm nachgehinkte - Lou Cypher auch sofort aufschloß. Da war er nun also wieder - in der dunklen Höhle jenes Unholds, der im Begriff war, gemeinsam mit ihm und seinen anderen Geschäftspartnern die Erde mitsamt der auf ihr lebenden Menschheit zu vernichten. Cypher schloß die Eingangstür wieder hinter sich ab, wie er es schon beim ersten Besuch Fists getan hatte, nur diesmal machte er vor seinem Gast daraus keinen Hehl mehr. Dann schlich er sich ganz dicht an Henry vorbei und setzte sich sogleich vor sein Netbook, das er in Windeseile hochfahren ließ, um dann direkt das ICQ-Programm zu starten. Der Ton des Nebelhorns verkündete seine Anwesenheit im Netz der unbegrenzten Kommunikation, und rasch gesellten sich ihm über seine Kontaktliste auch wieder PreMount und DCALive hinzu. Die beiden Herren fragten an, wie alles gelaufen wäre, und Cypher teilte ihnen mit, daß der besagte Experte nun zugegen sei. Dazu zerrte er den noch immer wie angewurzelt dastehenden Fist näher zu sich heran, so daß er direkt vor dem Netbook mit der oberhalb des Bildschirms eingebauten Webcam zu stehen kam. Der Hinkefüßige drückte ein paar Tasten, und schon war die bibbernde Gestalt des weinrot gekleideten Fist auch auf dem Bildschirm zu sehen. Vonseiten der beiden Kontakte zeigte man sich sehr beeindruckt über die imposante Erscheinung der fremden Herrn, dem Cypher in diesem Augenblick im Hintergrund - von der Kamera gänzlich unbemerkt - die rauhe Pranke aufs Gesäß packte. Der arme Henry kniff in seiner Angst die Augen wie auch seine Hinterbacken fest zusammen und ließ den ihm unangenehmen Übergriff über sich ergehen, während seine Nase an seinem Peiniger abermals einen leichten Schwefelgeruch wahrzunehmen glaubte. Mit den Fingern seiner freien rechten Hand hämmerte Cypher alias LordDeVil vor Fists zusammengekniffenen Augen noch so einiges an Botschaften und Anweisungen in die Tasten, schließlich auch seine letzte und alles entscheidende Nachricht an seine beiden Komplizen. Und während Henry einmal ganz kurz blinzelte, konnte er erkennen, was dort geschrieben stand: "Den genauen Starttermin unserer Aktion 'Final Countdown' finden Sie hier: 010-120150-006". Krampfhaft versuchte Henry Fist, jene mysteriöse Zahlenkombination am Ende im Innern seines Schädels einzumeißeln, wozu er sie in Dreiergruppen zerlegte ... 010-120-150-006. Wieder und wieder wiederholte er im Geiste diese Zahlengruppen, gerade so, als hänge sein Leben davon ab. Und wenn die Kombination tatsächlich auf den Starttermin des geplanten nuklearen Erstschlags verwies, dann war dem ja auch so - dann hing womöglich nicht nur sein Leben, sondern das der gesamten Menschheit davon ab. Lou Cypher beendete abrupt den Chat, indem er sein Netbook kurzerhand zuklappte, um sich nun wieder ganz seinem unfreiwilligen Gast zu widmen. Mit süßlich verstellter Stimme säuselte er: "Es ist an der Zeit, mit Dir gemeinsam unser Vorgehen ein wenig ausführlicher zu besprechen, wozu wir es uns vielleicht etwas bequemer machen sollten. Ich hab uns vor meiner Abfahrt vorhin noch rasch den Bollerofen angefeuert. Spürst Du, wie warm es hier drinnen schon ist. Geradezu höllisch heiß, nicht wahr?!". Henry Fist spürte nichts, er wollte nichts mehr spüren. Verbissen dachte er an die geheimnisvolle Zahlenkombination. Nur an sie und an nichts anderes mehr. Er nahm dabei nicht wahr, wie Cypher ihn brutal am Arm packte und ihn mit sich in einen der vielen schmalen Nebenräume zu einer, auf dem Boden ausgelegten Matraze schleifte, wie er ihn dort niedersinken ließ und ihn dann langsam Stück um Stück entkleidete, um sich schließlich - ebenfalls aller Hüllen und Hemmungen entledigt - neben ihn zu legen und den herben, angstschweißigen Geruch, der Fists ganzen zitternden Körper überzog, tief in sich aufzunehmen.

Auch Tim Hackerman war mit seinem Rollstuhl inzwischen in einem Keller angelangt, nur daß es hier nicht nach Schwefel roch, sondern nach Arbeit. Emsiges Treiben beherrschte klar erkennbar jenen Kellerraum gegenüber der Personalabteilung, an dessen sperrangelweit aufstehender Tür ein Schild mit der Aufschrift "T01 Technische Abteilung" angebracht war. Ein junger Mann stürmte gerade eben durch jene Tür aufs Treppenhaus zu und hätte dabei fast Timmy mitsamt seinem Rollstuhl über den Haufen gerannt. Einen Moment lang stand der Jüngling in seinem Blaumann wie angewurzelt da, dann aber klatschte er sich mit der rechten Handinnenfläche vor die Stirn und rief: "Na, wenn das nicht der Timmy ist - seinerzeit Jahrgangsbester im St.Matthews College! Womit er nicht nur leistungstechnisch einen gewissen Tom S. Edison in den Schatten stellte, sondern auch all die hübschen Mädels abgriff! Immer dabei, wenn irgendwo was los war! Und stets bis weit nach Mitternacht noch auf den Beinen ...". Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß Tim in einem Rollstuhl vor ihm hockte, und so stammelte er: "Oh, entschuldige! Ich wußte ja nicht ... ich meine ... blöder Spruch ... das mit den Beinen und so!". Verlegen schaute der Blaumannträger zu Boden. Tim aber schlug ihm voller Freude auf die herabhängende Schulter und sprach: "Mensch, Tom! So ein blöder Spruch ist doch noch lange kein Beinbruch! Und der fahrbare Untersatz hier macht mich auch nicht zur bedauernswerten Jammergestalt, sondern eher zum heißen Flitzer. Oder kannst Du etwa mit Deinem Dienstwagen bis direkt ins Büro fahren?!". Tom grinste und antwortete dann - wie es seit der Schulzeit sein Markenzeichen war - mit einem einfachen, extra langgezogenen "Ähhh, nööö!". Nun schmunzelte auch Tim. Und seine Hand der Einfachheit halber auf Toms Schulter belassend, fragte er: "Sag mal, Kumpel, was ist da drin bei Euch eigentlich grad los?!". Tom druckste ein wenig: "Naja, Timmy, eigentlich darf ich darüber nicht reden, wegen der Geheimhaltung, weißt Du?!". Timmy nickte: "Ach ja, die Geheimhaltung! Die gleiche Geheimhaltung, durch die von mir bis heute noch kein Mensch erfahren hat, wer Rita Woolworths Schlüpfer in der achten Klasse gegen den Union Jack auf unserem Schulgebäude ausgetauscht hat?!". Toms Gesicht bekam erst eine blasse, dann eine recht gesunde rote Farbe, wozu er hinter vorgehaltener Hand leise zu flüstern begann: "Ok, das ist so: Sir Douglas hat einem Odachlosen namens Henry Fist einen Peilsender in die Schuhe schieben lassen, um ihm dann zu dem Versteck eines gewissen Lou Cypher zu folgen. Dieser Cypher soll nämlich planen, mittels gezielter gleichzeitiger Nuklearschläge weltweit die gesamte Menschheit auszurotten. Leider ist die ganze Sache schiefgelaufen. Erst verlor der Fahrer von unserm Chef den Wagen mit Cypher und Fist aus den Augen, dann hat Fist den Schuh mit dem Peilsender aus dem fahrenden Auto auf die Straße geworfen - ob freiwillig oder unter Zwang, weiß kein Mensch. Fakt ist: Henry Fist ist spurlos verschwunden, und das Versteck dieses Cypher weiterhin unbekannt. Tja, sieht nicht gut aus für den Alten, zumal er bei der Gefährdungslage den Fall längst hätte an den CI7 abtreten müssen. Wenn das dieser Amerikaner Jack erfährt, der wird den Boß glatt teeren und federn, wenn auch nur die Hälfte von dem wahr ist, was man über den so hört. Bin ja schon mal gespannt, wie dieser aalglatte Hund Douglas sich da wieder rauswinden wird! Der Powerich, der hat ihm jedenfalls vorhin bei der Einsatzbesprechung ordentlich die Meinung gegeigt. Dafür hat ihn Douglas allerdings dann auch gleich achtkantig rausgeschmissen. Und falls Du wissen willst, was ich und die Jungs hier jetzt tun?! Wir suchen praktisch die Nadel im Heuhaufen ... Aber sag mal, willst Du uns nicht ein wenig beim Auswerten der Aufzeichungen der unzähligen Überwachungskameras, die überall auf den Straßen Londons angebracht sind, helfen. Da kommt schließlich jede Menge Arbeit inklusive schlafloser Nächte auf uns alle zu". Timmy aber winkte nur müde ab: "Ne Du, laß mal, ich hab da heute abend schon was Besseres vor!". Und während er seinen Rollstuhl rasch wendete und dann in Richtung Lift davonfuhr, rief ihm sein alter Bekannter noch schmunzelnd nach: "Ich weiß schon, was Du meinst, Du alter Schürzenjäger!". Timmy aber raunte im Angesicht des vor ihm eintreffenden Fahrstuhls leise: "Das glaub ich kaum, daß Du das weißt!".

Alles, was sein alter Freund Lukas Svensson im Moment wußte, war, daß er gleich wieder seinen neuen Lieblingssatz aufsagen würde: "Gestatten, Sherlock Holmes!". Er stand nämlich in dieser Sekunde gemeinsam mit Claudia wieder unten vor der Haustür des Gebäudes 221B Baker Street, aus dessen Flur ihm nun die klar erkennbare Melodie von "Auld Lang Syne" - kunstvoll gespielt auf einem Saxophon -. entgegenschall. Bedächtig grub Lukas sich auf der Suche nach seinem Schlüsselbund mit beiden Händen durch seine reich gefüllten Manteltaschen. Auch Claudia durchforstete ihre Handtasche, aber ohne Navi war da eh selten etwas zu finden. Schließlich gab Lukas seine Suche auf und pochte stattdessen mit den dadurch wieder frei gewordenen Händen leicht gegen die Haustür. Drinnen verstummte das gespielte Instrument, und ein paar Schritte näherten sich rasch der Tür, die im nächsten Moment von innen her weit aufgerissen wurde. Im Türrahmen aber erschien Wannabe und rief freudestrahlend: "Nur herein, wenn's kein Svensson ist ... Oh pardon, Schmusekätzchen und Trenchcoatfetischisten müssen leider draußen bleiben! ... Ne, im Ernst! Immer reinspaziert! Freut mich, Sie endlich wiederzusehen, Partner! Sie ahnen ja gar nicht, was ich in der Zwischenzeit alles erlebt hab, während sie Ihr 14-Stunden-Nickerchen machten. Also da war zuerstmal der Saxi hier, den ich fast umgerannt hab und der mir dafür das Blasen beibringt. Haben Sie eben gehört, wie ich gespielt hab? Wahnsinn, oder?! Ach und dann waren da noch der Pauli und Diane, ein echter Engel, aber dennoch natürlich kein Vergleich zu unserer unvergleichlichen Claudia. Und da war dieser Junge Cedrick, auch als Mike L. Jag's Sohn unterwegs - das ist vielleicht ein Früchtchen, aber auch ein herzensguter Kerl. Überhaupt alles herzensgute Leute, die da unter der London Bridge campieren. Und darum hab ich sie auch alle zu mir eingeladen zum Weihnachtsessen. Ok, dann war da noch der Herr Butler, der aber gar kein Butler ist, sondern der Hausherr am Eaton Place. Und bei dem wohnt der Alfred, von dem ich dachte, er wolle mir an die Wäsche. Dabei hat der mich ja nur auf ein Loch in der Hose hinweisen wollen. Naja, bei dem Pauli dacht ich dann ja auch, der dealt mit Drogen, dabei war das nur Insulin. Und die Suppe, das Brot und der Tee, die der ausgeschenkt hat, einfach sagenhaft. Und was der alles von mir wußte. Am Ende hat er mir sogar seinen Pferdeschlitten leihweise überlassen, den draußen vor der Tür, mit dem wir zuvor diesen Henry Fist ...". Wannabe stockte in seinem Redefluß. Sein Gesicht bekam plötzlich einen sehr ernsten Ausdruck, wozu er sprach: "Ach ja, das ist schrecklich! Dieser arme Henry hat da einen Lou Cypher getroffen, der mit seiner Organisation die gesamte Menschheit auslöschen will. Mit Atomraketen, die sich vermutlich sogar schon in seinem Besitz befinden. Ich hoffe inständig, daß unser neuer Yardchef in der Sache rasch weiterkommt, so daß man diesen Cypher und seine Bande dingfest machen und aus dem Verkehr ziehen kann ... Oh, verzeihen Sie, Lukas, ich laß Sie ja gar nicht zu Wort kommen! Wie ist es Ihnen denn mittlerweile ergangen? Und wo kommen Sie jetzt eigentlich mit meinem ... äh unserem Fräulein Claudia her?!". Lukas, der das Gerede von Charles Wannabe und dessen damit einhergehende neugewonnene Liebenswürdigkeit erst einmal verdauen mußte, schwieg zunächst, dann aber erklärte er kurz und knapp: "Ich war mit Claudia noch einmal bei Leon Ardo. Und der hat uns auf eine ganz neue Spur gebracht, ein Mädchen im Rollstuhl namens Lilly ...".

Von hinten fiel ihm Claudia Palmer ins Wort, die - leicht ihr Näschen rümpfend - einwarf: "Was um alles in der Welt stinkt denn hier so? Ist das etwa dieses Hundetier, das mir gerade mein Bein abschleckt?". Wannabes schmuddlige Finger reckten sich aufgeregt in die Höhe: "Ich glaube, der kleine Stinker bin wohl eher ich. Und was den Hund angeht: Der heißt Vierbein, gehört zu mir und hat scheinbar einen exzellenten Geschmack, wenn es um Frauen geht - wenn Du mich fragst, Claudia!". Das versteckte Kompliment Wannabes ließ Claudia auf der Stelle erröten. Stattdessen meinte Svensson grinsend: "Da ist unser Charlie also nun ganz und gar auf den Hund gekommen. Und statt einer dezenten Note von Boss oder Old Spice, umweht ihn nun wahrhaft ein Hauch von billigem Eau de Toilette! Aber was am verrücktesten ist: Ihm scheint das sogar noch zu gefallen! Ich wußt es ja immer! Halleluja, es geschehen auf dieser Welt doch noch Zeichen und Wunder!". Charles Wannabe schmunzelte kurz, gab dann aber sogleich zu bedenken: "Nun ja, so ganz freiwillig ist mein Aufzug und der mit ihm verbundene Geruch ja nun auch wieder nicht. Ich hatte da neben all den tollen Momenten heute eben schon auch ein paar weniger schöne! Und zum Duschen und Umziehn bin ich bislang leider noch nicht gekommen. Wüßtet ihr Beide nicht vielleicht eine Möglichkeit, wo ich mich duschen und mir anschließend was Ordentliches überziehn könnte?!". Wieder meldete sich aus dem Hintergrund Claudias süße Stimme zu Wort: "Also duschen kannst Du bei mir zuhause, Charles. Ich hab da sogar eine Badewanne, die ist vielleicht in Deinem Zustand eh angebrachter. Und Deinen kleinen Dreckspatz Vierbein nehmen wir gleich mit zum Baden, würde ich sagen!". Damit packte sie Charles Wannabe kurzerhand am Arm und zog ihn mit sich zu ihrem Auto, mit dem die Beiden samt dem noch rasch herangerufenem Hund umgehend davonfuhren. Lukas Svensson aber blieb mit Saxi allein zurück und sprach zu dem Musiker: "Und wir Zwei, wir gehen jetzt nach oben ins Büro. Da können Sie sich dann noch ein wenig aufwärmen und ausruhen, während ich die Ubahn nehme, um am Eaton Place rasch noch einer weiteren Spur nachzugehen. Aber zuerst mal zaubere ich uns noch einen schönen heißen Grog nach schottischer Art. Fließend Wasser und einen Wasserkocher haben wir oben, und wo der alte Haudegen Wannabe seine eiserne Whiskeyreserve versteckt hat, weiß ich auch!".

Im ehemaligen Gebäude der ostdeutschen Botschaft im Herzen Londons, in dem sich nun schon seit einigen Monaten das neue Hauptquartier der britischen Antiterroreinheit CI7 befand, saß ein großer, durchtrainerter Mann mit kurzgeschnittenem Haar hinter seinem Schreibtisch und studierte eine vor ihm liegende Akte, die das Protokoll einer soeben getätigten Aussage enthielt. Immer wieder versah er die breiten Ränder der einzelnen Aktenblätter mit handschriftlichen Notizen, wobei ihm bei dem Gelesenen mehrfach ein lautes "Verdammt!" enthuschte. Kaum hatte er alles gelesen, da betätigte er an seinem Telefon erst die Freisprechtaste und dann die Kurzwahltaste mit der Nummer 0, die ihn direkt zu seiner Vorzimmerdame durchstellte. Sich dicht über den Telefonapparat beugend aber sprach er sogleich mit aufgeregter Stimme: "Chloe ... äh, Verzeihung, Clara, schicken Sie mir bitte unverzüglich diesen Herrn nach oben, der momentan noch in Vernehmungszimmer 24 sitzt! Danke!". Daraufhin bewegte er seinen Zeigefinger zu der Taste mit dem roten Hörersymbol, um damit die Verbindung zu beenden, als ihm die Stimme seiner Sekretärin entgegenschallte: "Ach, Sir, ich hab da noch einen Gast in der Lobby sitzen, der möchte zu Ihnen. Er meinte zu unserem Mann da unten, man solle Ihnen einfach nur die Stichworte 'Videokonferenz' und 'Redemption' übermitteln, sie wüßten dann schon, um wen es sich handelt". Eine Sekunde intensiven Nachdenkens verstrich, dann aber vermeldete der kurzhaarige Mann hinter seinem Schreibtisch: "Alles klar, lassen Sie ihn raufschicken!". Mit diesen Worten beendete er die Verbindung zum Vorzimmer per Tastendruck und sprang dann hocherfreut hinter seinem Schreibtisch hervor, um seinen Gast höchstpersönlich an der Bürotür in Empfang zu nehmen. Endlich kam mal wieder ein wenig Leben in die Bude! Zu lang schon war er tagein tagaus nur mit dem Wälzen von Akten und Absegnen von Vorgängen beschäftigt, statt draußen auf der Straße selbst dem Terror zu Leibe zu rücken, wie es seinem Wesen entsprach. Er warf einen kurzen Blick aus dem Fenster seines Büros. Die Lichter der Großstadt gaukelten dem ahnungslosen Betrachter ein verträumtes Städtchen mit einer imposanten Skyline und netten, freundlichen Menschen vor. Aber irgendwo da draußen saß er, sofern man dem Bericht in der Akte auf seinem Tisch Vertrauen schenkte - er, der Staatsfeind Nummer 1. Die startbereiten Atomraketen in der Hinterhand und allerhand lichtscheues Gesindel in seinem Dunstkreis um sich gescharrt, wartete er nur auf seine Chance zum Angriff. Zum blutigen Angriff gegen Freiheit, Demokratie und den Weltfrieden. Nur mutige Menschen wie er, die bereit waren, im Kampf gegen diesen unsichtbaren Feind letzten Endes alles zu riskieren, auch ihr eigenes Leben, konnten diesen skrupellosen Gegner am Ende erfolgreich zur Strecke bringen. Dank durften sie dafür freilich kaum erwarten. Oft stocherten sie dazu bei ihren Ermittlungen allzusehr in einem tiefen Sumpf aus Korruption und Vertuschung herum, der nicht selten bis in die obersten Schaltzentralen weltlicher Macht hineinreichte. Von dort aus pflegte man Leuten wie ihm dann auch nach dem Leben zu trachten und mit ihnen auch denjenigen, die sie liebten und die ihnen wichtig waren. Ewig mußte man sich verstecken, ständig war man vor irgendwem oder vor irgendetwas auf der Flucht. Und am Ende stand man immer wieder allein da, ganz allein. Ein leises Klopfen riß den ins Leere Starrenden aus seinen dunklen Gedanken. Er rief "Herein!", und durch die aufgestoßene Tür kam mit leisem Surren ein Rollstuhl auf ihn zugerollt, dessen Insasse sprach: "Es ist mir eine Ehre, Ihnen endlich einmal von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten zu dürfen, Sir! Mein Name ist Tim Hackerman, aber Sie dürfen mich ruhig Timmy nennen!". Der sichtlich beeindruckte Mann hielt dem jungen Hackerman seine Hand entgegen und verkündete dazu gerührt: "Angenehm, Timmy! Und ich bin ...". Timmy aber unterbrach ihn, indem er schmunzelnd ausrief: "Ja, ich weiß, wer und was Sie sind! Mein Freund Lukas wird ja schließlich nicht müde, es einem wieder und wieder aufs Brot zu schmieren. Sie sind ... der Große Bauer! Wer ihn hat, hat's gut!" ...

19 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas macht einen Hausbesuch, Wannabe ersucht um Hilfe]

Charles Wannabe hatte es sich mittlerweile in der Wanne in Claudia Palmers Badezimmer gemütlich gemacht und genoß dabei sichtlich das herrlich warme Wasser mit dem Lavendelschaumbadzusatz, der nun die Mischung jener eindringlichen Duftnoten, welche sich über die letzten Stunden hinweg auf seinem Körper angesammelt hatten, recht erfolgreich zu ersetzen versuchte. Mit einem weichen Frotteelappen und einem großen Stück Kernseife rückte er zudem seiner fast unbehaarten Brust und seinem muskulösen Bauch zu Leibe und schruppte sie, was das Zeug hielt. Dabei pfiff er vergnügt die Melodie von "I Got A Feeling That Tonite's Gonna Be A Good Nite" von den Black Eyed Pees vor sich her. Claudia hatte derweil all seine zerschlissenen Sachen in ihrem sicher verschließbaren Abfalleimer zwischengelagert und anschließend in diesem hinunter in den Hof getragen, wo sie den Eimer mit zugehaltener Nase - aus Ermangelung eines speziellen Sondermüllcontainers - in die Mülltonne für den Restmüll entleerte. Zu ihrer Erleichterung nahm sie dabei wahr, daß die Jungs von der eigens für die Tage rund ums Fest eingerichteten Spätschicht der Londoner Müllabfuhr im selbem Moment vor dem Nachbarblock vorfuhren, um dort den Abfall abzuholen. So begab sie sich hüpfend auf den Weg zurück 3 Treppen höher in ihre Wohnung, den gleichen Ohrwurm wie ihr unbeschwert badender Gast auf den Lippen.

Weder zum Pfeifen noch zum Singen war derweil Henry Fist zumute, der unter fast unerträglichen Schmerzen nur langsam wieder zu sich kam. Seine Augen öffneten sich einen Spalt breit, wobei er im düsteren Rotlicht zunächst neben seinem entblößten, von zahllosen Kratz- und Bißspuren reich übersäten, aus sämtlichen Poren blutenden Körper nur noch die dreckige Matraze wahrnahm, auf der er leise stöhnend lag. Erst nach und nach erschloß sich ihm auch deren unmittelbare Umgebung, in der es von leeren und halbleeren Pizzaverpackungen mit schimmligen, stinkenden Mafiatorteresten nur so wimmelte, ebenso wie von unzähligen Kakerlaken und ein paar häßlichen Ratten, die sich - völlig unbeeindruckt von seiner Anwesenheit - über diese vermeintlichen Leckerbissen hermachten. Ein paar Pappbecher mit diversen übelriechenden Überbleibseln ihres einstigen schmackhaften Inhalts rundeten den ekligen Gesamteindruck des Raumes zu seinem türlosen Eingangsbereich hin ab. Durch eben jenen trat in diesem Moment die völlig nackte, starkbeharrte Gestalt Lou Cyphers breit grinsend auf den geschändeten Henry zu, und brachte sich dabei so nahe vor seinem Gesicht in Position, daß der arme Kerl seinen widerlichen, warzenübersäten Unterleib direkt vor Augen hatte. Kaum zu einer Ausweichbewegung imstande, begann Fist bei diesem Anblick zu würgen und glaubte, sich übergeben zu müssen - erst recht, als sich dieses Ekel Cypher zu ihm herunterbeugte, und ihm einen Pappbecher in die Hand drückte, der randvoll mit einer dunkelroten zähflüssigen Soße gefüllt war, die ekelerregend intensiv nach Tomate und Alkohol roch. Lou Cypher aber seufzte, während auch er einen solchen Becher an seine Lippen führte, und zischte schließlich erregt: "Ich hab uns da mal rasch zwei schöne Bloody Mary gemixt und sie exakt auf 37 Grad Celsius erwärmt. Das ist und bleibt einfach mein Lieblingsgetränk. Und es schmeckt dabei tatsächlich genau wie das Blut einer zuvor besoffen gemachten lieblichen jungen Dirne. Glaub mir, ich weiß genau, wovon ich da spreche. Die edelsten fünf Tropfen solch köstlichen Lebenssaftes hab ich übrigens hier ganz in der Nähe genießen dürfen, als ich vor geraumer Zeit schon einmal für ein paar Monate hier im heimlichen Herzen Londons verweilte. Zur Erinnerung an diese köstliche, leider längstvergangene Zeit nenne ich den Drink übrigens auch gern wahlweise Bloody Polly, Bloody Annie, Bloody Liz, Bloody Kate oder Bloody Ginger. Aber was schwelge ich hier in vergänglichen Erinnerungen?! Laß uns den denkwürdigen Augenblick unserer ersten körperlichen Vereinigung doch lieber einfach auskosten". Damit setzte er den Becher endgültig an seinem Mund an und leerte ihn in einem einzigen Zug. Er leckte sich daraufhin die spröden, rotbesprenkelten Lippen ab und sprach mit einem vorwurfsvollen Blick auf den vor ihm liegenden Henry Fist: "Aber Henry, Darling, Du trinkst ja gar nicht! Du mußt diese Köstlichkeit genießen, solang sie noch warm und frisch ist. Kalt und abgestanden klumpt sie zu schnell und wird damit quasi ungenießbar". Und etwas ungehaltener ergänzte er: "Und das werde ich auch, wenn Du nicht sofort tust, was ich sage!". Henry erhob unter unvorstellbaren Qualen seine zitternde Hand mit dem Pappbecher und führte ihn wie in Zeitlupe an seine angeschwollenen Lippen, auf denen sich - wohl dank der vorangegangenen Torturen - kleine Eiterbläschen gebildet hatten. Dann kippte er sich die warme Brühe in mehreren Anlaüfen ruckartig in den seltsam schleimig belegten Rachen. Dabei schüttelte es ihn. Das Zeug schmeckte einfach ekelerregend. Mit einem Ausdruck tiefster Abscheu schaute zu seinem Peiniger hinauf, der sichtlich zufrieden mit dem Kopf nickte. Was war das nur für ein Mensch, der da vor ihm stand? Nein, ein Mensch war das nicht! Nicht, nach all dem, was er ihm heute angetan hatte - ein Tier war das, ein wildes, unberechenbares Tier. Doch nein, mit diesem Vergleich tat er der Tierwelt Unrecht. Auch ein Tier war dieser Lou Cypher nicht, eher schon ein Untier - ein Monster, das sich, mal mehr und mal weniger geschickt, hinter einer menschenähnlichen Fassade versteckte.

Im Chefbüro des CI7 hatte derweil Tim Hackerman in einem wahren Redeschwall die ganze ihm bekannte Geschichte von eben jenem Cypher und Henry Fist sowie der zugehörigen gründlich gescheiterten Aktion von Yardchef Douglas vor dem ursprünglich aus Los Angeles stammenden CI7-Boß dargelegt und beendete nun seinen Vortrag mit einem flehenden: "Sie müssen mir das einfach glauben, Sir, auch wenn die Sache mit der atomaren Bedrohung und der zufälligen Kenntniserlangung davon gerade durch einen völlig unbekannten Stadtstreicher sicher ziemlich aus der Luft gegriffen klingen mag, aber ...". CI7-Chef Jack hielt es für an der Zeit, seinen Gast zu unterbrechen, und so räusperte er sich auffällig und sprach: "Ich glaub Ihnen ja, Timmy! Zum einen hab ich da in den letzten Jahren drüben in den Staaten schon ganz andere Dinge erlebt, die sich anfangs noch viel verrückter angehört haben. Und zum anderen gibt es da auch jemanden, der die von Ihnen vorgetragene Geschichte zu großen Teilen bereits genauso bei uns zu Protokoll gegeben hat". Er begab sich unter den verdutzten Augen Tim Hackermans wieder zu seinem Schreibtisch und bat seine Sekretärin übers Telefon: "Clara, bringen Sie unseren anderen Gast doch bitte zu uns rein!". Zwei Sekunden später ging die Bürotur in Tims Rücken auf, und hinein spazierte John Wayne Powerich. Jack machte die beiden Männer miteinander bekannt, dann erklärte er: "Tja, Jungs! Ich glaube, es ist an der Zeit, daß der CI7 aktiv ins Geschehen eingreift. Ich stelle sofort unter meiner Führung ein Teams zusammen, mit dem wir uns an die Ausschöpfung sämtlicher möglichen und unmöglichen Quellen machen, die uns brauchbare Hinweise auf den Unterschlupf jenes verdammten Dreckskerls Cypher bringen könnten. Ich denke da vor allem die an Sichtung von sämtlichen vorhandenen Verkehrsüberwachungsvideos im gesamten Stadtgebiet. Da sollten wir auf alle Fälle die Technikabteilung des Yard involvieren, die sicher eh schon eifrig in diese Richtung ermittelt. Außerdem zapfen wir sämtliche unserer, in der Londoner Unterwelt eingeschleusten Undercoveragents an und lassen sie sich mal ein wenig umhören. Irgendwo muß es doch eine heiße Spur geben, die zu diesem Cypher führt. Und wenn die Herren mich jetzt kurz entschuldigen würden, dann telefonier ich rasch mit einer sehr guten Freundin in Übersee und schalte sie mit in die Ermittlungen ein. Wenn es irgendwo im Netz versteckt einen Hinweis auf diesen Lou Cypher gibt, dann wird sie ihn finden. Das verspreche ich Ihnen!". Damit schüttelte er seinen beiden Besuchern die Hände und geleitete sie noch bis zur Tür, die er anschließend hinter ihnen wieder schloß, und begab sich dann zurück an seinen Schreibtisch. Er wählte die "7", um aus dem CI7-internen Netz nach draußen zu gelangen, dann die internationale Vorwahl Kalifoniens und anschließend eine längere Ziffernfolge. Eine Weile drang über den Telefonhörer nur ein Knacken und das Freizeichen an sein Ohr, dann aber meldete sich eine leicht verschlafene Frauenstimme: "Hallo, Sie wünschen?!". Jack aber schmunzelte nur und antwortete dann: "Na zuerst einmal wünsch ich Dir einen Guten Morgen, Du Langschläfer! Es ist schließlich bei euch schon nach zehn!". Ein recht langanhaltendes, ohrenbetäubendes Schlürfen war zu vernehmen, bei dem sich Jack gezwungen sah, den Hörer ein wenig auf Abstand zu halten. Erst als es langsam wieder versiegte, getraute er sich diese Maßnahme zur Schonung seines Trommelfells wieder rückgängig zu machen, und hörte dabei ein mäßig überraschtes: "Jack, Du?! Sorry, aber ich hab da grad noch rasch an meiner Latte gesaugt. Du weißt doch, daß ich dieses Milchkaffeezeugs immer mit einem Strohhalm zu trinken pflege, oder?! Ach, nicht so wichtig! Also ich hab Dir ja so einiges zu erzählen! Vor allem aber soll ich Dir ganz liebe Grüße bestellen von Kim und von ...". Jacks Blick streifte das golden umrahmte Foto seiner Tochter auf seinem Schreibtisch. Er unterbrach seine Gesprächspartnerin an dieser Stelle äußerst ungern, aber wenn er die im Raum stehende Gefahr - die sie schließlich ja alle betraf - abwenden wollte, dann duldete das einfach keinen Aufschub. Und so räusperte er sich und sprach in dienstlich klingendem Tonfall: "Hör zu, ich brauch mal wieder Deine Hilfe, Chloe ...".

Hilfe hatte auch der gute Charles nötig. War er mit dem ausgiebigen Säubern seines Körpers noch ganz allein klargekommen, so griff seine Hand bei der Suche nach einem Handtuch nun ins Leere. Auch seinen sich daraufhin im ganzen Bad nervös umschauenden Augen war bei diesem Unterfangen kein Erfolg beschieden. Und so blieb ihm letztendlich nichts übrig, als seine Stimme sanft zu erheben, wobei er ausrief: "Claudia, entschuldige bitte, aber ich hab hier gar drin nichts zum Abtrocknen! Ach, und dann noch eine Frage: Sind eigentlich meine Sachen schon fertig gewaschen und getrocknet?". Claudia erschrak. Oh je, die Sachen! Sie hatte ja gar nicht daran gedacht, daß sie Charles für die weggeworfenen Klamotten keinerlei Austauschkleidung anzubieten hatte. In ihrem Schrank hingen doch nur Frauensachen, mit denen Wannabe bestenfalls als Charlies Tante durchgehen würde. Handtücher hingegen hatte sie mehr als genug in ihrer Kommode. Und so beschloß sie, über die Wäschefrage später nachzudenken und ihrem Gast erstmal ein flauschiges Handtuch zu überbringen. Sichtlich nervös betrat sie schon wenige Momente später mit einem großen Frotteeduschtuch überm Arm das Badezimmer. Angestrengt bemühte sie sich, dabei die Augen geschlossen zu lassen, um so Charles Wannabes Recht auf Intimsphäre zu wahren, auch wenn ihr das sichtlich schwer fiel. Erst als beim langsamen Vortasten ihr Schienbein an der Klobrille anschlug, konnte sie leider nicht mehr umhin, auch ihre Augen aufzuschlagen und einen kurzen Blick zu riskieren. Der galt dann allerdings weniger ihrem schmerzenden Bein, als vielmehr dem im Adamskostüm vor ihr hockenden Charlie. Ihre Augen wanderten langsam von seinem überraschten Gesicht an seinem atemberaubend gutgebauten Oberkörper herab, bis hin zu der Stelle, wo selbiger ins schaumbedeckte Wasser eintauchte. In diesem Augenblick ertappte sie sich selbst dabei, wie sie dachte: 'Mist, hätte ich doch vorhin nur ein kleinbißchen weniger von dem Schaumbad in die Wanne gekippt, dann könnte ich jetzt im klaren Wasser sogar seinen ...'. Weiter erlaubte sie selbst ihren Gedanken nicht zu gehen! Stattdessen warf sie leicht errötend nur noch rasch das Handtuch über den Wannenrand und verließ dann hinkend fluchtartig das Bad, wobei sie mit dem zweiten Schienbein nun auch noch an der Klobrille anstieß. Charles aber stand, sobald Claudia verschwunden war, schmunzelnd aus der Wanne hoch und trocknete seinen Körper in aller Eile mit dem Handtuch ab, das er sich anschließend um die schlanke Hüfte warf, und trat dann aus dem Bad in den Flur. Dort war - wie auch in allen anderen Räumen der Wohnung - von Claudia keine Spur. Nur die Wohnungstür stand sperrangelweit offen und im Treppenhaus hörte man ein paar sich rasch entfernende, humpelnde Schritte in Hackenschuhen.

Auch am Eaton Place stand eine Tür weit offen. Es war die Haustür von Nummer 165, durch die Alfred Robber gerade Lukas Svensson ins Haus bat und ihm dort seinen Regenmantel abnahm, den er sogleich an den Haken der Flurgarderobe hängte. Der junge Pfleger hielt daraufhin den Zeigefinger der rechten Hand bedeutungsvoll vor seinen Mund und flüsterte: "Bitte leise, und wenn es geht auch nur ganz kurz, Mister Svensson! Herr Butler ist oben gerade erst eingeschlafen, nachdem ihm Doktor Riverside etwas zur Beruhigung und gegen die Zitterkrämpfe gegeben hat. Ich muß gleich wieder nach ihm sehen!". Lukas nickte und raunte: "Schon gut, ich beeil mich! Ich hab da eigentlich auch nur noch eine einzige Frage: Sagt Ihnen der Name Lilly vielleicht etwas? Es handelt sich dabei um ein kleines Mädchen im Rollstuhl, das öfter bei der verschwundenen Paulusfigur gesehen wurde". Alfred Robber war sichtlich überrascht von dieser Frage: "Ja, natürlich! Dieses Mädchen Lilly ist Sir Hudson Butlers Tochter. Die Mutter der Kleinen, von der Mister Butler seit etwa 8 Jahren in Scheidung lebt, hat ihrer Tochter jeden Umgang mit ihrem leiblichen Vater strengstens untersagt. Ich nehme an, die Kleine hat irgendwie erfahren, daß der Paulus von ihrem Vater erschaffen wurde und so über ihn eine Art Kontakt gesucht! Armes Mädchen! Ihre Mutter hat damals vor dem Scheidungsrichter angegeben, Mister Butler würde das Kind schlagen, dabei hat er die Kleine damals bei seinem ersten Zitteranfall im Fallen nur ganz versehentlich gestreift. Aber der Richter glaubte eben der erbosten Mutter mehr als Mister Butler. Naja, ich weiß ja selbst nur allzugut, wie das ist, wenn man zu Unrecht beschuldigt wird. Nachdem ich einmal eine Jugendsünde begangen hatte, indem ich mich von einem entfernten Cousin zu einem Kunstraub überreden ließ, hab ich meine Strafe reumütig abgesessen und dachte, die Sache sei damit aus der Welt. Aber die Gesellschaft hat einen, einmal auf die schiefe Bahn geratenen Menschen ja immer wieder auf dem Kieker. Und als die von mir privat gepflegte, unter schweren Depressionen leidende Misses Monroe sich dann eines Tages mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben nahm, da wollte man unbedingt mir die Sache anhängen. Zu meinem Glück konnte mir meine Lebensgefährtin Marilyn ein Alibi für die Zeit geben, sonst wäre ich vermutlich völlig unschuldig wieder in den Knast gewandert". Traurig senkte er für eine Sekunde sein Haupt, dann erhob er es langsam wieder und sprach zu Lukas Svensson: "Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Sir?! Ich muß wieder rauf zu Mister Butler. Ich mach mir einfach zuviel Sorgen, daß ihm etwas zustoßen könnte". Er half Svensson noch rasch in seinen Mantel und begleitete ihn dann zur Tür, wo er ihn mit den Worten verabschiedete: "Wo Lilly und ihre Mutter jetzt leben, ist mir leider unbekannt, ebenso wie Mister Butler. Aber vielleicht können Ihnen da ja die Behörden weiterhelfen, wenn auch sicher nicht mehr vor Weihnachten! Auf Wiedersehen, Sir! Und gesegnete Feiertage! Auch für Ihren Partner Mister Wannabe. Wenn Sie dem übrigens noch ausrichten könnten, daß ich keineswegs homosexuell bin?! Vielleicht besucht er mich ja dann noch einmal auf ein gemütliches Täschen Tee. Er erinnert mich nämlich sehr an meinen großen Bruder, der leider viel zu früh an Leukämie sterben mußte und wegen dem ich mich nach meinem Gefängnisaufenthalt auch für diesen Beruf entschied. Guten Abend, Sir!". Lukas drückte dem jungen Mann ein letztes Mal die Hand und trat dann nach draußen, wo inzwischen kein neuer Schnee mehr fiel. Nachdenklich machte er sich auf den Weg zur nahegelegenen Ubahnstation, von der aus er sich direkt wieder zurück in die Baker Street befördern zu lassen gedachte.

In der Palmerschen Zweiraumwohnung tauchte im selben Augenblick Hausherrin Claudia wieder auf und stand nun mit weitaufgerissenen, leuchtenden Augen und völlig außer Atem vor dem handtuchumwickelten Charles Wannabe, dessen stellenweise noch feuchter Astralleib in zunehmendem Maße ihren Laminatfußboden volltropfte. An der entstehenden Pfütze aber saß Hund Vierbein und schlabberte mit seiner rauhen Zunge die etwas eigenartig schmeckende Wasserlache auf. Die anmutige Sekretärin nahm von dem Treiben des Vierbeiners allerdings kaum Notiz. Sie hielt stattdessen die Hände hinter dem Rücken verborgen und erklärte stoßweise: "Die Sachen ... und die Müllabfuhr .. beide schon weg! ... Aber das hier ... im Auto ... von Sir Lukas ... noch liegengeblieben ... vielleicht übergangsweise ... doch ganz ok, oder?!". Mit fragendem Blick schaute sie ihn reumütig an und überreichte ihm, der bislang wohl nur Bahnhof verstanden hatte, eine bunte Plastiktüte mit dem Aufdruck "Holly Day's Xmas Shop" ...

20 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas auf dem Rückmarsch, Wannabe hat eine Eingebung]

In Svenssons Wohnung rüstete man sich zum Aufbruch. Yelena hatte nach Lukas' Weggang ihre Gäste ganz allein mit Kaffee und Kuchen bewirtet, sie mit abwechslungsreichen Geschichten aus ihrer ehemaligen russischen Heimat und dem alltäglichen Zusammenleben mit ihrem Lukas unterhalten und sich dabei als äußerst charmante Gastgeberin erwiesen. Und als von Lisa Svensson später gegen Anbruch der Dunkelheit auf ihrer Geige viele der altbekannten englischen Weihnachtslieder gespielt worden waren, hatte sie gemeinsam mit Nina, Jane und dem kleinen Luke aus voller Kehle die zugehörigen Texte gesungen. Selbst wenn ihr dabei immer mal ein paar Wörter durcheinandergeraten waren, so hatte allein ihre glasklare Stimme dennoch durchaus vermocht, den geneigten Zuhörer auf Anhieb zu verzaubern. Das war selbst der immer noch etwas geschwächten Cathrin nicht entgangen, die dem Konzert warm zugedeckt auf der Couch beigewohnt und dem bunt gemischten Chor dabei hin und wieder milde zugelächelt hatte. Am ergreifendsten aber war es für alle gewesen, als Yelena nach dem gemeinsamen Abendessen im Wohnzimmer die russische Version von "Stille Nacht" zum Besten gab. Ihr "Tichaja Notsch" ließ beim Rest der versammelten Damenriege kein Auge trocken. Und sogar der kleine Luke, der sonst kaum eine Minute still zu sitzen vermochte, lauschte dem wundervollen Gesang die ganze Zeit über andächtig und stumm. Nun allerdings neigte dieser schöne Tag seinem Ende zu. Jane wollte mit Cathrin und ihrem Luke unbedingt nach Hause. Für den Jungen war es schließlich an der Zeit schlafenzugehen, und auch Cathrin hatte nach ihrem plötzlichen Zusammenbruch ein wenig häusliche Nestwärme wohl bitternötig. Außerdem dachte Jane auch darüber nach, ihre Hausärztin Frau Dr.Kimble noch rasch zu einem Hausbesuch bei Cathrin zu bitten, bevor sich die Allgemeinmedizinerin - wie schon all die Jahre zuvor - zu den Feiertagen wieder auf der Flucht vor all dem Weinhachtstrubel irgendwo in die Weiten Irlands absetzte, wo sie dann bis zum neuen Jahr erfahrungsgemäß nicht mehr aufzuspüren war. Aber auch Nina Svensson und ihre Tochter Lisa hatten an diesem Abend noch ein paar Dinge zu erledigen. Kurzum: Mit einem Male herrschte ein riesiges Getümmel im Flur der Svenssonbehausung, wo Mäntel und Jacken, Mützen und Schals und jede Menge Handschuhe von einem zum andern durchgereicht wurden, bis schließlich außer der Hausherrin jeder der Anwesenden dick eingepackt war und damit bereit, der eiskalten Abendluft vor der Haustür entgegenzutreten. Yelena umarmte zum Abschied jeden ihrer Gäste noch einmal inniglich und öffnete ihnen dann die Wohnungstür, durch die sie nun in rascher Folge in das schummrig beleuchtete Treppenhaus traten. Die Svenssongattin selbst aber folgte ihnen noch bis zum Treppenabsatz, wo sie - übers Geländer gebeugt - zusah, wie die anderen letztlich hintereinander am unteren Treppenende durch die Haustür ihrem Blick entschwanden, wobei sie zeitgleich mit dem Zufallen der Haustür leise seufzte: "Nun also ich sein wieder ganz allein". Und aus dem menschenleeren Treppenhaus schallte es als mehrfaches Echo zurück: "Allein, allein! Allein, allein".

Weitaus weniger alleingelassen fühlte sich momentan Charles Wannabe, der im Schlafzimmer von Claudias Wohnung inzwischen in seine - ihm in Form des Inhalts der ominösen Plastiktüte leihweise überlassene - neue Kluft geschlüpft war und nun ganz in Rot mitsamt Wattebart im Weihnachtsmann-Outfit vor Claudia und seinem vierbeinigen Freund erschien. Zur Begutachtung durch sein zweiköpfiges Publikum drehte er sich dabei einmal kurz um die eigene Achse und fragte dabei mit extratiefer Stimme augenzwinkernd: "Nun, meine Lieben, wart Ihr denn auch immer schön artig, oder muß Santa Claus etwa die Rute auspacken?!". Claudia schmunzelte und war schon fast geneigt, mit einem "Ohh ja!" zu antworten, dann aber biß sie sich im letzten Moment doch noch auf die Zunge. Stattdessen ließ Vierbein seine kurze Rute aufgeregt durch die Luft wedeln, während seine kalte Hundenase die nackten Füße des fremdartig ausschauenden Mannes mit dem merkwürdig vertrauten Lavendelduft ausgiebig beschnupperte. Dann war mit einem Mal ein leises Knurren zu vernehmen. Doch das entstammte keineswegs dem kleinen schwanzwedelnden Kläffer, sondern vielmehr dem rotummantelten Bauch von Charles Wannabe, dessen nahezu leerer Magen auf diese Weise auf sich aufmerksam zu machen versuchte. Claudia bemerkte das sofort und meinte besorgt: "Meine Güte, Charles, daß ich daran nicht früher gedacht hab! Du mußt ja schrecklich hungrig sein nach allem, was Du heute so durchgemacht hast. Wäre es Dir recht, wenn ich Dich zum Abendessen einlade und uns rasch etwas bestelle?! Vielleicht eine Pizza?". Charles aber schüttelte kräftig den Kopf: "Einmal Mama Lucias Käse Spezial und dazu ein schlecht temparierter Glühwein aus dem Hause Wall Mart am Tag reicht, denke ich! Aber wenn ich einen Vorschlag machen dürfte: Wie wäre es denn mit einem kleinen Salat al Pollo und einer Brokkoli-Cremesuppe als Vorspeise und Scaloppa al Gorgonzola als Hauptgericht. Dazu ein halbtrockener Vino Rosso und eine ...". Claudia unterbrach den kulinarischen Vortrag ihres Gastes: "Eine Leiche zum Dessert?! Bei den Kalorien, die da zusammenkommen, können wir meine schlanke Figur nämlich getrost schon mal zu Grabe tragen". Charles Wannabe aber nahm besagtes Figürchen noch einmal in aller Ruhe prüfend in Augenschein und sprach dann: "Also dann, zum Dessert noch eine Tiramisu. Und was Deine geradezu traumhafte Figur angeht, da fällt mir spontan erstmal gleich ein ganz anderer Ort ein, zu dem ich sie gerne mal auf Händen tragen würde". Dabei bekamen seine Augen das, was man gemeinhin wohl als den Schlafzimmerblick zu bezeichnen pflegt. Jener Blick und die mit ihm vorgetragene Bemerkung aber überzeugten Claudia schließlich von seiner erlesenen Menüfolge. Sie hauchte Charles in seinem Weihnachtsmannkostüm einen zarten Kuß auf die Stirn. Dann griff sie sogleich in die unterste Schublade ihrer kleinen Flurkommode und holte daraus ein Faltblatt vom 'Ristorante Ti Amo' hervor, mit dem sie sich dann unverzüglich ins Wohnzimmer ans Telefon begab. Dort wählte sie die auf dem Blatt angegebene Telefonnummer und übersetzte dem jungen Anglo-Italiener am anderen Ende Charles' kompletten Menüvorschlag in die übliche Lieferatensprache: "Bitte jeweils 2x die 4, die 37, die 98 und die 185. Und als Zusatzzahl hätte ich dann gern noch die 198! Das alles prego recht pronto und ohne Gewehr an die Kundennummer 1421 zu Misses Claudia Palmer. Mille grazie im Voraus!". Damit legte sie auf und begab sich schnurstracks in die Küche, von wo aus sie dem immer noch im Flur stehenden Wannabe zurief: "Mach Du es Dir doch noch etwas im Wohnzimmer bequem, Charles! Du kannst übrigens für den Fall, daß Dir die Füße frieren, erstmal ruhig die dicken weißen Wollsocken anziehen, die auf der Flurkommode liegen. Die dürften dann auch ganz gut zu Deinem restlichen Aufzug passen, genau wie meine schwarzen Gummistiefel neben der Wohnungstür. Ich mach es uns derweil bis zum Eintreffen unseres italienischen Dinners in der Küche schon mal ein wenig gemütlich!". Und während sie eifrig mit Geschirr und Besteck zu klappern begann, schlüpfte Charles Wannabe mit seinen kalten Füßen wie empfohlen in die warmen Socken und die Stiefel.

Wenig gemütlich hatte es hingegen Henry Fist auf seinem Matrazenlager, auf dem ihm - dank diverser bereits eingetrockneter Blutflecke - das ganzes Ausmaß seines qualvollen Leidens stets allgegenwärtig war. Lou Cypher hockte - inzwischen wieder leicht bekleidet - neben ihm und strich mit seinen langen knöchernen Fingern durch das aufgewühlte Haar des 49jährigen. Dazu krächzte er leise: "Erzähl mir von früher, mein Freund! Vor allem von Deiner Arbeit und davon, wie man aus dem unter Tage abgebauten Uran 235 einen fertigen Atomsprengkopf bastelt, und das möglichst schnell und unkompliziert. Ich will einfach alles darüber wissen! Und wenn Du mir jetzt ganz brav jedes noch so kleine Detail verrätst ... wer weiß, vielleicht laß ich Dich ja dann auch wieder gehen?!. In ein paar Monaten kommt Dir das alles hier dann nur wie ein böser Albtraum vor, wie man ihn zum Beispiel zu haben pflegt, wenn man aus einem verzweifelten Hungergefühl heraus mal ein schimmliges Stück Brot verspeist hat. Du kennst das Gefühl, stimmt's? Na mach schon, Henry, zier Dich nicht so! Am Ende sagst Du mir ja doch alles, was ich wissen will - ob auf die sanfte oder aber auf die harte Tour, das ist jetzt ganz allein Deine Entscheidung!". Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, ließ Cypher den spitzen Fingernagel seines rechten Mittelfingers an Henrys Wirbelsäule langsam unter mäßigem Druck nach unten fahren und umkreiste damit schließlich mehrfach dessen linke Gesäßhälfte. Dann riß er den Finger in die Höhe und rammte ihn dem hilflosen Fist ohne Vorwarnung mit voller Wucht in den Anus. Henry Fist hatte das Gefühl, als würde ihn der spitze Nagel innerlich zerreißen. Tränen schossen ihm in die Augen, die Gesichtszüge entgleisten ihm völlig, und sein geschundener Körper bäumte sich schmerzerfüllt auf. Seinem weit aufgerissenen Mund aber entfuhr ein qualvolles: "Aufhören, um Himmels willen, aufhören! Ich sag Dir ja alles, was Du willst, Du grausame Ausgeburt der Hölle!"

Wannabe saß derweil mit Claudia bei Kerzenschein und leiser klassischer Musik zu Tisch, wo sie nun vor leeren Tellern und Gläsern - sich tief in die Augen schauend - gemeinsam auf das Eintreffen ihres bestellten Essens warteten. Einzig und allein Vierbein hockte unterm Tisch bereits vor einem vollen Teller Schabefleisch und einem danebenstehenden Napf Wasser und konnte so sein persönliches Dinner For One schon mal nach Herzenslust genießen. Um sich die Wartezeit bis zu ihrem Mahl etwas zu verkürzen, beschlossen Claudia und Charles indes einvernehmlich, ein wenig Konversation zu betreiben. Und so stellte Claudia schmunzelnd fest: "Ich hätte ja nie im Leben gedacht, daß ich einmal mit dem Weihnachtsmann ein Candlelight-Dinner haben werde! Ist alles in allem schon ein ganz schön verrückter Tag für mich, aber für Dich ja kaum weniger, oder?!". Charles nickte: "Das kannst Du aber laut sagen! Und es fing schon kurz nach Mitternacht an, noch bevor Du im Büro auftauchtest. Nichts klappte wie geplant! Erst ging die Bürotür nicht auf, dann wollte mein Laptop nicht anspringen und zu allem Übel wurde das von mir bestellte Essen auch noch an eine falsche Adresse geliefert. Stell Dir vor, dieser Booker vom Cateringservice hat es doch tatsächlich quasi ans andere Ende der Stadt gebracht! In die Jump Street Nummer 21 zu irgendsoeinem Typen namens Lou, glaub ich, der dort mit seiner Firma 'F.C.Europe' sitzt. Na sag doch mal ehrlich, das klingt doch wohl eher wie ein Fußballclub als nach einem Detektivbüro, oder?! Und so ging es dann den ganzen Tag über weiter. Es wäre schier zum Verzweifeln gewesen, gäbe es da nicht auch die ungeheuer schönen Momente mit Dir". Claudia klimperte verlegen mit ihren Wimpern, während Charles ihr noch rasch eine Kußhand zuwarf und sich dann wiederganz seinem Erlebnisbericht widmete: "In St.Pauls hab ich mir bei einem Sturz die Hose aufgerissen und später an der London Bridge hat mich dieser Flegel mit seinem Laster vollgespritzt. Eigentlich wollte ich mir den ja noch greifen, hatte mir sogar schon die Aufschrift des LKW gemerkt: F.C.E. Logistics - Cypher & Co. - London E1 ...". Wannabe stockte, dann stammelte er aufgeregt: "Aber klar doch, das ist es! Wie blind ich doch die ganze Zeit über war! - F.C.E. ist F.C.Europe, und Lou ist Cypher. also Lou Cypher ... 21 Jump Street, London E1". Charles sprang derart ruckartig von seinem Stuhl hoch, daß er dabei an den gedeckten Tisch stieß und Gläser und Kerzen auf ihm bedrohlich ins Wanken gerieten. Dabei riß er die Arme hoch und jubelte: "Mein Gott, ich hab ihn! Ich weiß jetzt, wo er steckt, dieser Lou Cypher!". Dann fiel er der sichtlich verdutzten Claudia um den Hals und drückte ihr im Überschwang seines Glücksgefühls einen leidenschaftlichen Kuß direkt auf den Mund. Claudia Palmer erstarrte. In ihrem Kopf drehte sich auf einmal alles - wie damals, wenn sie als kleines Mädchen mal wieder zu oft hintereinander Karussell gefahren war. Nur undeutlich nahm sie dabei noch wahr, daß Charles sie fragte, ob er einmal ihr Telefon benutzen dürfe und sich dann auch gleich auf den Weg ins Wohnzimmer machte. Sie hingegen schloß ihre Augen, und in ihren Gedanken erblickte sie nun - in ein zartes Rosarot getaucht - sich und Charles, umringt von ihren 4 gemeinsamen Kindern - zwei Mädchen und zwei Jungen. Er aber preßte ihren dahinschmelzenden Körper ganz fest an sich, wobei er immer wieder liebevoll ihren Namen raunte und sie mit seinen kräftigen Händen ... schüttelte?! Erschrocken schlug sie die Augen wieder auf und kehrte aus ihrem zarten Traum in die rauhe Wirklichkeit zurück. Tatsächlich, Charles hatte sie bei den Armen gepackt und schüttelte sie wie ein Wilder! Dabei rief er: "Claudia, Claudia! Es ist etwas ganz Schlimmes geschehen! Ich hab grad bei Sabrina Meltstone im Yard angerufen und wollte ihren Chef sprechen, um ihm meine spontane Erkenntnis mitzuteilen. Aber der verdammte Douglas ist gar nicht da, stattdessen hat er Henry Fist schon vor Stunden diesem Lou Cypher direkt in die Hände gespielt und dann die Spur der Beiden verloren. Ich wage mir gar nicht auszumalen, was Cypher mit dem armen Henry anstellt, falls er herausfindet, daß der ihn bei der Polizei verraten hat. Wenn Henry Fist etwas zustoßen sollte, dann könnte ich mir das nie im Leben verzeihen! Schließlich hat ihn Pauli eigens meiner Obhut anvertraut! Ich hätte ihn gar nicht erst mit diesem Windhund Douglas allein lassen dürfen! Man muß Henry Fist jetzt unbedingt schnellstens befreien und Lou Cypher stoppen! Und dazu brauch ich Deine Hilfe, Claudia! Bitte hilf mir!".

Claudia löste sich vorsichtig aus Charles' fester Umklammerung und fragte sichtlich besorgt: "Schon gut, Charles, was kann ich für Dich tun?". Wannabe aber erwiderte: "Zuerst einmal könntest Du mir Dein Handy und Dein Auto leihen, damit ich den CI7 über Cyphers Versteck informieren und anschließend noch rasch unseren Lukas vom Büro abholen kann. Wenn dieser Lou Cypher nämlich nur halb so gefährlich und gerissen ist, wie ich ihn einschätze, dann können wir bei seiner Festnahme jede Hand und jeden Kopf brauchen, besonders einen derart klugen und besonnenen wie den meines Partners!". Claudia Palmer staunte nicht schlecht. So voller Hochachtung und tiefer Bewunderung hatte Charles Wannabe zuvor noch nie von Lukas Svensson gesprochen. Ganz im Gegenteil: Sie kannte die Beiden von früher nur wie Hund und Katze. In jenem Mann aber, der nun hier vor ihr stand und in den sie sich gerade mehr und mehr zu verlieben begann, mußte in den letzten Stunden tatsächlich etwas ungeheuer Großes vorgegangen sein, was sein ganzes Wesen für immer von Grund auf verändert hatte, und ihn in ihren Augen nun nur noch attraktiver und begehrenswerter erscheinen ließ. Und so zögerte sie auch keine Sekunde lang und überreichte ihrem Charlie wortlos ihre Autoschlüssel und ihr Handy. Charles aber dankte ihr dafür mit einem weiteren leidenschaftlichen Kuß auf den Mund. Diesmal erstarrte Claudia nicht, sondern warf ihre Lippen den seinen ebenso leidenschaftlich entgegen. Und als sich ihre Münder schließlich wieder voneinander lösten, da hauchte sie leise: "Paß bitte gut auf Dich auf, ja?! Und sag mir zum Abschied noch eins: Wirst Du, wenn die Gefahr gebannt ist, die von diesem Cypher ausgeht, wieder hierher zu mir zurückkehren und uns die Chance geben, dort weiterzumachen, wo wir nun aufhören müssen?!". Charles sah sie mit großen glitzernden Augen an, dann antwortete er: "Ja, Claudia, ich denke schon! Nur muß ich zuvor noch einen längstfälligen Besuch hinter mich bringen, um dadurch endlich mit meiner Vergangenheit abschließen und mit mir selbst ins Reine kommen zu können. Erst dann bin ich wirklich frei für einen Neubeginn, auch für einen möglichen Neubeginn mit Dir, Claudia!". Er streichelte ihr noch ein letztes Mal sanft über die Wange. Dann holte er seinen klemmte er seinen tierischen Gefährten Vierbein unter dem Küchentisch hervor und nahm ihn zu sich auf den Arm. Gemeinsam liefen die Zwei aus dem Haus, wo sie sofort in Claudias Wagen hüpften und mit diesem binnen Sekunden in die Nacht entschwanden. Claudia aber, die Charles noch bis zum Auto nachgelaufen war, schaute ihm sehnsüchtig hinterher und betete dabei inständig, daß er nur gesund und unversehrt wiederkehren möge. Dabei wurde sie plötzlich von zwei hellen Scheinwerfern geblendet, die in rasendem Tempo unmittelbar auf sie zusteuerten. Erst wenige Zentimeter vor ihr stoppten jene Lichter, die - wie Claudia Palmer nun erkannte - zu einer schwarzen Corvette gehörten. Das Auto blendete ab, und aus ihm entstieg ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann mit Lederjacke und Sonnenbrille sowie einem großen, würfelförmigen Styroporbehälter in Händen. Kaugummikauend sprach er zu Claudia: "Sagen Sie mal: Das was da eben im Auto an mir vorbeirauschte, war das nicht ein Weihnachtsmann?". Claudia Palmer aber schüttelte leise seufzend den Kopf und erwiderte: "Nein, das war keineswegs irgendein Weihnachtsmann! Das war mein Santa Charles! Die zarteste Versuchung, seit es Weihnachtsmänner gibt!". Der Mann in der Lederjacke aber zuckte nur leicht mit den Schultern: "Ok, meinetwegen! ... Sie sind nicht zufällig Signorina Palmer?! Mein Name ist Ray! Ich hab hier Ihre Bestellung vom 'Ristorante Ti Amo'! Übrigens, die geht heute ausnahmsweise auf mich! Nur werde ich dafür womöglich eines Tages zu Ihnen kommen und von Ihnen einen Gefallen einfordern! Und egal, was es auch sein mag, Sie müssen es tun!". Damit überreichte er ihr die komplette Styroporbox, rückte seine Sonnenbrille auf der Nase zurecht und verabschiedete sich mit einem kurzen "I'll be back! Hasta la vista, Baby!". Dann sprang er wieder in seinen schwarzen Flitzer, mit dem er nach einer rasanten Wendung in der Dunkelheit davonjagte.

Wesentlich langsamer entstieg Lukas Svensson unterdessen dem Ubahnzug am Bahnhof "Baker Street", von wo er sich nun wieder auf den Weg zum nahegelegenen Detektivbüro machte. Er war schon ein paar Minuten über den schneebedeckten Gehsteig gelaufen, als mit einem Male die Brustinnentasche seines Mantels auf Herzhöhe ein immer stärker werdendes Vibrieren zu verspüren begann. Entsetzt griff er sich an die bewußte Stelle, registrierte aber dann zu seiner Erleichterung, das es nur sein Handy war, was da vibrierte. Yelena hatte es ihm jüngst geschenkt, nur für den äußersten Notfall, wie sie beteuerte. Schließlich wußte sie ja nur zu gut, daß er mit diesem ganzen modernen Technikkram eher auf Kriegsfuß stand. Svensson zog das silberne Teil vorsichtig mit zwei Fingern aus seiner Manteltasche hervor und hielt es sich ans Ohr, wo es auf sein etwas unsicher hineingehauchtes "Hallo?!" erst einmal munter weiterklingelte. Lukas überlegte, was ihm Yelena bei der Übergabe des Funktelefons in aller Kürze zu dessen Benutzung beizubringen versucht hatte. Wenn es klingeln sollte, so sagte sie, müsse er erst die grüne Hörertaste drücken und dann reden! Ja genau, das war's! Wie einstmals in der Fernsehwerbung eines bekannten Wannensprays: Ohne Scheuern, ohne Bücken, einfach nur auf Knöpfchen drücken! Und so preßte Lukas den bewußten Knopf und führte das Handy erneut an sein Ohr, wo ihm sogleich aufgeregt die Stimme seines Partners Charles Wannabe entgegenschallte: "Ein Glück, daß ich Sie erreiche, Lukas! Ich hab es schon im Büro versucht, aber da ging nur unser Freund Saxi ran. Also rief ich bei Ihnen zuhause an, wo mir ihre Frau diese Nummer gab. Wo stecken Sie denn gerade?". Lukas Svensson war noch ziemlich perplex und stammelte: "Na, ich bin doch hier ... am Telefon ... äh also irgendwo auf dem Weg zwischen Ubahnstation Baker Street und unserem Büro. Wissen Sie eigentlich, daß Sie mit Ihrem Anruf gerade quasi meinen ganzen Körper zum Erzittern gebracht haben!". Am anderen Ende der Leitung war es einen Augenblick lang still, dann antwortete Charles: "Falls das eine versteckte Liebeserklärung an mich werden sollte, so müssen wir die auf später verschieben, alter Knabe. Ich weiß jetzt nämlich, wo dieser Cypher steckt. Und er hat Henry Fist in seiner Gewalt. Für längere Erklärungen bleibt mir leider im Moment keine Zeit! Bleiben Sie, wo Sie sind! Ich bin sofort bei Ihnen!". Lukas Svensson blieb noch im selben Moment mitten auf dem Gehsteig wie angewurzelt stehen und drückte nun auf die rote Hörertaste seines Handys, das er sogleich im Regenmantelinneren wieder sorgsam in Brusthöhe verstaute ...

21 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas wartet vorm Büro, Wannabe holt ihn ab]

Beim CI7 liefen die Ermittlungen von Jack und seinem Team inzwischen auf Hochtouren. In aller Eile hatte man mit Unterstützung der Technikabteilung des Yard unter Einbeziehung sämtlicher verfügbarer Kräfte bereits etwa 60 Prozent des zusammengetragenen Videomaterials gesichtet, nur die Auswertung der östlichen Stadtbezirke Londons stand noch aus. Die verlorengegangene Spur der gesuchten schwarzen Limosine hatte man dabei freilich noch nicht wiedergefunden. Und auch Chloes Suche nach Anhaltspunkten zur Person Cyphers im weltweiten Netz war bisher ohne Erfolg geblieben. Nun aber erreichte den CI7 Boß in Anwesenheit von John Wayne Powerich und Tim Hackerman der Anruf eines gewissen Charles Wannabe, welcher noch bis vor kurzem sein Vorgänger auf diesem Posten gewesen war und nun - laut eigener Aussage gegenüber der Telefonzentrale - endlich Licht ins Dunkel der drängenden Angelegenheit des verschwundenen Henry Fist und des mit ihm untergetauchten Lou Cypher zu bringen vermochte. Jack nahm das zu ihm weitergeleitete Telefonat an seinem Schreibtisch entgegen, wobei er sich wiederum der Freisprecheinrichtung des Apparats bediente, um so den beiden anderen Anwesenden das Mithören des Gesprächs zu ermöglichen. Aus dem Lautsprecher des Telefons tönte es dabei sogleich: "Hallo, hören Sie mich?! Mein Name ist Charles Wannabe. Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin?!". Jack nickte und sprach: "Sie sind der Mann, von dem ich dieses schwere Amt hier übernommen hab. Und wenn alles zutrifft, was mir mein guter Freund Lukas Svensson so über Sie berichtet hat, dann dürften Sie wohl das britische Pendant zu einem gewissen Mister Mason sein, unter dem ich mal ein paar Jahre lang tätig sein durfte. Aber um das noch näher zu erläutern, ist uns jetzt beiden die Zeit sicher ein wenig zu kostbar, oder?! Kommen wir also gleich zum Anliegen Ihres Anrufs, Charles!". Am anderen Ende antwortete es: "Ihre Einstellung, ohne viel Palaber direkt auf den Punkt zu kommen, gefällt mir, Jack! Also, ich bin quasi durch einen Zufall darauf gestoßen, wo sich der von uns Beiden gleichermaßen gesuchte Lou Cypher momentan aufhalten dürfte. Die genaue Adresse ist demnach 21 Jump Street, London E1. Vielleicht könnten wir uns dort mit Ihnen und Ihren Jungs treffen, sagen wir mal in etwa einer Stunde?". Jack schaute auf seine Armbanduhr und nickte erneut. Dazu erwiderte er: "Das wäre dann also 22-0-0. Ich denke, das müßte zu schaffen sein. Ich stell hier noch rasch drei Einsatzteams zusammen, die dann vor Ort den Zugriff vorbereiten und durchführen werden. Und nur keine Sorge, noch vor der Ergreifung Cyphers hat dabei die Befreiung von Henry Fist natürlich absolute Priorität für mich und meine Leute!". Ein erleichtertes Aufatmen war vonseiten Wannabes zu vernehmen, und Jack ergänzte seine klare Zusage durch ein: "Ich merke schon, wir sind da ganz und gar einer Meinung! So, und nun gibt es für uns alle noch eine Menge zu tun! Wir sehen uns dann also in knapp einer Stunde am Einsatzort, Charles! Danke für Ihre Mithilfe! Und grüßen Sie auch Lukas von mir!". Damit beendete er per Knopfdruck das Telefonat, um sofort ein paar weitere zu tätigen, die allesamt der zügigen Vorbereitung der geplanten Aktion dienten.

An der Haustür des Anwesens der Al-Meida-Street 88 wurde in dieser Sekunde Frau Doktor Dorothy Kimble von Jane verabschiedet. Die Ärztin drückte der jungen Frau dabei noch rasch ein Röhrchen mit Tabletten in die Hand, wozu sie leise anmerkte: "Davon geben Sie Ihrer Freundin Miss Napolitani bitte zur Nacht täglich eine halbe Tablette, bei Bedarf später noch eine halbe, aber keinesfalls mehr. Es handelt sich bei diesem Präparat schließlich um ein sehr starkes Barbiturat. Darum gebe ich es auch lieber Ihnen als der Patientin selbst. In ihrem derzeitigen Zustand mach ich mir einfach zu große Sorgen, daß sich die gute Cathrin sonst vielleicht noch etwas antun könnte. Was genau es ist, was sie seit längerer Zeit immer häufiger um den Schlaf bringt, will sie mir ja schließlich partu nicht sagen! Und das, obwohl ich mir fast sicher bin, daß es ihr schon helfen würde, wenn sie sich über das, was sie so schwer belastet, einfach mal mit irgendjemandem aussprechen könnte. Nun ja, Sie können ihr ja in diesemPunkt vielleicht einmal gut zureden. Auf Sie hört sie doch noch am ehesten, nicht wahr?!". Und mit einem kurzen Blick auf ihre goldene Armbanduhr ergänzte sie: "Aber nun müssen Sie mich bitte entschuldigen! Ich möchte morgen schließlich schon in aller Frühe in Richtung Dublin aufbrechen, wo ich als Kind aufgewachsen bin. Weihnachten bin ich nunmal am liebsten zuhause". Ein wenig fröstelnd schlug Dorothy Kimble die Hacken ihrer rotglitzernden Schuhe gegeneinander und ergänzte seufzend: "Es ist eben nirgends besser als daheim! ... Also dann: Ein Frohes Fest, meine liebe Misses Webster, und auf ein gesundes Wiedersehen im neuen Jahr! Sollten Sie wider Erwarten zwischen den Jahren ärztlicher Hilfe bedürfen, so übernimmt übrigens die Kollegin Doc Holly Wood aus Grady meine Vertretung. Ihre Rufnummer finden Sie auf der Rückseite meiner Visitenkarte". Damit übergab die Doktorin Jane eines jener kleinen Kärtchen und begab sich dann raschen Schrittes mit ihrem kleinen schwarzen Köfferchen zum vor der Eingangspforte des Anwesens abgestellten Motorrad, mit dem sie wenige Augenblicke später laut knatternd davonfuhr. Jane aber begab sich wieder ins Haus und verabreichte der im Bett liegenden Cathrin gleich eine halbe Tablette des verordneten Medikaments, aufgelöst in einem Glas Wasser. Es dauerte noch einige Minuten, bis Cathrin daraufhin mit sichtlich entspanntem Gesichtsausdruck die Augen schloß. Jane aber saß noch lange neben ihrer schlafenden Lebensgefährtin, streichelte deren bleiche Wangen und schluchzte dabei leise: "Ach, liebste Kate, wann nur wirst Du endlich wieder Ruhe finden? Wenn ich Dir doch nur helfen könnte, mein Engel! Vielleicht hat ja die Frau Doktor recht, und Du müßtest unser schreckliches Geheimnis einfach nur mal einem Außenstehenden anvertrauen können?! Jemandem, der von Amts wegen zur Verschwiegenheit verpflichtet ist". Und während sie noch lange angestrengt über diese Möglichkeit nachdachte, löschte sie das Licht der Nachttischlampe und kuschelte sich unter der Bettdecke sanft an ihre noch immer sichtlich geschwächte, nun aber immerhin doch erst einmal ruhig schlummernde Freundin.

Henry Fist lag derweil ebenso geschwächt und dennoch weit unruhiger auf der Matraze in Cyphers Kellerloch, wo er inzwischen spürte, daß eine der Ratten mit ihrer ekelhaft feuchten Nasenspitze interessiert an einer seiner nackten Fußsohlen zu schnuppern begann. Er zog den Fuß auf dieser Seite ein wenig an, dann setzte er ihn ruckartig zurück, so daß das neugierige Tier in hohem Bogen in einer der Ecken des Raums gegen die Wand geschleudert wurde, wo es regungslos liegenblieb. Henry griff sich derweil an seinen Schädel, der immer noch brummte von den unzähligen Dingen, die Lou Cypher in den letzten Minuten von ihm hatte wissen wollen: Wie man das radioaktive Uran vom abgebauten Gestein trennte. Wie man unbedenklich transportieren konnte. Wie man es am besten lagerte. All das mußte er ihm erzählen, und Cypher hatte dabei förmlich an seinen Lippen geklebt und jedes Wort aufgeschrieben. Nun aber war er schon seit mehreren Minuten verschwunden und kehrte schließlich mit einer neuen Runde frisch zubereiteter Bloody Marys zurück. Wieder zwang er Henry Fist, seinen randvollen Becher bis zur Neige zu leeren. Doch diesmal trank Cypher selbst nichts, sondern warf seinen Becher samt Inhalt kurzerhand in eine der Ecken des Raumes, wo das scharfwürzige Wodka-Tomatensaft-Gemisch langsam an der Wand herunterlief und schließlich auf den Kopf und in den offenstehenden Mund der bewußtlosen Ratte tropfte, die davon wieder erwachte und im Zickzacklauf zwischen Wand und Matrazenkante aus dem engen Raum zu flüchten begann. Weit kam sie freilich nicht, denn schon nach wenigen Sekunden streckte sie erneut alle Viere von sich und blieb mit heraushängender Zunge und verdrehten Augen liegen. Cypher aber grinste bei dem Anblick nur noch breiter und zischte dann: "Ach Du armer, dummer Henry? Warum um alles in der Welt nur wolltest Du mich den Bullen ans Messer liefern? Das war kein netter Zug von Dir! Du dachtest doch nicht etwa, ich hätte bei unserer Herfahrt nicht bemerkt, daß man uns folgt?! Ich rieche nämlich dieses einfältige Gesetzeshüterpack auf mehrere Kilometer Entfernung! Nur deshalb bin ich ihnen ja auch noch nicht in die Falle gegangen. Apropos Falle! Nun sieh Dir doch nur mal dieses Rattentier an! Liegt breit da und grunzt! Genauso wirst Du in wenigen Augenblicken auch daliegen und quasi im Schlaf den Lohn Deines Verrats empfangen. Ich habe nämlich vor, dieses stinkende Loch hier noch im Laufe der nächsten Stunde in Schutt und Asche legen. Kein Stein wird mehr auf dem andern bleiben! Ja, das wird ein herrliches Feuerwerk, so ganz nach meinem Geschmack, sage ich Dir! Nur zu schade, daß Du von all dem nichts mehr mitbekommen wirst. Und das obwohl Du - im Gegensatz zu mir - ja sogar mittendrin statt nur dabei bist! Nun ja, tröste Dich, mein Lieber! Den Seinen gibts der Herr ja bekanntlich im Schlaf! Und da ich im Grunde genommen das umgekehrte Abbild jenes Herrn bin, halte ich es ebenso! Schlaf schön, mein Freund! Wir sehen uns dann in der Hölle wieder!". Henrys beide Augenlider wurden mit einem Male bleischwer und schlossen sich schließlich gegen all seinen Widerstand ganz, wobei seine Lippen noch ein letztes, stummes "Teufel, verfluchter!" zu formen versuchten.

Auch Lukas Svensson hatte, noch immer draußen vor dem Bürogebäude stehend, seine Augen einen Moment lang geschlossen, damit sie ihm der eisigkalt wehende Wind nicht entzünden konnte. Er trat dabei frierend von einem Bein aufs andere und stammelte leise: "Wo bleibst ... Du denn ... Charles?! ... Hast Du nicht ... was von ... sofort gesagt?! ... Dein Sofort ... kommt mir ... vor wie ... eine halbe Ewigkeit!". In diesem Augenblick hielt mit quietschendem Reifen Claudias Wagen neben ihm, und aus der heruntergekurbelten Seitenscheibe drang ein aufgeregtes Bellen an Svenssons Ohr. Es mischte sich sogleich mit der vertrauten Stimme Charles Wannabes, die ihm zuraunte: "Seit wann nehmen Sie denn alles, was ich sage, so wörtlich? Sie hätten ruhig auch in unserem Hausflur oder im warmen Büro auf mein Eintreffen warten können! Aber egal, jetzt steigen Sie erstmal rasch ein, damit wir uns am Ende hier nicht noch alle den Hintern abfrieren! Ich stell die Heizung auf volle Stärke, und wir lassen Sie dann erstmal ganz schnell wieder auftaun!". Erst jetzt, da sich neben ihm die Beifahrertür des Wagens öffnete, gelang es Lukas Svensson, seine eisigverklebten Augenlider wieder zu öffnen, und er erblickte zu seiner Uberraschung einen wattebärtigen Weihnachtsmann am Steuer jenes Autos, in dem er eigentlich dem Klang der Stimme nach Charles Wannabe vermutet hatte. Ungläubig mit beiden Händen über seine Augen reibend, fragte er schließlich: "Um Himmels willen, sind das etwa Sie, Charles?". Wannabe nickte grinsend, worauf Svensson - den gewöhnungsbedürftigen Aufzug seines Partners etwas genauer betrachtend - hinzufügte: "Und diese Kostümierung, ist das etwa ...?". Wieder nickte Wannabe und vollendete dann: "Ja, das ist in der Tat ihr Weihnachtsmannkostüm. Paßt mir übrigens wie angegossen! Sorry, aber Claudia hatte leider auf die Schnelle nichts anderes für mich, nachdem sie meine zerfetzten und besudelten Klamotten ein wenig vorschnell im Abfall entsorgt hatte! Ich laß das Ding auch gleich morgen früh auf meine Kosten blitzreinigen, so daß Sie es am Heiligabend wieder tragen können, fest versprochen! Und nun steigen Sie bitte endlich rein! Vierbein wachsen ja auf der Rückbank schon Eiszapfen aus der Nase!". Wortlos stieg Svensson auf der Beifahrerseite ins Auto und warf hinter sich rasch die Tür zu, wobei sich um ihn herum im ganzen Wageninnenraum sogleich eine wohltuende Wärme ausbreitete. Neben ihm aber drehte Charles Wannabe im roten Mantel den Zündschlüssel herum, um so den kurzzeitig abgestellten Motor wieder zu Laufen zu bringen. Zu seinem Entsetzen war dabei unter der Motorhaube nur ein verhaltenes Stottern zu vernehmen, dann herrschte Stille. Auch der zweite Startversuch führte zum selben Ergebnis. Hinter dem Lenkrad wurde Wannabe langsam ein wenig nervös. Er versuchte es ein drittes und viertes Mal, wieder ohne Erfolg. Pure Verzweiflung packte den Ex-Yard-Chef mit dem falschen Rauschebart. Lauthals jammerte er: "Schöne Bescherung!". Und während er noch einen fünften Anlauf startete, ergänzte er mit flehender Stimme in Richtung Bordcomputer: "Spring doch an! Bitte nur noch dieses eine Mal! Nun komm schon, Kid!". Lukas Svensson bemerkte an seiner Seite erstaunt: "Sie reden Ihren fahrbaren Untersatz wie einen Menschen mit Namen an, Charles? Ist das nicht ein wenig übertrieben?". Noch bevor ihm Steuermann Charles antworten konnte, röhrte der Motor des Autos laut auf und verfiel dann in ein sanftes, regelmäßiges Schnurren. Und übers ganze vollbärtige Gesicht strahlend, frohlockte Charles Wannabe: "Mag schon sein, aber es wirkt!". Ein lautes Kläffen in seinem Rücken suggerierte dabei ungeteilte, vierbeinige Zustimmung. Und ehe Lukas Svensson überhaupt noch in der Lage war, etwas auf den ungewöhnlichen Schulterschluß von Auto, Mensch und Tier zu erwidern, überrumpelte ihn Wannabe mit dem Einwurf: "Ach, und eh ich es noch vergesse! Ich soll Sie schön grüßen, und zwar von Ihrem Freund Jack aus L.A., den wir in weniger als einer halben Stunde bereits beim vermeintlichen Versteck Lou Cyphers treffen werden, sofern wir uns hier jetzt nicht noch länger mit streikenden Motoren und nichtigem Geplänkel aufhalten! In diesem Sinne: Let's go!". Und damit rauschte der vierzylindrige Schlitten mit Lukas und Charles auch schon mit konstant sechzig Sachen quer durch Londons City in östlicher Richtung vondannen.

Auch im CI7 Hauptquartier war der Zeitpunkt für den Aufbruch herangerückt. Insgesamt vier Mannschaftswagen standen auf dem hellerleuchteten Innenhof abfahrbereit, vor denen sich nun binnen weniger Minuten bereits zwei Teams mit je drei Männern und Frauen versammelten, die allesamt in hautenge olivgrüne Tarnanzüge gekleidet waren und darüber schußsichere Westen mit der Aufschrift CI7 trugen. Über die Westen hatten sie sich olivgrüne Anoraks gestreift, deren Reißverschlüsse sie nun nahezu synchron bis zum Hals hin zuzogen. Auf den Köpfen trugen sie hochgekrempelte dunkelgraue Skimützen, die sie sich später im Einsatz übers Gesicht ziehen sollten, um so - vom Gegner möglichst lang unerkannt - angreifen zu können. Beim dritten Team fehlte noch eines der drei Teammitglieder, während nun auch Jack, Powerich und Timmy aus dem Gebäude heraus auf den Hof kamen. Die Drei begaben sich, angeführt vom CI7 Chef, sofort zum vordersten Mannschaftswagen, dessen Hintertür weit offenstand und mit einer zusätzlichen Rampe versehen war. Jack deutete auf jenes Hilfsmittel und erläuterte: "Extra für Sie, Timmy! Ich denke nämlich, Sie sollten unbedingt mit von der Partie sein. Schließlich eilt Ihnen - nicht zuletzt durch meinen Freund Lukas - ein Ruf als exzellenter Hacker und Datenanalyst weit voraus. Bei der Gelegenheit, meine Herren, darf ich Ihnen dann auch gleich den Koordinator der bevorstehenden Aktion vorstellen!". Wie auf Stichwort sprang ein Mann im grauem Anzug aus dem Wageninneren heraus, der einen weiteren Tarnanzug samt Weste, Anorak und Skimütze in Händen hielt. Er übergab die Ausrüstung zunächst an Jack und reichte dann beiden Gästen die Hand, wozu er sprach: "Sehr erfreut, mein Name ist Youstan Texas. Ich bin momentan die Nummer Zwei in der Rangordnung des CI7, gleich nach unserem hochverehrten Jack hier!". Der Angesprochene aber nickte und bemerkte: "Und schon Anfang nächsten Jahres werde ich ihn zur Number One befördern lassen, wenn ich meinen Schreibtisch räume und wieder in die Staaten zurückreise, wo meine Familie bereits sehnsüchtig auf mich wartet. Fürs erste aber leitet er die heutige Aktion von der mobilen Einsatzzentrale aus". John Wayne Powerich und Tim Hackerman waren sichtlich überrascht. Und Powerich faßte sich schließlich ein Herz und hakte nach: "Und ich dachte, Sie würden die ganze Aktion aus der Ferne koordinieren?!". Jack aber schüttelte den Kopf, während er bereits begann, in die ihm überreichte Einsatzkluft zu schlüpfen: "Oh nein, koordiniert vom sicheren Chefsessel aus hab ich in den letzten Monaten bereits mehr als genug. Jetzt, wo es um alles geht, will ich endlich auch wieder mal selbst gegen den Terror ins Feld ziehen!". Und damit zog auch er sich den Reißverschluß seines eben übergestreiften Anoraks bis ganz nach oben zu und gesellte sich zu den beiden anderen Mitgliedern des dritten Teams. Youstan Texas aber half Timmy mit seinem Rollstuhl über die Rampe ins Fahrzeug der Einsatzzentrale, während John Wayne Powerich auf Geheiß von dessen Fahrer neben ihm vorn auf dem Beifahrersitz platznahm. Im Innern des Wagens blinkten und blitzten dem einfahrenden Hackerman zahllose Lampen und Knöpfe entgegen, die zwischen, über und unter diversen Monitoren, Mikrofonen und Lautsprechern angebracht waren. Und mit gewichtiger Stimme erklärte Youstan seinem beeindruckten Gast in aller Kürze die Einteilung der Truppe: "Team A unter der Leitung von Agent Smith trägt den Namen Apollo 11 und bildet im Rahmen einer Stürmung die mit der Aufklärung der Lage betraute Vorhut. Team B alias Apollo 12 steht unter der dem Kommando von unserem Special Agent Jack und agiert dabei als Hauptstoßtrupp. Und Team C, geleitet von Agent Neo, tritt unter der Bezeichnung Apollo 13 an und ist dann quasi die - gegen mögliche Angriffe aus dem Hinterhalt absichernde - Nachhut". Mit diesen Worten ergriff er ein vor ihm bereitliegendes Bluetooth-Headset, das er sich sogleich auf den Kopf setzte und dann durch das eingebaute Mikrofon eine rasche Verständigungsprobe zu allen drei Teams durchführte. Sichtlich zufrieden erklärte am Ende jenes Tests: "Alles klar, es kann losgehen! Die Fahrer der Einsatzfahrzeuge der Teams A, B und C sowie der Einsatzzentrale bitte die Motoren starten und abfahren!". Unter Timmys Rollstuhl begann es dabei ganz deutlich zu brummen und zu vibrieren, und nur Sekunden später setzten sich alle vier Mannschaftswagen - streng hintereinander fahrend - in einem kleinen Konvoi in Richtung der östlichen Bezirke Londons in Bewegung ...

22 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas agiert im Hintergrund, Wannabe wird zum leidgeprüften Rettungsassistenten]

Der heiße Flitzer Claudia Palmers jagte in schnellem Tempo über die - von Eis und Schnee notdürftig beräumten - Straßen Londons, vorbei an bunt geschmückten Schaufenstern und vorweihnachtlich hell erleuchteten Wohnhäusern. Der kleine Mischlingshund Vierbein staunte nicht schlecht über all den Glanz, der da an ihm in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit vorbeirauschte und drückte sich schwanzwedeln die kleine neugierige Hundeschnauze an einer der hinteren Autoscheiben platt. Charles Wannabe und Lukas Svensson hingegen hatten im Moment keine Augen für solch traumhaft schöne Aussichten. Sie tauschten sich - während Wannabe eisern die Straße vor sich im Blick behielt - im wortreichen Dialog über ihre gewonnenen Erkenntnisse aus. Nachdem Lukas seinem Partner zu dessen Erstaunen mitgeteilt hatte, daß es sich bei dem kleinen Mädchen Lilly um Hudson Butlers Tochter handelte, war nun Charles an der Reihe zu berichten, wie er beim Kombinieren zweier zufällig ganz nebenbei erhaltener Informationen einfach nur noch Eins und Eins zusammenzählen brauchte, um so auf die Adresse von Lou Cyphers Versteck zu kommen. Anerkennend nickte Svensson neben ihm: "Alle Achtung, mein Lieber! Aber so ist es eben oft: Da legt man ein paar lose Puzzleteile ineinander und bekommt mit einem Male ein vollständig neues Bild. Das hab ich heute übrigens auch von Ihnen bekommen, und das nicht nur, weil Sie jetzt hier in einem Weihnachtsmannkostüm neben mir hocken. Nein, ich bin vielmehr geradezu fasziniert von Ihrer selbstlosen Einsatzbereitschaft für Henry Fist und die mit ihm unter der Brücke lebenden obdachlosen Menschen". Etwas verlegen lächelnd erwiderte Charles Wannabe: "Ach, lassen Sie das doch, ich werd ja noch ganz rot!". Lukas aber musterte den neben ihm Sitzenden schmunzelnd von oben bis unten und fragte: "Wie, noch mehr rot, als sie es jetzt schon sind?!". Die beiden Männer grinsten sich daraufhin gegenseitig an, und schließlich meinte Wannabe: "Verzeihen Sie, wenn ich momentan kaum einen Gedanken an meinen merkwürdigen Aufzug und an Ihr Kostüm verschwende, aber ich bin jetzt eben in erster Linie nicht in Ihren Sachen, sondern in Sachen Henry unterwegs!". Und vor sich an der Ampelkreuzung auf das Straßenschild schauend, ergänzte er, das Lenkrad sogleich scharf nach links einschlagend: "Nur noch ein paar Meter, dann sind wir endlich da!".

Henry Fist erwachte in seinem schmutzigen Kellerverlies derweil kurzzeitig, wobei er sich in einer Art Dämmerzustand befand. Verschwommen nahm er in einiger Entfernung vor seinen Augen wahr, wie Lou Cypher von seinem Sitzplatz am Campingtisch aufstand und das darauf befindliche Netbook zuklappte. Der Hinkefuß drehte sich nach ihm um, wobei Fist instinktiv die leicht geöffneten Augenschlitze zumachte und dabei vortäuschte, tief und fest zu schlafen. Es dauerte einige Sekunden, bis sich der Gepeinigte schließlich wieder vorsichtig zu blinzeln getraute. Cypher stand nun wieder mit dem Rücken zu ihm und zischte dabei vor sich hin: "Das wäre also geschafft! PreMount und DCALive sind mit allen nötigen Informationen versorgt. Der Termin für die nuklearen Erstschläge steht fest, und der 'Final Countdown' ist damit in Gang gebracht. Und niemand vermag, mich jetzt noch zu stoppen! Noch bevor die Bullen überhaupt nur den Hauch einer Chance haben, mein Versteck finden, bin ich schon längst wieder wie vom Erdboden verschluckt und habe den ganzen Kasten hier und mit ihm auch gleich noch alle Beweise und den einzigen Augenzeugen plattgemacht". Zur Seite abtretend entzog sich daraufhin Cyphers Gestalt dem verschleierten Blick Henry Fists, der stattdessen nun an nahezu selber Stelle auf dem Kellerboden eine entzündete Kerze stehen sah, die langsam niederbrannte. Um sie herum aber glänzte der ganze Fußboden seltsam feucht, wobei jene merkwürdige Nässe sich bis direkt zu der Matratze, auf der er lag, auszubreiten schien. Henry Fist aber stieg zu seinem Entsetzen zugleich der beißende Geruch von Treibstoff in die Nase. Cypher, dieses Monster, mußte wohl in der Zwischenzeit - während er schlief - erst die Kerze aufgestellt und dann den ganzen Kellerboden mit Benzin übergossen haben, worauf er nun die herunterbrennende Kerze quasi als Zeitzünder benutzte. Vor Fists Augen brannte jenes unscheinbare Wachslicht inzwischen zielstrebig seinem Ende entgegen - jenem Ende, das dann unweigerlich auch sein eigenes Ende besiegeln würde. Ein qualvolles Ende, bei dem er entweder verbrennen oder aber ersticken würde. In panischer Todesangst spannte Henry Fist sämtliche Muskeln seines Körpers noch einmal verzweifelt an. Doch es half alles nichts, er konnte sich einfach nicht bewegen. So ließ er, im Angesicht des unausweichlichen Todes, sein Haupt und mit ihm auch noch seinen letzten verbliebenen Funken Hoffnung sinken und ergab sich - die Augen nun wohl endgültig für immer schließend - seinem Schicksal.

Dabei schien draußen vor der Tür die Rettung doch schon so nahe. Der Konvoi der CI7 Einsatzfahrzeuge war schließlich in diesem Moment gerade an seinem Ziel angelegt. Er hielt etwa 500 Meter vor der Einfahrt zum Hinterhof des sechsstöckigen Hauses in der Jump Street Nummer 21 in einer schmalen Seitengasse, wo sich die einzelnen Teams nun zu einer letzten Einsatzbesprechung auf einem ringsum von Hecken geschützten Parkplatz versammelten. Hier traf nun im Schrittempo auch der Wagen mit Wannabe und Svensson ein, wobei der aussteigende Charles Wannabe in seinem Kostüm sogleich die prüfenden Blicke aller Einsatzkräfte auf sich zog. CI7 Chef Jack aber lief derweil bereits freudestrahlend auf Lukas zu und schloß ihn fest in seine Arme. Eine Geste, die Svensson in gleicher Herzlichkeit erwiderte. Dann reichte der Mann aus L.A. auch Wannabe die Hand und sprach: "Nun, Santa, Sie müssen dann wohl jener Charles Wannabe sein, mit dem ich vorhin telefoniert und von dem ich schon so viel gehört habe". Und mit einem Blick auf Wannabes Aufzug ergänzte er, an seine Teams gewandt: "Wenn wir hier heute abend auch sicher nichts geschenkt bekommen werden, dann wollen wir doch zumindest mal alle diesen Cypher gemeinsam schön einpacken und in den Sack stecken, was Jungs?!". Die Daumen der versammelten Männer und Frauen gingen augenblicklich nach oben. Charles Wannabe aber rief feierlich: "Ho, Ho, Ho! Sorgen wir dafür, daß jeder hier heute abend bekommt, was er verdient hat!". Vom Wagen der Einsatzzentrale her kam der, inzwischen ebenfalls ganz in olivgrün gekleidete John Wayne Powerich auf sie zu und vermeldete: "Nun Sirs, das ist dann wohl mein Stichwort. Ich wurde nämlich gebeten, Ihnen das hier zu geben!". Damit überreichte er Lukas und Charles je ein komplettes Set Einsatzkleidung und zusätzlich einen schwarzen Gürtel inklusive daran befestigtem Funkgerät, wie auch er es bereits umgeschallt trug. Wannabe und Svensson schauten sich fragend an, dann wanderten ihre Blicke zu Jack, der augenzwinkernd sprach: "Ich habe mich vor unserem Aufbruch hierher in einer Einsatzbesprechung gemeinsam mit meinen Leuten dafür entschieden, daß ihr Drei meine Teams verstärken werdet. Mister Powerich, Sie begleiten mich und den Rest von Team B, Mister Wannabe kommt zu Team A. Und Lukas unterstützt Team C bei der Absicherung nach hinten! Einverstanden?!". Begeistert und ein auch wenig stolz über das Vertrauen, daß man mit diesem symbolischen Akt in sie setzte, nickten alle Drei und begaben sich dann zu ihren jeweiligen Teams. Jack aber baute sich vor der versammelten Mannschaft auf und verkündete: "Wir haben es heute abend, nach allem, was uns bekannt ist, vermutlich mit einem als extrem gefährlich und zum Äußersten entschlossen einzuschätzenden Gegner zu tun. Oberstes Ziel ist die Rettung der Geisel, erst dann kommt die Festnahme von Lou Cypher. Alles, was wir dabei an möglichen Quellen für Hinweise auf einen geplanten Anschlag vorfinden, wird sichergestellt und umgehend zur Auswertung an die Einsatzzentrale, welche von dem externen Datenanalyse-Experten Tim Hackerman verstärkt wird, weitergereicht. Was Lou Cypher angeht, so ist dieser unter allen Umständen lebend zu ergreifen und anschließend unter strengster Bewachung unverzüglich zur eingehenden Vernehmung in unser Hauptquartier zu bringen. Schließlich ist er für uns momentan die einzige greifbare Quelle, was die bestehende atomare Bedrohung angeht. Nur im äußersten Notfall darf von der Schußwaffe Gebrauch gemacht werden, und auch dann ist der Gegner durch einen gezielten Schuß lediglich kampfunfähig zu machen. So, ich denke, damit wäre alles gesagt! Also dann: Viel Erfolg und auf los geht's los! Los!".

Die Männer und Frauen der einzelnen Teams zogen sich ihre Skimützen tief ins Gesicht, so daß von ihnen allein noch die Augen durch die eingearbeiteten Sehschlitze erkennbar waren. Im Schutze der Dunkelheit liefen sie alle geduckt an Mauern und Häuserwänden entlang bis zu ihrem Einsatzziel und gingen vor dem Gebäude teamweise hinter mehreren Gebüschen in Deckung. Jack holte aus seiner mitgeführten Umhängetasche ein Nachtsichtglas hervor, drückte ein Auge zu und nahm dann durch das andere mit fachmännisch geschultem Blick in Sekundenschnelle die gesamte Umgebung wie auch das Gebaudedach genaustens in Augenschein. Powerich, der dabei unmittelbar hinter ihm stand und ihm über die Schulter schaute, aber flüsterte: "Alles ruhig! Ob wir uns am Ende doch in der Adresse getäuscht haben?!", Jack schüttelte den Kopf: "Oh nein! Das ist ganz sicher nur die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Glauben Sie mir, ich hab einen Riecher für sowas! Hier sind wir goldrichtig. Schauen Sie sich doch mal das ganze Gebäude von oben bis unten an und im Vergleich dazu all die Häuser links und rechts davon!". John Waynes Blick wanderte zwischen den recht weit auseinanderstehenden Hochhäusern hin und her, dann raunte er: "Ah, ich verstehe, was Sie meinen! Rechts und links brennt überall vereinzelt Licht in den Fenstern, und selbst die dunklen Fenster sind größtenteils zumindest mit weihnachtlichem Schmuck versehen. Nur im Zielgebäude gibt es in allen sechs Stockwerken kein einziges Licht!". Jack nickte, dann gab er seine Beobachtung an die Zentrale weiter, von der nun der Einsatzbefehl an Team A und damit auch an Wannabe erging. Angeführt von Agent Smith und Charles bewegte sich das Team, dessen beide andere Mitglieder zusätzlich einen Rammbock bei sich trugen, zu zweit in kurzen Sprüngen über den Hof, wobei sie zwischenzeitlich immer wieder hinter den - dort überall verstreut liegenden - leicht schneebedeckten Schutthaufen in Deckung gingen und die Gegend beobachteten. So dauerte es etwa fünf Minuten, bis sie schließlich am Hauseingang anlangten. Dorthin folgten ihnen innerhalb der nächsten zehn Minuten auch Team B und C auf die gleiche Weise. Gemeinsam beschloß man, im Keller mit der Stürmung des Hauses zu beginnen. Und so begab sich Team A schließlich durch den Hauseingang ins Innere, wo sie nun - unter Einsatz mitgeführter Taschenlampen - langsam auf leisen Sohlen die Kellertreppe herabstiegen. Team B machte derweil dicht an die Hauswand gepreßt eine Runde ums Haus, während Team C vom Hauseingang aus den Hof im Auge behielt. Dabei bemerkte Teamchef Neo auf einmal ein leises Knacken, das von drinnen aus einer der oberen Etagen zu kommen schien. Lukas setzte per Funk in seinem Auftrag umgehend die Einsatzzentrale darüber in Kenntnis, die ihrerseits nun den Männern um Neo grünes Licht zum Nachsehen gab, worauf diese dann - sich gegenseitig Deckung gebend - Schritt für Schritt die Treppen zum ersten Stock erklommen.

Team A stand derweil vor der verschlossenen Kellertür, an die einer der Agents das Richtmikrofon eines mit Kopfhörern ausgestatteten hochsensiblen Abhörgerätes hielt. Über die aufgesetzten Kopfhörer lauschte er einige Minuten, während seine Teamkollegin eine Wärmebildkamera rechts und links der Tür über die ganze Breite entlang der Kellerwand hin und her bewegte und dabei deren Monitor fest im Auge behielt. Flüsternd besprach man sich daraufhin zunächst teamintern, und schließlich meldete Charles Wannabe im Auftrag von Teamleiter Smith der Zentrale: "Apollo 11 hier! Im Kellerinnern ist nichts zu hören, außer einem leisen Stöhnen, das anscheinend von einer linksseitig der Tür im Kellerinnern in Bodennähe befindlichen Person herzurühren scheint. Neben einem offensichtlichen Heizkörper oder Ofen inmitten des Kellers sind keine weiteren größeren Wärmequellen auszumachen, somit auch keine zweite Person. Ich denke, wir sollten stürmen! Over!". Er ließ die Sprechtaste los, und vernahm leise rauschend die Stimme von Einsatzleiter Youstan: "Was ist denn ... Eurem Empfang?! ... Hört sich ... als wenn ... auf dem Mond wärt ... pollo 11?! ...". Dann brach die Verbindung gänzlich ab, und es war nur noch ein permanentes leises Rauschen zu vernehmen. Wannabe zuckte mit den Schultern, Agent Smith aber fluchte: "So ein Mist! Dieser blöde Keller mit seinen alten, dicken Außenwänden stört unseren Funkempfang. Egal, die Sache duldet keinen Aufschub mehr. Auch wenn es von draußen kein klares Go gibt, nach Lage der Dinge spricht dennoch alles für einen raschen Zugriff! Also los! Go!". Wannabe ging einen Schritt beiseite, und an seiner Stelle traten die beiden Teammitglieder mit dem Rammbock vor, mit dem sie durch zwei gezielte Vorstöße die Tür aus den Angeln schlugen, so daß sie - vor ihnen ins Kellerinnere krachend - den Weg freigab. Smith und seine beiden Agents, die den Rammbock am Eingang fallengelassen und stattdessen sogleich ihre Waffen in Anschlag gebracht hatten, aber stürmten daraufhin die düsteren Räumlichkeiten, wobei Smith mit vorgehaltener Maschinenpistole stur geradeaus marschierte, während vor ihm die beidem anderen mit Ausfallschritten nach links und rechts die Nebenräume sicherten. Wannabe aber hielt sich im Hintergrund und wartete stets, bis vor ihm klar und deutlich aus allen Richtungen ein "Sauber!" zu hören war. Dabei umspielte mit einem Male etwas weiches seine vorwärtsdrängenden Beine. Er schaute nach unten und erblickte zu seinem Erstaunen seinen vierbeinigen Freund, der mit großen Augen zu ihm hochsah. Charles Wannabe lächelte und sprach: "Na, Du alter Streuner, hast es ohne Dein neues Herrchen wohl nicht ausgehalten, da draußen bei Onkel Youstan und Rolling Tim, wie?!". Vorsichtig beugte er sich zu dem Hund herunter, der sofort voller Freude begann, ihm das Gesicht abzulecken. Charles kniff die Augen ein wenig zu und fuhr dem anhänglichen Vierbein sanft übers Fell, wozu er mit einem Strahlen in den Augen zugab: "Ja, ich hab Dich ja auch vermißt, mein Junge! Und nun komm, wir müssen hier noch einen Verbrecher jagen und einen Freund retten! Und immer schön in Deckung bleiben, nicht daß Dir hier unten noch etwas zustößt, hörst Du?!".

Team C hatte derweil alle sechs Stockwerke nahezu komplett abgesucht, als Agent Neo in einer der dortigen leeren Wohnungen ein ganzes Rudel Ratten bemerkte, welches offensichtlich auf Nahrungssuche war und dabei dann auch das von ihm bemerkte Knacken hervorgerufen haben mußte. Erleichtert verkündete er seinen Mitstreitern, die ihm aus dem Hintergrund mit gezückter Waffe Deckung gaben: "Entwarnung, hier ist nichts! Nur ein paar Ratten!". Der hinzugetretene Lukas Svensson aber, der den Lichtkegel seiner mitgeführten Taschenlampe in diesem Moment eher unabsichtlich an die Zimmerdecke gerichtet hielt, erwiderte sichtlich entsetzt: "Nicht nur Ratten!". Dabei wies der Zeigefinger seiner freien Hand in Richtung Decke, wo sich im Taschenlampenlicht ein weitverzweigtes, in sich verschlungenes Netz von Drähten abzeichnete, in deren Schnittstellen überall große Klumpen einer knetartigen Masse angebracht waren. Agent Neo aber griff sofort zum Funkgerät an Lukas' Gürtel, drückte die Sprechtaste und wisperte sichtlich aufgeregt: "Apollo 13 an Zentrale! Youstan, wir haben ein Problem! Hier oben im sechsten Stock ist die komplette Decke mit Plastiksprengstoff gespickt. Keine Ahnung, wo sich der zugehörige Zünder befindet. Aber wenn das hochgeht, dann bricht das gesamte Gebäude binnen Sekunden wie ein Kartenhaus komplett in sich zusammen. Sie müssen umgehend das A-Team zurückpfeifen, hören Sie!". Agent Neo ließ die Sprechtaste los, worauf eine Sekunde lang völlige Stille herrschte. Dann aber war aus dem Funkgerät die aufgewühlte Stimme Youstans zu vernehmen: "An alle Teams! Explosionsgefahr! Sofort das Gebäude räumen! Ich wiederhole: Alle sofort raus aus dem Gebäude!". Team C meldete sich mit einem klaren und deutlichen "Verstanden!" und kam dann unverzüglich der Aufforderung nach. Von Team A aber gab es keine Rückmeldung. Es steckte immernoch im Kellerfunkloch und hatte den Aufruf daher gar nicht erst empfangen. So sah sich Youstan Texas schließlich gezwungen, an Team B den Befehl zur Rettung von Team A zu erteilen. Jack ließ sich von Powerich das Funkgerät geben, drückte die Sprechtaste und meldete: "Alles klar, ich geh jetzt rein! Der Rest meines Teams bleibt draußen! Es reicht, wenn sich einer vom Team in Lebensgefahr begibt, und das sollte dann meines Erachtens nach in jedem Fall der Captain sein!". Damit hängte er sich das Funkgerät um den Hals, entsicherte seine Waffe und ließ sich die Taschenlampe mitgeben, worauf er zu John Wayne Powerich sprach: "Hören Sie, wenn mir etwas zustößt, dann informieren Sie bitte meine Tochter Kim und sagen ihr, daß ich sie liebe! Würden Sie das für mich tun?". Powerich nickte, erwiderte aber zugleich: "Ich denke, das tun Sie besser selbst, Sir! Viel Glück, Jack!". Die beiden Männer tauschten einen letzten festen Händedruck aus, dann begab sich Jack schnellen Fußes in den Keller.

Im Inneren jenes Kellers war das funktechnisch von der Außenwelt abgeschnittene Team A inzwischen im hintersten Raum angelangt. Agent Smith hatte die dort vorgefundene Flamme der nahezu komplett bis auf den Boden heruntergebrannten Kerze dank des raschen Zugriffs von zwei angefeuchteten Agentenfingern gelöscht. Im angrenzenden Raum war im selben Augenblick von einem der beiden anderen Agents auch Henry Fist entdeckt worden, der - zwar deutlich benommen und zu keinerlei Bewegung imstande, aber immerhin noch am Leben - auf seiner dreckigen Matratze lag. Mithilfe von Agent Smith wurde Fists völlig ermatteter Körper daraufhin dem sich niederknienden Charles Wannabe auf den Rücken gelegt. Henrys Arme aber schlang man dabei um Wannabes Hals. Anschließend richtete sich Charles vorsichtig wieder auf und ergriff dabei die Hände des geschundenen, nackten Mannes, um ihn anschließend auf direktem Wege durch den Keller über die Treppe ins Freie zu bringen. An der Kellertür lief er dabei fast noch Jack über den Haufen, der sowohl Wannabe als auch die ihm nachfolgenden beiden Agents auf ihrem Weg nach draußen zu deren Verwunderung deutlich zur Eile antrieb. Jack selbst hingegen rannte weiter ins Kellerinnere, wo Agent Smith bei seinem Eintreffen im hintersten Raum gerade dabei war, die dortigen Räumlichkeiten genauer zu untersuchen, als er nun auch unter dem bisherigen Matratzenlager Henry Fists in eine Art selbstgebastelten Holzrahmen mit Glasabdeckung eingelegt ein riesiges Drähtemeer mit überall darin verankertem Sprengstoff entdeckte. Inmitten der ganzen hochexplosiven Konstruktion aber hing ein umgebautes Handy, auf dessen Display eine Art digitaler Countdown lief, der in diesem Moment gerade 00:00:24 anzeigte. Ohne zu zögern, packte Jack den wie angewurzelt dastehenden Agent und schubste ihn in Richtung Ausgang, während er selbst sich geistesgegenwärtig noch rasch das Netbook vom Campingtisch unter den Arm klemmte und dann damit ebenfalls auf die Ausgangstür zustürmte. In mehreren Sätzen nahm er die Stufen der Kellertreppe und hechtete dann mit einem kühnen Sprung ins Freie. Hier lief er - in Gedanken den Countdown des Sprengsatzes im Keller weiter herunterzählend - noch etwa 50 Meter, bevor er sich mit dem Netbook vorm Bauch auf den Boden warf und die hervorgezogenen Arme anschließend über dem Kopf verschränkte. Wannabe stand derweil in sicherem Abstand vom Haus in einer Ecke des Hofes, wo er gemeinsam mit dem hinzugeeilten Svensson Henry Fist auf einer ausgebreiteten Decke abgelegt hatte. Lukas Svensson entledigte sich gerade seines Einsatzanoraks, um damit den entblößten und bibbernden Leib Fists notdürftig zuzudecken, während Charles an seiner Seite entgeistert auf den am Boden liegenden Jack starrte. Fragend blickte er den in seiner Nähe am Boden hockenden Agent Smith an, der daraufhin - noch völlig außer Atem - erklärte: "Da unten ... eine Bombe ... im Keller ... Jack und ich ... wir hatten ... nur noch 24 ... Sekunden!". Und Svensson ergänzte in seinem Rücken: "Und ganz oben unterm Dach ist auch alles voller Plastiksprengstoff! Aber zum Glück ist das ganze Gebäude ja komplett geräumt und damit nun völlig menschenleer. Jetzt sind da nur noch ein paar Ratten drin und ähnliches Getier". Wannabe nickte erleichtert und wischte sich dabei den Schweiß von der Stirn. Dann aber erstarrte er plötzlich und wurde mit einem Male leichenblaß. Erschrocken begann er, sich mehrfach um die eigene Achse zu drehen und hielt dabei verunsichert Ausschau ... Ausschau nach Vierbein. Er begann, den Namen seines Gefährten zu rufen - erst noch recht leise und voller Hoffnung, dann lauter und immer verzweifelter: "Vierbein! Vierbein! Vieeerbeeiin!". Doch nirgends im Hof war der Hund zu sehen. 'Oh, mein Gott!', schoß es Wannabe durch den Kopf, 'dann muß er noch da drin sein!'. In völliger Außerachtlassung des Risikos für sein eigenes Leben schickte sich Charles dabei bereits an, wieder auf den Hauseingang zuzustürmen, als ihn Lukas Svensson - seinem Partner jenen geplanten Akt der Verzweiflung ansehend - in letzter Sekunde am Kragen seines olivgrünen Anoraks packen und festhalten konnte. Und während Charles Wannabe in diesem Augenblick am anderen, komplett im Dunkeln liegenden Ende des Hofes noch ein merkwürdiges, intervallmäßig immer wieder an- und wieder abschwellendes, leises Pfeifgeräusch zu vernehmen glaubte, gab es vor seinen entsetzten Augen bereits eine Sekunde später fast zeitgleich zwei gewaltige Detonationen, die unter Erzeugung eines ohrenbetäubenden Lärms den Boden unter ihm spürbar erzittern ließen und unter denen das ganze Gebäude nun - wie es vorauszusehen war - völlig in sich zusammenbrach.

Einige Minuten vergingen, dann legte sich die riesige Staubwolke, die durch die Explosion des mehrgeschössigen Gebäudes entstanden war und aus der sich schließlich zur Erleichterung all seiner versammelten Teamkollegen auch Jack mitsamt dem sichergestellten Netbook in der Hand ganz langsam wieder erhob. Und während Lukas Svensson sich hustend und niesend den - auf ihn herabrieselnden - Staub von seinem Mantel zu klopfen begann, stand Charles an seiner Seite noch immer völlig erstarrt da und schaute auf jenen, sich langsam im staubigen Nebel abzeichnenden, meterhohen Geröllberg, an dessen Stelle vor wenigen Sekunden noch ein Hochhaus gestanden hatte. Wie in Zeitlupe ging er bei diesem erschütternden Anblick in die Knie, sein Kopf mit dem Wattebart senkte sich auf die staubbedeckte rotummantelte Brust, und seine schlaff herabhängenden Arme schlugen mit sich zu Fäusten ballenden Händen auf den staubbeschichteten, hartgefrorenen Erdboden. Seine tränenerstickte Stimme aber rief leise schluchzend immer noch den Namen seines verschollenen Begleiters: "Vierbein! Vierbein! Vierbein!". Und seinen schmerzerfüllten Gefühlen letztendlich freien Lauf lassend, fügte er jämmerlich weinend hinzu: "Nicht Du auch noch, Vierbein! Nicht Du! Nicht so! Lieber Gott, nicht doch schon wieder so!" ...

23 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas entdeckt eine neue Handyfunktion, Wannabe findet Trost]

Rasch kam vor dem - nach allen Seiten zur Straße hin von anderthalb Meter hohen Mauern begrenzten - Hof des eingestürzten Gebäudes in der Jump Street Nummer 21 eine immer größer werdende Menschenansammlung zustande, die aus schaulustigen Anwohnern der näheren Umgebung, vereinzelten Touristen und zahlreichen Reportern der verschiedenen Tagesblätter und Rundfunkanstalten gleichermaßen bestand. Die über Funk von Einsatzleiter Youstan Texas herbeigerufene Einheiten der Polizei sorgten an jenem Torbogen, durch den auch die Einsatzkräfte zuvor gekommen waren und der gleichzeitig den einzigen offenen Zugang zum Grundstück bildete, mit einer siebenköpfigen Sperrkette dafür, daß niemand unkontrolliert den Ort des explosiven Geschehens betreten oder verlassen konnte. In Begleitung zweier Beamter aber bahnte sich vom Inneren des Hofes her nun der - durch die Vorkommnisse der letzten Minuten von oben bis unten am ganzen Körper - sichtlich ergraute CI7 Chef mit dem erbeuteten Netbook in der Hand den Weg durch die Absperrung und das vor ihr herrschende Getümmel. Eine Reporterin sprang dabei auf ihn zu, hielt ihm ihr Mikrofon direkt unter die staubige Nase und fragte aufgeregt: "Clara Kent-Keiner vom Radiosender RADIO AKTIV 201.5. Sie sind doch Mister Browser, der Chef der hiesigen Antiterroreinheit, nicht wahr?!". Der Eingestaubte runzelte die schmutzige Stirn: "Mein Name ist Bauer ... B.A.U. wie die amerikanische Einheit für Verhaltensanalyse in Quantico und E.R. wie die Notaufnahme, in der auch Sie in wenigen Minuten landen könnten, wenn Sie mir und meinen Männern hier weiter den Weg versperren!". Die Reporterin Kent-Keiner hakte sichtlich echauffiert nach: "Kann ich Sie mit dieser Bemerkung zitieren?!". Der CI7 Chef aber nickte: "Allerdings, Sie können mich mal ... und zwar nicht nur zitieren, sondern auch endlich vorbeilassen". Damit drückte er sie und ihr Mikro mit einem gequälten Lächeln recht forsch zur Seite und setzte seinen Gang durch die Massen in Richtung des - auf dem nahegelegenen Parkplatz stehenden - Mannschaftswagens der Einsatzzentrale fort.

Unterwegs befreite Jack seine Kleidung dann allmählich auch von der dicken Staubschicht, die sie bedeckte. Geradezu liebevoll strich er zwischendurch immer wieder über das eingestaubte und leicht zerbeulte Netbook Cyphers, das er seit der Explosion wie seinen Augapfel hütete und von dessen Auswertung er sich insgeheim jede Menge neuer Erkenntnisse über den geplanten Atomangriff und dessen Hintermänner erhoffte. Und so überreichte er, endlich bei dem geparkten Mannschaftswagen angelangt, Youstan Texas und Tim Hakerman das Netbook auch geradezu wie ein rohes Ei. Tim Hackerman betrachtete sich das Gerät daraufhin eingehend und murmelte kopfschüttelnd: "Na, mal sehen, ob sich damit noch was anfangen läßt?! Ich hoffe nur, die Festplatte hat nichts abbekommen, dann besteht nämlich zumindest noch Hoffnung". Und damit machte er sich mit einem kleinen Schraubenzieher, den er aus seinem am Rollstuhl befestigten Notfallkoffer hervorgeholt hatte, an den Ausbau besagten Speichermediums. Jack aber nutzte die Zeit, um gegenüber seinem Koordinator Youstan noch einmal ein Resume des bisherigen Einsatzverlaufs zu ziehen, wobei er ausführte: "Das Gebäude ist ein einziges Trümmerfeld. Schwer verletzt oder gar getötet wurde zum Glück niemand, aber ein paar kleinere Verletzungen bei den Detonationen durch einzelne abgesprengte Gesteinsbrocken ließen sich natürlich nicht vermeiden". Bei diesen Worten griff er sich mit schmerzverzerrter Miene an den linken Oberarm, wo sich unter einem breiten Riß im Stoff des Anoraks eine leichtblutende Fleischwunde abzeichnete. Youstan Texas besah sich die Verletzung seines Chefs etwas genauer und meinte dann besorgt: "Also Jack, das sieht aber gar nicht gut aus! Ich glaube, das muß genäht werden!". Jack aber legte sich die rechte Hand auf die Wunde, während er mit der linken müde abwinkte: "Ist nur ein Kratzer! Jetzt haben wir erstmal Wichtigeres zu tun, als hier Putz- und Flickstunde abzuhalten. Also weiter im Text: Die Geisel Henry Fist ist am Leben, aber dem ersten Augenschein nach in einem erbärmlichen Zustand. Von Lou Cypher hingegen fehlt jede Spur, vermutlich war er schon bei unserem Eintreffen längst über alle Berge ...". Aus dem Hintergrund aber rief eine leise Stimme: "Also das glaube ich eher nicht!". Es war Timmy, der Jack nun an dieser Stelle ins Wort fiel. Dabei deutete er auf einen der im Einsatzwagen befindlichen Monitore und erläuterte: "Unser Eintreffen hier war um 22.17 Uhr. Um 22.15 Uhr aber wurde laut einem auf der Festplatte des mir von Ihnen übergebenen Netbooks befindlichen ICQ-Verlaufsprotokoll der letzte Nachrichtenaustausch vonseiten Cyphers, der dort den vielsagenden Nickname LordDeVil benutzte, mit den Sätzen beendet: 'Soweit die von mir dem abtrünnigen Verräter entlockte detaillierte Bauanleitung eines Uran 235 Atomsprengkopfes. Leite um 22.55 Uhr die Liquidierung des Mannes innerhalb der völligen Vernichtung meines Verstecks sowie aller Spuren, die von mir zu ihnen Beiden führen könnten, ein und überwache dabei zur Sicherstellung des Gelingens die ganze Aktion bis zur Detonation vom Hof aus. Gute Nacht!". Jack aber fluchte entrüstet: "Verdammt, dann ist dieser Mistkerl vermutlich noch immer vor Ort! Youstan, alarmieren Sie umgehend die Teams und alle Polizeikräfte! Das gesamte Gelände des Hofes sowie dessen unmittelbare Umgebung ist gründlichst nach gesuchtem Lou Cypher zu durchkämmen!". Und während nun auch Jack sich daraufhin im Eiltempo auf den Weg zurück zum Explosionsort machte, drehte er sich noch einmal ganz kurz zu Tim Hackerman um und meinte anerkennend: "Hervorragende Arbeit, Timmy! Solche Leute wie Sie braucht unsere Eliteeinheit! Melden Sie sich Anfang nächsten Jahres doch mal bei Youstan! Er ist da nämlich noch auf der Suche nach einem Nachfolger für seinen jetzigen Posten!". Timmy aber war von diesem überraschenden Jobangebot sichtlich begeistert und rief dem davonrennenden CI7 Boß nach: "Danke, Jack! Das mach ich!".

Lukas Svensson hockte derweil neben dem noch immer auf dem eisigen Erdboden knienden, ununterbrochen bitterlich weinenden Charles. Er hatte seinen Arm um die zitternden Schultern seines Partners gelegt und wischte ihm mit den staubigen Fingern die Tränen von den Wangen. Charles aber schluchzte: "Es ist jedes Mal das selbe! Da hat man jemanden in sein Herz geschlossen, und dann kommt so ein verfluchter Schicksalsschlag und entreißt einem von einer Sekunde auf die nächste das geliebte Wesen! Dabei hatte ich mir damals als Kind nach dem gewaltsamen Tod meiner Mutter doch fest geschworen, daß ich mich nie wieder gefühlsmäßig so sehr an jemand binden werde, daß es mir das Herz zerreißen kann, wenn er plötzlich nicht mehr da ist! Und jetzt hab ich es doch wieder gewagt und muß erneut einen derart schmerzlichen Verlust wegstecken. Mein Gott, Lukas, es tut immer wieder so verdammt weh! Wann wird das bloß endlich aufhören, daß das einem so weh tut?". Nochmals entfernte Lukas Hand eine Träne aus Wannabes Gesicht, und hauchte dabei leise: "Hier auf dieser Welt hört das niemals auf, mein Freund! Immer wieder weden wir von uns geliebte Wesen an den Tod verlieren. Das Erdenleben an sich ist nunmal ein ununterbrochenes Kommen und Gehen! Und dem Ungläubigen kann man da auch gar keinen Ausweg anbieten aus jener zutieft bedrückenden Vergänglichkeit des Seins. Dem, der da glaubt, allerdings bleibt als Trost und Hoffnung die Ewigkeit. Jene Zufluchtstätte jenseits der Todesgrenze, von der die Heilige Schrift sagt: 'Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein'". Charles' getrübter Blick wurde mit einem Male wieder klarer und seine Augen begannen zu strahlen: "Aber, das .. das ist doch die Offenbarung des Johannes, Kapitel 21, Vers 4. Meine Mutter Simone hat mir als kleiner Junge diese Bibelstelle immer als Trostpflaster vorgelesen, wenn ich mal wieder heulend mit einer großen Schmarre von einem meiner kindlichen Streifzüge durch Wald und Feld zurückkehrte. Und dann hat sie mir einen Kuß auf die Stirn gehaucht und geflüstert: 'Siehst Du, mein lieber Charliebär, alles wird bald schon wieder gut!'". Nun stand auch Lukas Svensson eine verstohlene Träne im Auge, und so näherte er spontan seine Lippen der staubigen Stirn seines Partners, drückte sie sanft darauf und wisperte: "Alles wird wieder gut, Charles!". Anschließend entließ er Charles aus seiner Umarmung, richtete sich wieder auf und half dann auch seinem Partner wieder auf die Beine. Und während Charles Wannabe sich daraufhin etwas weniger bedrückt als zuvor zu dem im zwischenzeitlich eingetroffenen Krankenwagen versorgten Henry Fist begab, tippelte Lukas Svensson gedankenversunken mit leicht gesenktem Haupt auf dem Hofgelände in die entgegengesetzte Richtung - dorthin, wo sich das blendende Flutlicht der aufgefahrenen Scheinwerfer all der Trubel und das Menschengewimmel von Rettungseinsatz und Spurensuche im Dunkel der Nacht zu verlieren begann.

Er mußte nach Charles Wannabes anrührender Kindheitsgeschichte über seiner Mutter unweigerlich an seine eigenen Eltern denken, die er ja vor vielen Jahren gerade zur Weihnachtszeit unter kaum weniger schmerzlichen Umständen durch einem Autounfall verloren hatte. Wie bitterlich hatte er damals monatelang geweint?! Wie wütend war er auf das Schicksal gewesen und auf Gott und die Welt, die ihm das Liebste im Leben unwiderbringlich genommen hatten?! Ja, er verstand nur allzugut, wie Charles sich damals gefühlt haben mußte und wie er sich heute fühlte! Auch Lukas Svensson hatte sich damals vorgenommen, nie wieder einen Menschen so nahe an sich heran zu lassen, daß ihm dessen Verlust noch einmal so weh tun könnte. Doch was war das denn noch für ein Leben, wenn man sich dem Gefühl der Liebe mit all ihren möglichen Auswirkungen völlig verschloß? Nein, ein Leben ohne Liebe, das war geradezu so, als ob man zu Lebzeiten schon tot wäre. Und so war er das Wagnis, einen Menschen zu lieben, doch immer wieder eingegangen - erst mit Nina, dann mit Yelena. Und er war sich sicher, auch Charles würde - sobald sich der erste Schmerz des Verlustes wieder ein wenig gelegt hatte - der Liebe noch einmal eine neue Chance geben, wobei Lukas Claudia als die momentan aussichtsreichste Kandidatin für einen solchen Schritt ansah. Ein leises Rascheln in seiner unmittelbaren Nähe riß Lukas jäh aus seinen Gedanken. Er kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was jenes Geräusch wohl verursacht haben könnte. Seine Pupillen gewöhnten sich dabei nur langsam an die ihn umgebende Finsternis, dann aber erspähte er die Umrisse einer Hecke und der hinter ihr gelegenen Mauer. Ein kurzes Knacken war hinter der Hecke zu vernehmen, dann sah er plötzlich einen menschlichen Schatten, dessen Hände die Oberkante der Mauer umfaßten und sich an ihr hochzuziehen versuchten. Binnen Sekundenbruchteilen hatte der Schatten sich mit beiden Armen und der oberen Körperhälfte auf der Mauerkrone aufgestemmt und schickte sich nun bereits an, auch den Unterkörper dorthin nachzuziehen. Lukas aber rief: "Hey Sie, wer sind Sie und was machen Sie da? Kommen Sie sofort wieder herrunter!". Der Schatten wendete sich und brachte seinen Leib auf der Mauerkrone zum Sitzen, und Lukas blitzten zwei grünfunkelnde Augen entgegen. Dann erhob die dunkle Gestalt einen ihrer Arme, wobei Lukas in ihrer Hand so etwas wie eine Pistole zu erkennen glaubte. Ein Schuß peitschte durch die Nacht, wobei das abgefeuerte Geschoß Lukas beim Aufprall in Brusthöhe seinen Körper sofort zu Boden riß. Nur mühsam bäumte sich der Oberkörper des Exinspektors noch einmal auf, und griff sich - noch immer in das giftgrüne Augenpaar des sitzenden Schattens blickend - mit der rechten Hand an die Brust. Dann erhob er jene, inzwischen zusammengeballte Hand und schleuderte sie wutentbrannt der Gestalt auf der Mauer entgegen, wobei sich aus der Umklammerung seiner Finger ein quaderförmiger Gegenstand löste, der am Ende seiner elliptischen Flugbahn zielsicher am Kopf des Schattens aufschlug. Der Schatten selbst aber fiel daraufhin rücklings von der Mauerkrone herab.

Grelles Scheinwerferlicht traf in dieser Sekunde auf den nun wieder flach am Boden auf dem Rücken liegenden Lukas Svensson, dessen Augen weit aufgerissen waren und dessen Regenmantel über dem Herzen ein deutliches, kreisförmiges Brandloch aufwies. Jack aber kam von ferne auf seinen Freund zugestürmt, warf sich neben ihm auf die Knie und hob dessen Oberkörper mit seinem untergelegten Arm an. Mit der freien Hand befühlte er eingehend die Eintrittsstelle des Geschosses und stammelte dabei: "Lukas, Lukas! Na komm schon, jetzt sag doch was, mein Freund!". Lukas Svensson aber gab keinen Mucks von sich. Er lag einfach nur regungslos da in Jacks Arm. Jack aber riß seinen Kopf nach hinten und brüllte in Richtung des Scheinwerfers: "Verdammt! Wo bleibt denn der Sanitäter!". Da zupfte es leicht an seinem Arm und eine leise Stimme sprach: "Du solltest hier nicht an meiner Brust spielen, mein Freund, sondern lieber mal einen Blick auf die andere Seite der Mauer werfen. Wenn mich nicht alles täuscht, dann liegt da nämlich ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk für Dich!". Erst jetzt erfühlte Jack unter Svenssons Regenmantel etwas Hartes. Es war zweifelsohne jene schußsichere Weste, die er ihm vor dem Einsatz durch Powerich hatte überreichen lassen und die Lukas danach noch gar nicht wieder abgelegt hatte. In seinem Arm rappelte sich der noch etwas benommene Svensson rasch wieder hoch und schaute dabei auf seinen durchlöcherten Trenchcoat, wozu er raunte: "Geht ja noch, ich werd mir einfach von der Innenseite einen Fahrradschlauchflicken draufkleben. Oder ich mach mir von außen Ninas alten knallgelben Sonnenbutton mit dem Slogan 'Atomkraft, nein Danke!' drauf". Jack aber grinste ihn sichtlich erleichtert an: "Du alter Spinner! Hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt, mein Lieber! Und jetzt steh endlich auf! Lang genug rumgelegen und Leute erschreckt! Zeit zum Geschenkeauspacken!". Jack erhob sich und half dann auch Lukas auf die Beine. Dabei fiel sein Blick auf die Hecke mit der dahinterbefindlichen Wand und schweifte dann noch einmal in Richtung der ein wenig abseits gelegenen Hochhausruine, wobei er sachte den Kopf schüttelte und überlegte. Lukas bemerkte das eigentümliche Verhalten seines Freundes und fragte besorgt: "Ist was mit Dir, Jack?". Der CI7 Boß aber raunte: "Merkwürdig, nach unserer Runde ums Haus vorhin hätt ich echt schwören können, daß hier an dieser Stelle vor der Explosion noch eine von diesen alten, blauen und typisch britischen Polizeirufzellen gestanden hat. Na, da hab ich mich dann wohl geirrt!". Mit einem Satz war Jack daraufhin an der Mauer, mit einem weiteren hockte er auf ihr, und mit einem dritten war er schließlich hinter ihr verschwunden. Von dorther aber vernahm man eine Sekunde später das Klicken eines Handschellenpärchens, dann das mehrfach intensive Klatschen einer Handinnenfläche auf ein paar Wangenknochen. Und nach einem leisen Aufstöhnen und Röcheln vernahm man wieder die feste Stimme Jacks, die verkündete: "Lou Cypher, nehme ich an?! Ok, nun dann, Sie sind festgenommen! Sie haben das Recht zu reden! Und das wars dann auch schon mit Ihren Rechten, was mich angeht. Und sollten Sie bei Ihrer Festnahme und Überstellung irgendeine linke Tour vorhaben, dann mach ich Sie mal mit meiner Rechten bekannt!". Ein kurzes Rascheln war zu hören, dann ein verdutztes: "Was ist denn das?! Lukas, sag mir jetzt bloß nicht, Du hast diesen Mistkerl mit einem Wurf Deines Handys zur Strecke gebracht?!". Lukas aber grinste und rief über die Mauerkrone hinweg: "Was denn?! Ich hab mich doch nur an das gehalten, was meine Frau mir gesagt hat, als sie mir das Handy schenkte! Sie meinte, es sei nur für den Notfall! Und wenn das hier jetzt kein Notfall war, also dann weiß ich ja nicht!".

Im Rettungswagen hockte zur gleichen Zeit Charles Wannabe an der Seite Henry Fists, dem es nach der medizinischen Versorgung seiner unzähligen Wunden und der intravenösen Gabe von Kochsalz- und Glukoselösung sowie der Injektion eines starken Schmerzmedikaments schon ein wenig besser zu gehen schien, und hielt dessen eiskalte Hand. Wannabe sah Fist dabei tief in die halbgeschlossenen Augen und flüsterte: "Alles wird gut, mein Lieber! Jetzt werden Sie erstmal schnell wieder gesund, und dann kümmere ich mich um Sie! Wir besorgen Ihnen einen Job und eine kleine Wohnung und bringen Ihr Leben endlich wieder in geordnete Bahnen zurück! Darauf haben Sie mein Wort!". Und als Henry Fist daraufhin ein paar Minuten später seelenruhig und mit einem sanften Lächeln eingeschlummert war, ließ Charles dessen Hand behutsam wieder auf die Trage zurückgleiten und verließ auf leisen Sohlen den Rettungswagen über den hinteren Ausstieg, dessen Türen sogleich vor seinen Augen geschlossen wurden, worauf das Fahrzeug rasch in Richtung des St.Peter Memorial Hospitals entschwand.

Wannabe aber begab sich, einen letzten traurigen Blick auf die Ruinen des ehemaligen Hochhauses werfend, mit einem leisen "Machs gut und flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund!" langsamen Schrittes in Richtung Torbogenausgang und von dort zu Claudias Wagen zurück, wo er Minuten später gerade noch Zeuge wurde, wie der abgeführten Lou Cypher von Jack in den Frachtraum eines der - mit vergitterten Panzerglasfenstern ausgestatteten und von sechs seiner Männer streng bewachten - Mannschaftswagen verladen wurde. Ungläubig schaute er auf das grinsende Monster mit den grünfunkelnden Augen. Dabei ballten sich seine Hände zu Fäusten und wutschnaubend brüllte alles aus ihm heraus: "Ist das etwa dieses Untier?! Cypher, Sie elender Dreckskerl, ich schwöre Ihnen, Sie werden für all das auf Heller und Penny bezahlen, was sie Henry Fist und meinem kleinen Vierbein angetan haben! Ich werde solange ich lebe nicht eher Ruhe geben, bis Sie endlich bekommen haben, was Sie verdient haben! Und das ist keineswegs eine kalte Drohung, sondern ein heißes Versprechen!". Lou Cypher aber spie im Einsteigen vor ihm aus und meinte unbeeindruckt: "Ach, fahr doch zur Hölle!". Und an den Rest der um ihn Versammelten ergänzte er etwas lauter: "Fahrt doch alle zur Hölle!". Jack aber hinter ihm schubste ihn reichlich unsanft ins Wageninnere und knurrte dabei verärgert: "Sie zuerst, Cypher!". Dann ließ er hinter ihm die schweren Eisentüren zufallen und verschloß sie von außen insgesamt siebenmal.

Charles Wannabe aber reichte erst ihm, dann auch allen anderen Männern und Frauen aus den Reihen des CI7 und ganz zuletzt noch Powerich und Timmy seine Hand und verabschiedete sich dankend von ihnen. Dann aber ging er zu Lukas Svensson und legte ihm den Arm um die Schulter, wozu er wisperte: "Vielen Dank für alles, mein Freund! Sie haben jetzt echt einen Stein bei mir im Brett, wie man so schön zu sagen pflegt!". Lukas lächelte gerührt: "Das haben Sie aber schön gesagt, und vor allem so passend. Sie müssen nämlich wissen, ich sammle schon seit meiner Kindheit Steine!". Charles Wannabe sah ihn ein wenig überrascht an, wobei sein Arm von Svenssons Schulter den Rückzug antrat. Dann aber schmunzelte er: "Und ich dachte eigentlich immer, wenn jemand in ihrem Alter Steine sammelt, dann wären das Gallen- und Nierensteine!". Lukas Svensson aber schüttelte milde den Kopf hin und her: "Ach Charles, schon wieder ganz der Alte, was?! In mancher Beziehung ändern Sie sich ja wohl anscheinend doch nie!". Und während nun auch Charles auf dem Weg zu Claudias Wagen den Kopf zu schütteln begann, ergänzte sein Partner schmunzelnd: "Und im Grunde genommen ist das auch gut so! Denn irgendwie würde mir da sonst etwas fehlen!". Wannabe aber hatte sich bereits auf der Fahrerseite im Innern des Palmerschen Flitzers niedergelassen, von wo aus er jetzt verkündete: "Sagen Sie mal, Lukas, es würde Ihnen doch sicher nichts ausmachen, für Ihren Heimweg die Ubahn zu nehmen, oder?! Ich hab da nämlich noch eine ganz wichtige Sache zu erledigen und würde anschließend Misses Palmer gern ihr Auto wieder zurückbringen!". Lukas aber nickte: "Schon ok, Charles! Wir sehen uns dann morgen abend, pünktlich um 18 Uhr in der Kirche?!". Wannabe schloß, den Daumen der rechten Hand nach oben streckend und gleichzeitig ein Auge zudrückend, die Autotür, wobei er noch ausrief: "Geht klar, alter Schwede!". Dann legte er einen Kavaliersstart der Extraklasse hin und rauschte vondannen. Lukas aber verabschiedete sich noch rasch von Jack und seinen Leuten. Dabei lud er seinen amerikanischen Freund auch zum Krippenspiel in der St.Pauls Cathedral ein. Jack aber lehnte bedauernd ab: "Sorry, Lukas! Aber auf mich wartet morgen vormittag schon ein längstgebuchter Flug in die Staaten zu einem Weihnachtskurzurlaub. Ich möcht die Feiertage nämlich gern bei meiner Kim verbringen, weißt Du?! Ich meine, das verstehst Du doch?!". Und Lukas antwortete: "Aber klar doch! Grüß Deine Tochter bitte ganz lieb von mir! Ich wünsche Euch Beiden von ganzem Herzen recht besinnliche und schöne Feiertage!". Dabei drehte er sich noch einmal im großen Bogen zu allen anderen aufbruchbereiten Agents um und ergänzte: "Und Ihnen allen natürlich auch ein Frohes Fest im Kreise Ihrer Lieben!". An Timmy und Powerich gewandt aber sprach er: "Und für Euch gibts keine Ausrede, meine Freunde! Wir sehn uns morgen abend zum Krippenspiel! Verstanden!". Powerich und Tim Hackerman nickten lachend. Dann begaben sich die Umstehenden allesamt in ihre Fahrzeuge und binnen weniger Augenblicke ging der ganze Konvoi samt Gefangenentransport in Richtung CI7 Hauptquartier auf die Reise, wobei aus dem Autoradio des vorderen Transporters der Weihnachtsklassiker 'Wonderful Dream' von Melanie Thornton zu vernehmen war. Lukas aber machte sich - leise die wundervolle Melodie der viel zu früh verstorbenen Künstlerin vor sich herpfeifend - auf den Weg zur nächstgelegenen Ubahnstation, von der aus es dann schnurstracks und ohne Umwege nach Hause zu seiner geliebten Yelena gehen sollte ...

24 UHR - 23. Dezember 2009 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas kehrt noch einmal zum Ausgangspunkt zurück, Wannabe auch]

Der Konvoi mit den vier Mannschaftswagen des CI7 bahnte sich, so rasch es die immernoch recht glatten Straßenverhältnisse zuließen, den Weg durch das nächtliche London zurück zum Hauptquartier. Im Wagen der Einsatzzentrale aber wurde schon eifrig an der Auswertung der ICQ-Protokolle von der Festplatte aus Lou Cyphers Netbook gearbeitet. Timmy, der dabei mit der letzten Sitzung begonnen hatte, war inzwischen an einer der wichtigsten Stelle angelangt, und las Jack und Youstan Texas, die sich mit ihm im Wagen befanden, den alles entscheidenden Satz vor: "Den genauen Starttermin unserer Aktion 'Final Countdown' finden Sie hier: 010-120150-006". Und gedankenversunken ergänzte er: "Ob das die Telefonnummer zu einem weiteren Hintermann der Organisation mit Kenntnis des Termins ist?! Oder aber vielleicht auch der Zahlencode für ein Schließfach, in dem der Angriffsplan liegt?!". Jack, der gerade eben ein Telefonat mit dem St.Peter Memorial, in das Henry Fist inzwischen eingeliefert worden war, beendet hatte, aber sah ihn recht verdutzt an und meinte: "010-120-150-006, sagten Sie? Ganz genau diese Zahlenreihe hat nach Auskunft seines behandelnden Artzes Dr.McEntire auch Henry Fist auf dem Weg ins Krankenhaus immer wieder vor sich her gesprochen, wobei er sich die Ziffernkombination anscheinend in Dreiergruppen eingeteilt hatte". Timmy nickte anerkennend: "Kluger Kopf, dieser Fist! Auch wenn es meiner Ansicht nach noch einfacher für das menschliche Hirn ist, sich so eine lange Zahl gedanklich in Blöcke von je 4 Ziffern zu zerlegen, da man sie sich dann oft wie eine PIN, ein Datum oder eine Unrzeit ...". Tim Hackerman stockte plötzlich in seinen Überlegungen, dann aber rief er begeistert aus: "Halleluja, genau das ist es! 0101-2015-0006. Das ist der 01.01.2015 um 00:06 Uhr. Das ganze ist also nicht irgendein Zahlencode, der zum Angriffstermin führt, sondern der Termin selbst!". Jack aber klopfte ihn anerkennend auf die Schultern: "Bravo, Timmy! Ich sags ja, wenn wir Sie nicht hätten! Und nun schaun Sie sich mal die älteren ICQ-Protokolle an, ob es da nicht irgendeine Spur zu den beiden Hintermännern mit den Nicknames PreMount un DCALive und ihren möglichen Motiven gibt!". Timmy nickte: "Wird gemacht, Jack! Stets zu Diensten, Sir!". Und dann setzte er sich sofort wieder an einen der Monitore.

Vor einem Monitor ganz anderer Art saß wenige Minuten später auch Charles Wannabe, über die verstaubte Weihnachtsmannkluft einen klinisch sauberen, hellgrünen OP-Kittel geworfen und starrte auf die schwache aber regelmäßige Sinuskurve, die das Gerät vor ihm aufzeigte. Bis auf den von jenem Gerät ausgehenden nahezu sekündlich wiederkehrenden Piepton und einem ebenso regelmäßigen leisen Pfeifen im Kolben eines Beatmungsgerätes war es in dem Zimmer, in welchem er auf einem Holzstuhl saß, mucksmäuschenstill. Hinter der Tür zum angrenzenden Flur hingegen nahm sein Ohr immer wieder Stimmen und Schritte wahr - Schritte, die langsam näherkamen und sich dann ebenso langsam wieder entfernten. Seine Finger hielten dabei die zarte, schlaffe Hand jener Frau, die - an all die Gerätschaften im Raum angeschlossen - vor ihm in einem Patientenbett lag, und deren weitoffene Augen starr und unbeweglich zur Decke blickten. Charles Wannabe aber erhob nun seinen bislang gesenkten Blick ebenfalls in Richtung Zimmerdecke und begann zu flüstern: "Ach Janet, wie lange hab ich nicht den Mut gefunden, Dich hier zu besuchen. Hier im Komabereich des Pflegeheims 'Heavensdoor', wo man Dich nach Deinem Aufenthalt im Gefängnislazarett vor zwei Monaten untergebracht hat, als feststand, daß Du nie wieder aus dem Koma erwachen wirst. Weißt Du, ich wollte Dich einfach nicht sehen, und das gleich aus mehreren Gründen. Zum einen war ich unheimlich wütend auf Dich, weil Du mich belogen und betrogen hast und weil Du mit diesem verfluchten Derek Crawler gemeinsam Deinen eigenen Vater hinterhältig und kaltblütig umgebracht hast. Ich konnte und wollte das einfach nicht verstehen, wie dieser Kerl Dich soweit bringen konnte. Zum anderen aber wollte ich Dich vor allem nicht so sehen. So, wie Du jetzt hier liegst - ohne Bewußtsein, hilflos und ohne jede Aussicht auf eine Verbesserung Deines erbärmlichen Zustands. Dabei wünschte ich mir doch so sehr, Du würdest nur noch ein einziges Mal aufwachen, um mir erklären zu können, wie es jemals soweit mit uns Beiden kommen konnte. Sicher, unser Bund fürs Leben war von Anfang an mehr oder minder eine Scheinehe - eine Ehe, die nur auf einem Trauschein bestand und mehr ein Bündnis zum gegenseitigen Nutzen darstellte als eine besiegelte Liebesbeziehung. Aber ich glaubte doch die ganze Zeit felsenfest daran, daß Du mit diesem Arrangement genauso gut leben könntest wie ich. Das war dann ja wohl ein folgenschwerer Irrtum meinerseits mit nicht wiedergutzumachenden Folgen, oder?! Ich hab Dich damit auf Deiner sehnsüchtigen Suche nach Zuwendung und Anerkennung scheinbar förmlich in die Arme dieses skrupellosen Kriminellen getrieben. Und Du hast in Deiner Schwärmerei für sein heuchlerisches Getue nicht einmal bemerkt, daß auch er Dich nur ausgenutzt hat für seine Zwecke und Machenschaften. Oh nein, ich mach Dir jetzt keinen Vorwurf mehr daraus! Ich bin selbst nicht weniger schuld an dem Ganzen als Du! Eim Mensch braucht eben mehr als gesellschaftliches Ansehen oder finanzielle Absicherung im Leben. Alles, was wirklich zählt, ist Freundschaft und Liebe. Ja, vor allem jene wahre und wahrhaftige Liebe, die stets das Glück des anderen mehr im Auge hat als sich selbst. Weißt Du, Janet, ich wünschte, Du hättest die Möglichkeit gehabt, eine solche Liebe zu finden, statt an mich und diesen elenden Wurm Crawler zu geraten. Doch leider Gottes war Dir das nie vergönnt und wird es nun auch nie mehr sein. Auch ich konnte und kann sie Dir nicht geben. Alles, was ich Dir noch zu geben vermag, ist Vergebung! Ja, Janet, ich vergebe Dir, und ich bitte Dich inständig, auch mir zu vergeben. Mir all das zu vergeben, worin ich mich durch mein Verhalten an Dir schuldig gemacht habe - damit ich endlich frei bin. Frei für ein neues Leben und vielleicht auch für eine neue Liebe - eine, die diesen Namen wirklich verdient, weil sie ganz ohne Berechnung tief aus dem Herzen kommt. Aus einem längst verloren geglaubten, mitfühlenden Herzen, das ich in den letzten 24 Stunden endlich wiedergefunden und mit Hilfe vieler alter und neuer Weggefährten an meiner Seite erfolgreich reanimiert habe. Ja, Du hast recht gehört, Janet! Ich bin nicht mehr der, der ich war - aus mir ist ein neuer Mensch geworden. Und dieser neue Mensch will nun auch noch einmal ganz neu beginnen mit seinem Leben. Dazu aber muß ich erst mein altes Leben bereinigen und schließlich hinter mir lassen. Und darum: Leb wohl, Janet!". Damit erhob er mit seinen zittrigen Fingern ihre kalte, bleiche Hand zu seinen Lippen und hauchte ihr einen zarten Abschiedskuß auf. Dann legte er die Hand wieder behutsam auf die Bettdecke und rückte im Aufstehen seinen Stuhl von dem Bett ab. Der regungslos Daliegenden ein letztes Mal stumm zublinzelnd, kehrte er schließlich um und verließ das Zimmer leisen Schrittes, worauf er sich über den langen Flur und das Treppenhaus des Pflegeheimes durch dessen große, geschmackvoll eingerichtete Empfangshalle auf die Straße zu Claudias Wagen begab und mit diesem schon eine Minute später eilends davonfuhr.

Auf dem Innenhof des CI7 wurde derweil Lou Cypher unter schärfsten Sicherheitsvorkehrungen und unter den ausgesprochen kritischen Blicken Jacks vom Gefangenentransporter in den Keller des Gebäudes mit seinem Hochsicherheitszellentrakt und den Verhörräumen gebracht. Der Gefangene war gerade im Gebäude verschwunden, als Jacks Handy klingelte, aus dem Sekundenbruchteile später die Stimme seiner Vorzimmerdame erklang: "Sir, ich hatte da gerade einen Anruf von einem gewissen Mister Adams, der mitteilen läßt, er sei vor ein paar Stunden dem Yardchef Douglas in einem Taxi zu dessen Wohnung in der Yellow Brick Road Nummer 66 gefolgt und habe ihn dort bei dem Versuch, mit Sack und Pack aus der Stadt zu verschwinden, dingfest gemacht. Sie fänden ihn weihnachtlich verpackt in seinem Schlafzimmer. Soll ich die Metro Police verständigen, damit sie eine Streife hinschicken?". Jack aber erwiderte leise grinsend: "Der gute George! Äh nein, Carla, darum kümmere ich mich persönlich!". Daraufhin beendete er das Gespräch und beorderte die Agents Smith und Wesson zu sich, mit denen er wenige Minuten später in einem Ford Escort in Richtung Yellow Brick Road abfuhr.

Lukas Svensson hingegen war unterdess angekommen, wenn auch nicht ganz da, wo er eigentlich hingewollt hatte. Statt vor seiner Wohnung stand er jetzt nämlich wieder direkt vor dem Büro der Detektei, die unter anderem auch seinen Namen trug. Er konnte zwar immer noch nicht genau sagen wieso, aber irgendetwas hatte ihn einfach noch einmal hierher getrieben. Als er auf dem Bahnsteig des Ubahnhofs nahe der Jump Street angekommen war, standen da nämlich zwei Züge zur Abfahrt bereit. Einer in Richtung seiner Wohnung, der andere in Richtung Baker Street. Aus dem Augenwinkel heraus aber hatte er durch eines der Zugabteilfenster der nach Baker Street fahrenden Bahn ein junges Paar mit einem kleinen, dick eingewickelten Baby im Arm stehen gesehen, über dessen Köpfen das Werbeplakat einer deutschen Autofirma unter dem Zeichen eines stilisierten silbernen Sterns verkündete: "Sei weise und folge dem Stern!". Und da war er spontan dieser Aufforderung und damit auch dem ominösen Stern gefolgt, der ihn auf dem Schienenwege nun geradewegs hierher geführt hatte. Wieder raunte er an der Bürotür sein "Gestatten, Sherlock Holmes!". Und wieder öffnete sich schlagartig die Tür, wobei deren kühle Computerstimme erwiderte: "Guten Morgen, großer Meister! Treten Sie nur ein!". Das ließ sich Svensson nicht zweimal sagen, und schon stand er mitten im Raum, den er nur einen Augenblick später mit dem alttestamentlichen Satz "Es werde Licht!" erhellte. Dabei blinzelten ihm von der Couch her die verschlafenen Augen Saxis entgegen, der gähnend fragte: "Lukas, Sie?! Wie spät ist es denn?". Und mit einem Blick auf die Wanduhr sprang er auf und murmelte ganz aufgeregt: "Meine Güte, schon fast halb 1 Uhr nachts. Und ich hab noch nicht einen halben Penny verdient! Ich bin dann mal weg zu einem Gastspiel in der Nachtbar zwei Straßen weiter. Bis heute abend, mein Freund! Und danke nochmal fürs Hier-Ausruhen-Dürfen!". Lukas aber winkte ab: "Kein Thema, Saxi! Bis später!". Der Musiker kramte daraufhin sein Instrument hinter der Couch hervor und verschwand damit eilends aus der hinter ihm ins Schloß fallenden Tür. Lukas war allein, als es bei ihm plötzlich wieder recht eigenartig in Brustnähe zu vibrieren begann. Und so zog er bedächtig sein Handy aus seiner Regenmantelinnentasche hervor, wobei er zu seinem Erstaunen feststellte, das es selbst nach dem Mißbrauch als Wurfgeschoß noch tadellos zu funtionieren schien. Schließlich hielt sich Svensson das Telefon ans Ohr, wobei ihm sofort die erregte Stimme Timmys entgegenschallte: "Lukas, ich hab da was Wichtiges entdeckt beim Durchsehen von Cyphers Computerfestplatte. In den früheren Nachrichten seiner Komplizen PreMount und DCALive tauscht nämlich immer wieder die Bemerkung auf, sie hätten noch eine alte Rechung in London zu begleichen und dazu stets ein und derselbe Name ...". Lukas zuckte mit den Schulterblättern und fragte: "Ja, und welcher ist das?". Timmy aber antwortete: "SVENSSON! Das bist Du! Lukas, Du!". Sichtlich überrascht kratzte sich Lukas mit der freien Hand an der Stirn: "Ich? Ja, wer um alles in der Welt hat denn aus Cyphers Umfeld mit mir noch eine Rechnung offen?". Timmys Stimme aber erwiderte: "Keine Ahnung, Lukas! Aber paß bitte auf Dich auf, ja?!". Lukas versprach es Timmy und beendete dann das Gespräch. Dann grübelte er - das Handy noch immer in der Hand - darüber nach, wer sich wohl hinter den mysteriösen Pseudonymen PreMount und DCALive verbergen könne, wobei sich plötzlich vor seinen Augen die Bürotür einen Spalt weit öffnete. Svensson hielt sein kampferprobtes Funktelefon sofort in Wurfbereitschaft, als im Türspalt der Kopf Wannabes auftauchte und mit aufgesetzter Unschuldsmiene sprach: "Morgen, alter Schwede! Na, zwei Doofe, ein Gedanke, wie?!".

Auch Charles Wannabe konnte es sich nicht so recht erklären, was ihn hierher geführt hatte, wo er doch eigentlich schon auf dem Weg zu Claudia gewesen war. Vielleicht trieb es Lukas und ihn ja sozusagen nach fast genau 24 Stunden einfach wieder an den Ort zurück, wo alles angefangen hatte - genau wie einen Täter nach einer weit verbreiteten Auffassung bekanntlich immer wieder an den Tatort. Die beiden Detektive jedenfalls beschlossen, der Frage nach dem Warum ihres Da-Seins erst einmal nicht weiter nachzugehen, und nahmen stattdessen links und rechts hinter dem Schreibisch platz. Dabei bemerkte Wannabe leise seufzend: "Ach ja, da sind wir also wieder! Und wie wir uns seit unserem ersten Treffen hier verändert haben!". Svensson grinste und sprach mit einem verstohlenen Blick zur Seite: "Ja, stimmt, Sie Weihnachtsmann, Sie!". Auch Charles mußte hinter seinem Wattebart schmunzeln: "Ja, und an Ihrem ollen Speckmatel prallen inzwischen sogar schon die Kugeln ab! Sie sind scheinbar einfach unkaputtbar, altes Urviech!". Über diese abfällige Bemerkung aber lachten nun beide Männer gleichermaßen aus voller Brust. Erst als sich nach einigen Minuten ihr Gelächter langsam wieder legte, warf Charles Wannabe nachdenklich ein: "Tja, nur zu schade, daß wir trotz unseres ereignisreichen Arbeitstages unseren ersten gemeinsamen Fall doch nicht fristgerecht zu lösen vermochten!". Während Lukas gerade zustimmend zu nicken beginnen wollte, klingelte das Telefon auf den Schreibtisch vor ihnen. Svensson hob ab und hatte Pastor Shepherd am anderen Ende, welcher ihm geradezu jubelnd entgegenschrie: "Ein Wunder! Es ist ein Wunder geschehen! Er ist zurück! Mister Svensson, unser Paulus ist wieder da! Die Mutter eines kleinen Mädchens namens Lilly hat ihn uns eben zurückgebracht und erzählt, Ihre Tochter habe die Figur auf einer nachmittäglichen Spazierfahrt im Hyde Park gefunden, so wie sie es mit der Statue zuvor bei ihrem letzten Besuch in unserer Kirche verabredet habe! Naja, das ist vermutlich nicht ganz die Wahrheit, nicht wahr?! Aber ich denke, wir lassen es damit auf sich beruhen! Die Hauptsache ist doch, daß der Paulus zu Weihnachten wieder zuhause ist, hier in St.Pauls! Stellen Sie sich nur vor, die Kleine hat ihm sogar eine rotweiße Pudelmütze mit Bommel übergestülpt und ihn in eine lange rote Kutte eingewickelt. Rührend, oder?! Nun ja, ich wollte Ihnen nur Bescheid geben und hoffe, Sie hatten nicht allzuviele Umstände unseretwegen". Lukas aber erwiderte: "Nein, nur keine Sorge! Wir freuen uns genauso wie Sie ganz einfach, daß der Paulus nun wieder da ist, wo er hingehört. Und wir freuen uns natürlich auch auf das Krippenspiel heute abend! Gute Nacht, Pastor Shepherd!". Damit legte Lukas auf und schaute zu Charles Wannabe herüber: "Nun, mein Lieber, ich muß Sie enttäuschen! Der Fall hat sich von ganz allein geklärt, und der Holzkasper - wie Sie so schön zu sagen pflegten - ist wieder da! Aber keine Angst, die Auslagen für den Fall übernehme ...". Wannabe fiel ihm ins Wort und sprach: "Genau, die übernehme ich! Schon allein, damit Sie sich mit Ihrer kleinen Pension nicht übernehmen! Und außerdem ist ja Weihnachten! Und Weihnachten ist doch stets das, was man von Herzen gibt, nicht das, was man bekommt, oder?! Und jetzt Schluß mit dem Humbug hier! Sie scheren sich gefälligst nach Hause, damit Sie zur Bescherung und zum Krippenspiel nachher wieder fit sind! Und ich mach mich noch rasch an den Abschlußbericht zu unserem ersten Fall, der am Ende eigentlich gar keiner war. Hoffentlich versteht das am Jahresende auch der Fiskus, wenn ich ihm das zur Prüfung vorlegen muß?! Ach, überhaupt kommt da soviel Schreiberei auf mich zu, daß ich mir wünschte, ich hätte jetzt eine Sekretärin!". Wie auf Stichwort klopfte es an der Tür und herein trat im goldglitzernen Kostüm eines Weihnachtsengels Claudia, die freudestrahlend auf Charles zulief und ihm dann die Arme um den Hals warf, wozu sie ausrief: "Ja, Charles, die hast Du - in mir! Eine Sekretärin, und wenn Du willst, noch viel mehr!". Statt einer Antwort aber packten seine Hände ihren Kopf und zogen ihn zu sich heran, bis sich ihrer beiden Lippen berührten und in einem leidenschaftlichen Kuß miteinander verschmolzen. Lukas jedoch hielt den Moment für gekommen, sich diskret aus dem Staub und auf den Heimweg zu Yelena zu machen, die er in Kürze mit einer ähnlich stürmischen Begrüßung zu überraschen gedachte.

Jack war unterdess mit Smith und Wesson in der Yellow Brick Road vor dem dunklen Haus mit der Nummer 66 angelangt, zu dem sich die drei Agents innerhalb weniger Sekunden mit vorgehaltener Waffe und einem gewaltsamen Tritt gegen die unverschlossene Haustür Zutritt verschafften. Jack knipste vorsichtig das Flurlicht an, während die beiden anderen von dortaus die restlichen Zimmer stürmten. Ein paar Mal war dabei ein deutliches "Sauber!" zu hören, beim letzten Zimmer aber blieb diese Rückmeldung aus. Stattdessen erreichte Jacks Ohr ein leises Wimmern und ein umso lauteres Gelächter aus dem Munde von Agent Wesson. Jack lief eilends in das bewußte Zimmer, die Waffe noch immer im Anschlag und ein Auge leicht zusammengekniffen. Der Anblick, der ihn dort empfing, aber füllte seine beiden Augen mit Tränen - Tränen der Schadenfreude. Auf dem Bett lag ein bis auf die Snoopy-Boxershorts völlig entkleideter Jeffrey Douglas, mit beiden Händen mittels einer Paketschnur an den Bettpfosten festgebunden und mit einer roten Wollsocke im Mund und schaute Jack ängstlich entgegen. Zu seinen Füßen aber lag ein Blatt Papier, auf dem zu lesen war: "Ich, mieser kleiner, karrieregeiler Ausreißer, der ich mich meiner Verantwortung entziehen wollte, suche ein neues Zuhause - aus Gründen der nationalen Sicherheit vorzugsweise hinter schwedischen Gardinen. Ho-Ho-Ho! Frohe Weihnachten! G.A.". Einen kleinen Augenblick lang ließ Jack die einzigartige Ansicht noch auf sich wirken, dann wies er Agent Wesson an, Douglas aus seiner mißlichen Lage zu befreien. Der frisch Entbundene aber kreischte daraufhin sofort los: "Ich zeig Sie an wegen unterlassener Hilfeleistung und diesen Mistkerl Addons wegen Angriff auf einen Beamten in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung. Dieser Hund hat mir sogar eine mitten ins Gesicht verpaßt, schaun Sie mal!". Damit hielt er Jack seine deutlich eingebeulte Visage, in der bereits ein riesiges blaues Veilchen zu blühen begonnen hatte, direkt vors Gesicht. Jack aber lächelte nur müde und sprach: "Na immerhin, da hat mir der gute George ja dann schon mal eine Arbeit abgenommen! Und was das Anklagen angeht, das übernimmt bei Ihnen sicher gern der Staatsanwalt - zum Beispiel wegen Übertretung der amtlichen Befugnisse, Behinderung der Behörden sowie Erpressung und schwerer Gefährdung eines Unschuldigen - um nur ein paar gute Gründe zu benennen, Sie auf lange Zeit wegzusperren". Und an Smith und Wesson gewandt, ergänzte er: "Männer, Handschellen anlegen und mitnehmen! Schafft mir den Kerl bloß aus den Augen!". Und während die Agents ihren Gefangenen auf die Rücksitzbank des Fords fortschleppten, ging mit dem fernen, einsamen Glockenschlag von Big Ben auch diese erste Stunde am noch jungfräulichen Tage des bevorstehenden Heiligen Abends zuende ...

Die folgenden Ereignisse finden zwischen 01 und 24 Uhr am Heiligen Abend des Jahres 2009 nach Christi Geburt statt.
Alles, was Sie lesen, ereignet sich in weihnachtlicher Zeit.

HEILIGABEND - 24. Dezember 2009 - TEIL 1 - BITTE ANKLICKEN!

EINE KLEINE VORWEIHNACHTSGESCHICHTE

- WEIHNACHTLICHES VORSPIEL IN 5 AKTEN -

PROLOG

In seinem kleinen Einraum-Penthouse nahe dem Hennigsdorfer Nordpol sitzt ein Mann am Schreibtisch vor seinem Laptop und hämmert eifrig Wort um Wort und Satz um Satz in den vor ihm stehenden Laptop. Der Mann, offensichtlich ein Dichter, sieht vom Gesicht her haargenau wie Lukas Svensson aus, trägt aber im Gegensatz zu ihm ein gelbes Poloshirt und eine blaue Jeanshose.

DICHTER (beim Tippen den geschriebenen Text laut vor sich her erzählend): Es wird Euch sicherlich erstaunen, an dieser Stelle nun ein Bühnenstück zu lesen statt dem erwarteten Krippenspiel. Doch keine Sorge, dies ist nur ein Vorspiel. Ein Vorspiel, das gedacht ist, um auf den weihnachtlichen Hauptakt einzustimmen. Wozu dieses ganze Theater, fragt Ihr Euch? Nun, vor allem, um Euch zu unterhalten. Und dann auch, um innerhalb der Geschichte eine Brücke zu bauen vom jähen nächtlichen Ende am Morgen des Heiligen Abends bis hin zu eben diesem selbst. Wohlan denn! Der Worte sind genug gewechselt, laßt uns nun endlich Handlung sehn!

1. AKT (der gleich noch zwei andere von der Sorte mit sich bringt)

In Claudia Palmers Küche. Am Küchentisch steht Hausherrin Claudia leichtbekleidet im Morgenmantel und ist mit dem Decken des Tisches beschäftigt, wobei sie neben einem Adventskranz mit vier brennenden Kerzen auch zwei Gedecke auf den Tisch stellt und dabei immer wieder einen Blick auf ihren Herd wirft, in dem etwas zu brutzeln scheint. Das Display eines auf dem Kühlschrank stehenden CD-Players zeigt 10:00 Uhr. Es klingelt an der Tür.

CLAUDIA (sofort zur Tür eilend): Wer kann das sein um diese frühe Morgenstunde?

Sie öffnet und vor ihr steht Ray, der sonnenbebrillte, gutaussehende Bote eines italienischen Restaurants, der ihr am Vorabend eine Bestellung auslieferte.

CLAUDIA (sichtlich erstaunt):Sie? Was wollen Sie denn hier?
RAY (die Sonnenbrille auf der Nase lässig nach unten schiebend): Ciao, Signorita! Ich komme, um Sie um die Einlösung Ihres Versprechens zu bitten.
CLAUDIA (völlig entgeistert): Meines Versprechens?! Sie meinen doch nicht etwa ...

Aus dem Nebenzimmer betritt Charles Wannabe unverhüllt die Küche.

CHARLES (das Epizentrum seiner Blöße notdürftig mit beiden Händen bedeckend): Wer ist dieser Fremde und was will er von Dir?
CLAUDIA (Charles verführerisch anlächelnd): Er hat mir gestern mit seinem Auto unser Dinner ausgeliefert. Und als Gegenleistung hat er sich von mir einen Gefallen auserbeten, den er nun wohl einzulösen gedenkt!
RAY (die Sonnenbrille auf der Nase rasch wieder nach oben schiebend): Ich habe doch gar keine Auto, Signorita? Und könnten Sie mir jetzt bitte den Gefallen tun, und Ihrem Freund da sagen, er möge sich etwas anziehen? Ich werd sonst am Ende noch blind oder gar zeugungsunfähig!
CLAUDIA (immernoch auf Charles schauend): Du hast den Mann gehört, Schatz! Geh doch bitte nach nebenan und zieh Dir etwas an, ja?!

Charles geht ab, und Claudia wirft im selben Moment Ray die Wohnungstür vor der Nase zu.

CLAUDIA (leicht schulterzuckend): Hätte gar nicht gedacht, das die Sache mit der Einlösung des versprochenen Gefallen für mich so leicht werden würde!
Claudia geht sie zum Küchentisch zurück, und setzt sich auf einen der beiden dort stehenden Stühle. Sie schaut zum Herd und erstarrt in dieser Haltung. Von links aber betritt der Dichter die Bühne.

DICHTER (nach vorn schauend): Sie fragen sich sicher, was das sollte, oder?! Nun, ich hatte diesem Ray mit seiner Sonnenbrille und der eigentümlichen Art, sich seine Lieferdienste bezahlen zu lassen, eine wiederkehrende Rolle versprochen. Und Versprechen muß man bekanntlich halten! Also ist er noch einmal wiedergekehrt, und das war's! Aber weiter im Text!

Der Dichter geht ab. Dafür löst sich schlagartig Claudias Erstarrung, und Charles betritt wieder die Bühne, diesmal im Unterschied zu seinem vorherigen Aufzug mit einem schwarzen Gürtel um die Hüften, an dem vom Bauchnabel her das Blatt eines Gummibaums nach unten baumelt.

CLAUDIA (ihn verzückt anstarrend): Äh, schon wieder ein neues Kostüm!
CHARLES (sich schmunzelnd zur Schau stellend): Ja, genau, und zwar das des Adam! Sehr passend wie ich finde, zumal mich mein Freund Lukas hin und wieder auch so zu nennen pflegt. Nämlich immer dann, wenn er der Meinung ist, das ich mich wie der erste Mensch aufführe.
CLAUDIA (lasziv lächelnd): Heute nacht hast Du Dich aber gar nicht wie der erste Mensch angestellt, Mister Wannabe, Sir!
CHARLES (grinsend): Danke für das Kompliment! Jederzeit wieder zu Ihren Diensten und zu allen Schandtaten bereit, Mam!
CLAUDIA (schmunzelnd an Charles herunterblickend): Das erkenne ich schon der momentane Aufwärtstrend Deines Gummibaumes, kleiner Casanova, Du! Aber Naschen kannst Du später wieder, junger Mann, jetzt wird erstmal gefrühstückt!

Claudia steht auf und geht zum Kühlschrank, auf dem der CD-Player steht, an diesem betätigt sie erst POWER, dann PLAY, worauf sofort die leise Melodie von Tiffany "I Think We're Alone Now" zu hören ist.

CHARLES (sich an die Stirn greifend): Aha, quasi ein Frühstück bei Tiffanys. Jetzt weiß ich auch endlich, was mein Engelchen heute nacht noch einmal ims Büro zurückkehren ließ. Die CD, Du wolltest Dir die CD holen!
CLAUDIA (nickend): Ja, ich dachte, wenn Du schon nicht bei mir bist, dann hol ich so wenigstens unser Lied nach Hause. Daß ich dabei Euch alle Beide bekomme, das wäre mir im Traum nicht eingefallen und schreit auch förmlich nach einer süßen Belohnung für mein Gummibaumblattbärchen!

Claudia kehrt wieder zum Küchentisch zurück, setzt sich und öffnet dabei den Gürtel ihres Morgenmantels, worauf dieser langsam von ihren Schultern herabgleitend unter ihrem nun unbedeckten Gesäß auf dem Stuhl zu liegen kommt. Ihre Beine schlägt sie dabei - einem Grundinstinkt folgend Sharon Stone mäßig - übereinander, und ihre Brüste werden - der Altersfreigabe wegen - mit zwei kleinen Mistelzweigen verdeckt.

CHARLES (mit weit geöffneten, funkelndan Augen): Welch paradiesischer Anblick! Da bekommt man doch gleich Appetit!
CLAUDIA (vor sich in den Obstkorb greifend): Einen Apfel?
CHARLES (kopfschüttelnd): Nein danke, mein Evchen! Ich hab ja schließlich keine Lust, gleich wieder aus Deinem himmlischen Paradiese vertrieben zu werden! Und deshalb wär jetzt eher für ein paar frische Brötchen und eine schöne Tasse Espresso!
CLAUDIA (nun ebenfalls den Kopf schüttelnd): Bedaure, aber jetzt gibt es erstmal das aufgewärmte Essen von gestern abend, das ich über Nacht im Tiefkühlfach eingefroren hatte.
CHARLES (nachdenklich nickend): Recht so, man sollte nämlich Essen nie umkommen lassen. Es gibt so viele da draußen, die nichts zu essen haben und sich nach so einem wiederaufgewärmte Festmahl sämtliche zehn ihrer dürren Fingerchen ablecken würden.

Charles steht auf, nimmt die auf dem Kühlschrank stehende Weinflasche und einen danebenliegenden Korkenzieher zu Hand und erkorkt die Flasche. Dann kehrt er zum Tisch zurück und gießt erst Claudias und dann auch sein Glas randvoll.

CHARLES (sein Glas ergreifend und damit Claudia zuprostend): Auf uns Zwei, mein Engel und auf unser kleines Paradies auf Erden! Und auf alle Menschen da draußen in nah und fern! Ihnen und uns ein Fröhliches und gesegnetes Weihnachtsfest!

Der erste Vorhang fällt. Das Orchester spielt "Ding Dong! Merily On High", und der Dichter klettert dazu auf die Bühne.

DICHTER: Und während nun bei Claudia und Charles erst einmal ausgiebig geschlemmt und dann vielleicht auch bald ein Braten in die Röhre geschoben wird, begeben wir uns an in den Keller im Hauptquartier der Londoner Antiterroreinheit zu Jack & Co, wo Cypher bereits seit Stunden auf kleiner Flamme brät.

Der Dichter geht ab, und der Vorhang öffnet sich zum zweiten Male.

2. AKT (bei dem man zusätzlich noch ein wenig auf die Folter gespannt wird)

Im Verhörraum Nummer 24 im Keller des CI7 Hauptquartiers. Lou Cypher sitzt, im wahrsten Sinne des Wortes bereits ziemlich angeschlagen, an Händen und Füßen gefesselt, angekettet an den am Boden befestigten Stuhl vor einem hin und herlaufenden CI7 Chef Jack, der recht nervös immer wieder auf die Uhr an der Wand schaut. Cypher aber hat Kopfhörer auf, aus denen, mal leise, mal so laut, daß einem die Ohren bluten könnten, eine Instrumentalversion von Matthias Reims "Verdammt, ich lieb Dich" zu hören ist, wobei in diesem Moment gerade der Refrain beginnt.

JACK (nach rechts laufend): Verdammt!
CYPHER (nach links murmelnd): Er will mich! Er kriegt mich nicht!
JACK (nach links laufend): Verdammt!
CYPHER (nach rechts murmelnd): Er quält mich! Das macht mir nichts!
JACK (nach oben auf die Uhr schauend): Verdammt!
CYPHER (nach unten murmelnd): Er fragt mich! Ich sag ihm nix! Er will es nicht kapiern!

Ein Moment betretener Stille folgt, nur die Melodie des deutschen Schlagers ist mal leise, mal wieder laut zu vernehmen.

JACK (verzweifelt): Ich hab doch nun wirklich alles probiert. Ich hab ihn mit Immunität vonseiten des Premierministers und der Queen zu ködern versucht. Ich hab ihn angebrüllt und ihm sämtliche Finger gebrochen. Ich hab an seiner Schulter geknabbert. Ich hab Agent Ian Jektion herbeigerufen, der ihm eine Mischung aus LSD, Kerosin und Airethin mit einer 24 Zentimeter langen Nadel mit voller Wucht in den Wanst gerammt hat. Ja, mehr noch, schon seit einer halben Ewigkeit beriesele ich seine Ohren mit diesem neuzeitlichen deutschen Liedgut. Und der Mistkerl verrät nichts. Egal, was man mit ihm anstellt, er schreit immer nur nach mehr!
CYPHER (ein Echo miment): Mehr, mehr, mehr!
JACK (ratlos): Bei diesem Typen stößt meine Verhörkunst echt an ihre Grenzen. Ich bin mit meinem Latein am Ende!
CYPHER (leise fremdsprachelnd): Quod erad demonstrantum!
JACK (wieder zur Uhr schauend): Und außerdem geht in einer halben Stunde mein Flugzeug.
CYPHER (grinsend): Hit The Road, Jack! And Don't You Come Back No More!
JACK (in den Ärmel seines Hemds flüsternd): Youstan, hören Sie! Wir brechen hier erstmal ab und setzen das Verhör nach den Feiertagen unter verschärften Bedingungen noch einmal fort, indem wir ihm Heintjes "Mama" in doppelter Geschwindigkeit vorspielen und eine Katze zu essen geben.
CYPHER (sichtlich zufrieden). Null Problemo! Na bitte, geht doch!
JACK (an Cypher gewandt): Also gut, Cypher! Für den Augenblick solls das erstmal gewesen sein. Und bevor wir Sie nun wieder in ihre Dunkelzelle bringen, schenk ich Ihnen - auch wenn Sie es keineswegs verdient haben - erst noch einen kleinen festlichen Moment.
JACK (erneut in seinen Hemdsärmel flüsternd): Youstan, die Weihnachtsdisc für Herrn Cypher, bitte!

Jack geht ab. Aus Cyphers Kopfhörer ertönen die ersten Takte von "Joy To The World". Cypher aber windet sich plötzlich und unerwartet wie eine Schlange in seinem Stuhl hin und her.

CYPHER (wimmernd): Aufhören! Aufhören! Ich sag ja schon alles, was Sie von mir hören wollen, nur stellen Sie diese schreckliche Musik ab! Ich verrate Ihnen dafür auch, wo ich die Atomraketen zu lagern gedenke, wie es mit Svensson weitergeht und obendrein sogar noch den Aufenthaltsort und die wahre Identität meiner Komplizen PreMount und DCALive. Die Zwei heißen nämlich in Wirklichkeit ...

Cypher erstarrt plötzlich. Von links aber betritt der Dichter die Bühne. Er öffnet einen am Boden stehenden Koffer mit einem schwarzen Kreuz und der Aufschrift "Letzte Hilfe" sowie dem kaum zu lesenden, schwarz umrandeten Hinweis "Die EU Gesundheitsminister warnen: Folter kann gesundheitsschädlich sein! Oder, um es anders zu formulieren: Kinder, versucht das bloß nicht zuhause!", in dem es von Spitzen und Kanülen sowie jeder Menge Ampullen mit unterschiedlich farbigen Flüssigkeiten nur so wimmelt, und entnimmt ihm eine breite Rolle Pflaster, von der er ein Stück abreißt und es Cypher dann quer über den offenstehenden Mund klebt. Das Pflaster aber trägt in roten Lettern die Aufschrift: "Zensur!".

DICHTER (kopfschüttelnd): Verflixter Teufelsbraten! Da wolltest Du doch tatsächlich all meine gutgehüteten und spannungsträchtigen Geheimnisse für die Fortsetzung meiner Geschichte verraten. Das kann ich natürlich auf keinen Fall zulassen. Und darum verurteile ich Dich für den Rest Deines Gastauftritts hier zum Stillschweigen. Nichts desto trotz nun aber erstmal weiter im Text!

Der Dichter geht ab. Dafür löst sich schlagartig Cyphers Erstarrung, und er versucht unter dem Einwirken der leisen Weihnachtsmusik in seinen Ohren, weiter alles auszuplaudern, was ihm allerdings mit dem Pflaster überm Mund sichtlich schwerer fällt.

CYPHER (unverständlich murmelnd): Mmh, mmh, mmh! Mmh, mmh, mmh!

Jack kommt noch einmal kurz von der Seite, bereits seine Lederjacke über einen seiner Arme gestreift.

JACK (leicht verärgert): Tja, reden ist eben Silber, Schweigen aber ist Gold! Und da wir es hier bei diesem so gar nicht goldigen Kerlchen scheinbar mit einem umso goldigeren Moment zu tun haben, mach ich mich auf den Weg zum Flughafen, um dort noch mein Flugzeug nach Hause zu erreichen.

Aus dem Hintergrund erschallt die Stimme eines kleinwüchsigen Mannes.

DIE STIMME DES KLEINWÜCHSIGEN (aufgeregt): Der Flieger, Boß, der Flieger!
JACK (auf dem Sprung): Verdammt, ich muß mich schon wieder sputen, sonst komm ich noch zu spät! Also dann, uns allen ein paar glanzvolle, himmlische Weihnachtsfeiertage. Lassen Sie uns im Kreise unserer Lieben alle gemeinsam stille werden! CU!

Jack eilends ab. Der zweite Vorhang fällt. Das Orchester spielt "Still, Still, Still", und der Dichter klettert dazu auf die Bühne.

DICHTER: Und während Lou Cypher noch immer, wenn auch jetzt nicht mehr ganz freiwillig, eisern schweigt und Jack sich auf den Weg zu seiner Tochter Kimmy macht, begeben wir uns zu Timmy in dessen Wohnung und damit an einen weiteren Küchentisch, der diesmal zugleich auch ein Mittagstisch ist.

3. AKT (in dem das Rollenspiel ungleichmäßig verteilt zu sein scheint)

In Tim Hackermans behindertengerechter Küche. Vorm Küchentisch sitzt Hausherr Timmy in Unterwäsche in seinem Elektrorollstuhl und ist mit dem Decken des Tisches beschäftigt, wobei er neben einem Teelicht unter einem Stövchen mit einer Porzellanteekanne auch zwei Gedecke auf den Tisch zu stehen hat und dabei immer wieder einen Blick auf seine Mikrowelle wirft, in der sich etwas zu drehen scheint. Es klingelt an der Tür.

TIMMY (langsam zur Tür rollend): Wer ist denn das um diese Uhrzeit?

Er öffnet und vor ihm steht im Anzug Charles Wannabe, mit einer Fünfzig-Pfund-Note vor sich herwedelnd.

TIMMY (leicht irritiert): Oh, Mister Wannabe, wie komm ich denn zu der unverhofften Ehre?
CHARLES (sich suchend im Raum umschauend): Naja, eigentlich gar nicht! Ich wollte nämlich nicht zu Ihnen, Timmy, sondern zu Misses Meltstone. Ist sie denn nicht hier?

Sabrina Meltstone betritt verschlafen mit zerzauster Frisur und nur mit einem schwarzen Top und ebensolchem Slip bekleidet die Küche.

SABRINA (gähnend): Oh doch, die ist da! Nur noch nicht ganz wach eben! Was kann ich für Sie tun?
CHARLES (lächelnd): Nun, fregen Sie nicht, was Sie für mich tun können, sondern, was ich für Sie tun kann. Ich hab da nämlich im Büro noch einen kleinen Notgroschen zu liegen gehabt, wissen Sie! Und davon hab ich heute nacht noch rasch 50 Pfund abgezweigt, von denen ich nun meine Schulden bei Ihnen bezahlen möchte!
TIMMY (leicht argwöhnisch): Fünfzig Pfund Schulden? Gibt es da etwas zwischen Euch Beiden, was ich wissen sollte?
SABRINA (etwas beleidigt): Also, Timmy, was denkst Du denn schon wieder von mir?
CHARLES (schmunzelnd): Ach, Tiny Tim hier denkt wohl, ich würde Sie damit für gewisse käufliche Liebesdienste entlohnen, was?! Nein, mein Bester, Ihre hübsche Freundin war nur so freundlich, mir gestern nachmittag 50 Pfund für das Auslösen meines Autos aus dem Polizeigewahrsam zu borgen. Und was nun Ihre kleine schmutzige Phantasie angeht, so seien Sie ganz beruhigt. Denn wenns ums Blasen geht, dann nehm ich lieber die Hilfe eines befreundeten Experten auf diesem Gebiet in Anspruch oder aber ich leg selbst Hand an an sein Instrument. Was Sie in Ihrem Kopfkino aus dieser Offenbarung machen, bleibt dabei ganz Ihnen überlassen. Aber wenn Sie mal eine ganz persönliche Kostprobe meiner Blaskünste wünschen, unsere Bürotür steht Ihnen immer offen! Und jetzt muß ich weiter, meine liebe Claudia wartet nämlich unten im Schlitten schon auf mich! Ich muß noch eine kleine Weihnachtsüberraschung für sie abholen, und dann gehts auch schon ab zur Kirche.

Charles geht ab, Sabrina schließt die Tür und setzt sich anschließend an den Küchentisch auf den einzigen Stuhl, der dort steht. Tim aber rollt ihr langsam mit gesenktem Haupt nach. Timmy greift, am Tisch angekommen, sofort zum langen Küchenmesser und schneidet den auf dem Tisch stehenden Truthahn an, von dessen fleischiger Brust er Claudia ein großes und sich ein kleineres Stück auf den Teller legt. Dazu verteilt er noch je zwei Klöße, eine Kelle Soße und etwas Rotkraut auf den Tellern. Dann sprechen Beide zusammen, jeder für sich, ein leises Gebet. Anschließend essen sie stumm vor sich her kauend Ihr eher bescheidenes Mahl, wobei immer wieder abwechselnd einer den anderen ansieht, während der andere gerade den Blick gesenkt hat. Dabei erstarren sie zwischenzeitlich, und der Dichter betritt von rechts die Bühne.

DICHTER: Nun, auf diese recht deprimierende Art und Weise werden die Zwei wohl auch in Zukunft große Teile ihres gemeinsamen Zusammenlebens verbringen, falls der gute Tiny Tim, wie ihn Charles zu nennen pflegt, nicht endlich seine Minderwärtigkeitskomplexe und seine geradezu kindische Eifersucht auf alles und jeden in den Griff bekommt. Schließlich kann man seiner Partnerin nunmal keinen Keuschheitsgürtel anlegen, und so gehört eine große Portion gegenseitigen Vertrauens einfach zu einer Liebesbeziehung dazu. Aber ich will hier jetzt nicht allzusehr den Moralapostel raushängen lassen, denn im Moment lösen die Zwei ihr Problem noch ganz gut auf ihre eigene Art. Und deshalb weiter im Text.

Der Dichter geht ab. Die Erstarrung bei Sabrina und Tim löst sich wieder, und sie verspeisen weiter stumm vor sich her kauend den Rest Ihres eher bescheidenes Mahls, wobei auch jetzt wieder immer abwechselnd einer den anderen ansieht, während der andere gerade den Blick gesenkt hat. Am Ende dieses verschwiegenen Mittagessens ist es schließlich Sabrina, die das bedrückende Schweigen bricht.

SABRINA (Tim strafend anschauend): Du oller eifersüchtiger Spinner, Du! Was hälst Du eigentlich von mir? Nicht nur, das Du mir zutraust, daß ich mich für Geld verkaufe! Nein, Du denkst auch noch, ich würde es mit Mister Wannabe tun und das für schlappe 50 Pfund! Nein, mein Lieber, so nicht! Unter 100 Pfund läuft bei mir nichts!
TIMMY (den Kopf vorsichtig hebend): Gilt das etwa auch für mich?
SABRINA (ein leichtes Schmunzeln zeigend): Ok, bei Dir nehm ich 75 Pfund! Aber nur, weil Du es bist! Und Du darfst sie getrost auch weiterhin in Form Deines unter mir gelagerten Körpergewichts bezahlen, solang Deine spitze Zunge nicht nur beim Reden so gut funktioniert!
TIMMY (grinsend): Versprochen! Wie wärs denn gleich mal mit einer kleinen Kostprobe?
SABRINA (sichtlich erregt): Na gut, ein bißchen Zeit haben wir ja noch! Also dann, ab ins Schlafzimmer und Ring frei zur nächsten Runde, Tiger!

Sabrina springt auf und läuft in Richtung Schlafgemach.

TIMMY (ebenfalls im Wegfahren begriffen): Oh, oh, oh! Was für eine verführerische Einstimmung auf das große Fest der Liebe! Und in heimlicher Vorfreude auf das gleich anstehende Auspacken meines verfrühten Weihnachtspräsents wünsche ich uns allen stets derart attraktive Geschenke und höhepunktreiche Feiertage!

Beide ab. Der dritte Vorhang fällt. Das Orchester spielt "Angels We Have Heard On High", und der Dichter klettert dazu erneut auf die Bühne.

DICHTER: Und während sich nun Sabrina und Timmy stürmisch wild und liebevoll zärtlich zugleich ihrer trauten Zweisamkeit hingeben, begeben wir uns an die Ufer der Themse, hin zum verschneiten Umfeld einer altehrwürdigen Brücke.

Der Dichter geht ab, und der Vorhang öffnet sich wieder.

4. AKT (in dem ein Paar flinke Kufen keine ganz unwichtige Nebenrolle spielen)

Unter der London Bridge. Ein kleiner, farbiger Junge namens Cedrick steht dick eingehüllt in mehrere Schichten von Lumpen und dennoch frierend im Schnee und wartet, während er immer wieder abwechselnd auf das Zifferblatt einer alten rostigen Taschenuhr in seiner Hand, auf die Straße oberhalb der Brücke und die Uferböschung entlang des Themseflusses schaut.

CEDRICK (nervös): Schon eine Minute nach viertel vor Fünf, und weit und breit kein Charles zu sehn! Bestimmt hat der mich längst vergessen, wie ich es ihm ja schon vorhergesagt habe. Ich sollte mir vielleicht als Hellseher mein Brot verdienen, so mit Horrorskopen oder wie der ganze Blödsinn heißt!

Der Junge geht vor der Brücke ein wenig auf und ab, wobei er sich immer wieder warmen Atem in die kalten Hände pustet. Er setzt sich auf einen Stein an einem der Brückenpfeiler und steht nach einer Minute wieder auf. Dann schaut er wieder erst auf seine Taschenuhr, dann am Themseufer entlang.

CEDRICK (seufzend): Man, Alter! Wo bleibst Du denn mit Deinem heißen Schlitten? Wie hast Du gestern doch so hoch und heilig versprochen? 'Und Dich, mein Kleiner, hol ich ganz persönlich ab. Hier, genau an dieser Stelle, am morgigen Abend um 16 Uhr 45!'. Naja, ich geb ihm mal noch eine Minute! Ist ja doch schließlich nicht mehr der Jüngste, der alte Mann!

Wieder geht Cedrick vor der Brücke kurz auf und ab und pustet sich dabei mehrfach warmen Atem in die kalten Hände. Er setzt sich noch einmal auf den Stein an einem der Brückenpfeiler und steht nach geschlagenen zwei Minuten wieder auf. Dann schaut er erneut auf seine Taschenuhr und danach am Themseufer entlang.

CEDRICK (ärgerlich): So, alter Mann! Lang genug gewartet! Du kommst ja eh nicht, und ich bin's leid, mir hier weiter den Hintern abzufrieren! Vertrauen, Verantwortung, Nächstenliebe, Weihnachtszauber - alles nur Humbug! Mir reichts, ich geh! Und tschüß!

Der Junge will schon zur Seite abgehen, da erstarrt er urplötzlich in seinem Schritt, und der Dichter betritt von rechts die Bühne.

DICHTER: Nun aber mal langsam mit den jungen Pferden, junger Mann. Für einen solch raschen und gewaltigen Abgang bsit Du in meinen Augen nämlich noch ein wenig zu jung. Und außerdem wird es Dir sicher nicht nur die Damenwelt eines Tages zu danken wissen, wenn Du Dir sowohl beim Kommen als auch beim Warten und beim Gehen ein wenig mehr Zeit läßt. Gib unserem Charlie und seiner Kutsche doch einfach mal eine Chance! Du wirst sehen, es lohnt sich! Ah, mir ist's als hörte ich da schon von fern die Glocken läuten - jene, die nie süßer klingen als zu der Weihnachtszeit. Und in diesem Fall dürfte das dann wohl die Claudia sein, die mit ihrem Charlie ein wenig Schlitten fährt. Na siehst Du, Mike L. Jag's Sohn, es geht doch, wenn man Dich nur ein wenig zügelt, ebenso wie der gute Charles da hinten seine beiden Pferdchen. Und mit denen geht es jetzt auch schon weiter im Text.

Der Dichter geht ab. Die Erstarrung des Jungen löst sich wieder. Und während er noch einen Schritt nach vorn vollführt, vernimmt auch er nun hinter sich in der Ferne am Themseufer das liebliche Glockengeläut. Er dreht sich um und schaut erneut völlig entgeistert am Themseufer entlang, von wo aus ein Schlitten immer näher kommt und schließlich direkt neben ihm zum Halten kommt. Vom Kutschbock aber springt mit Tränen in den Augen Charles Wannabe und läuft auf Cedrick zu.

CEDRICK (seine Arme öffnend): Ich habs ja die ganze Zeit gewußt, daß Du mich nicht enttäuschen wirst, alter Mann!
CHARLES (den Jungen in die Arme schließend): Wie könnte ich Dich auch je enttäuschen, kleiner Freund! Du bist neben meiner Claudia, Mister Pauli und meinen Vierbein schließlich das Beste, was mir je passiert ist!
CEDRICK (über die Schulter von Charles auf die Kutsche und Claudia starrend): Wow, hammermäßig! Wo hast Du denn das scharfe Geschoß aufgetrieben?!
CHARLES (den Kopf überrascht nach hinten drehend): Aber das ist doch Paulis Schlitten, den kennst Du doch!
CEDRICK (sich an den Kopf fassend): Alter, doch nicht die Kutsche, die Braut mein ich!
CLAUDIA (lachend vom Kutschbock her): Das scharfe Geschoß hat eigentlich eher ihn aufgegabelt. Und jetzt genug geschmust, die Herren! Wir haben immerhin wenig Zeit und noch einen langen Weg vor uns! Also aufgesessen und los geht's!
CEDRICK (flüsternd zu Charles): Au weia, mein lieber Scholle, die Kleine hat aber einen ganz schön forschen Ton an sich. Da steht ja wohl schon fest, wer bei Euch in Zukunft die Hosen anhat und wer so richtig unterm Pantoffel steht, oder?!
CHARLES (grinsend): Laß sie das bloß nicht hören, sonst verbringst Du nämlich Weihnachten nicht bei uns, sondern unter der Brücke hier!
CEDRICK (mit einer Träne im Auge): Siehst Du, ich sag's ja! Immer wieder bringst Du mich zum flennen!
CLAUDIA (die Zwei vom Kutschbock aus antreibend): Hopp, hopp, Jungs! Flinke Hufe! Wenn wir zuspät zum Krippenspiel kommen, dann geht's für Euch beide nämlich heute abend ohne Essen ins Bett! Und das wär wirklich zu schade, es gibt nämlich eine dicke, fette Gans!
CEDRICK (Charles auf die Schulter schlagend): Hey, Du hast Frauchen gehört! Hoch mit Dir, alter Mann! Die Gans ruft! Au man, na das kann ja vielleicht ein Weihnachten werden. Na dann mal frohe Fuhre und vor allem Frohes Fest!
CHARLES (sich langsam erhebend): Oha, meine Knochen! Hoffentlich sind die von der Gans nicht ganz so morsch wie meine! Ansonsten: Frohes Fest!

Cedrick und Charles begeben sich gemeinsam auf den Kutschbock zu Claudia. Claudia nimmt dabei die Zügel fest in ihre Hand und ruft einmal kräftig: "Hüah!", worauf sich der Pferdeschlitten in Bewegung setzt und abfährt. Der vierte Vorhang fällt. Das Orchester spielt "Jingle Bells", und der Dichter klettert dazu erneut auf die Bühne.

DICHTER: Und während sich nun Charles und Claudia samt Cedrick und den Pferden auf einer ausgedehnten winterlichen Schlittenfahrt in ganz gemütlichem Tempo auf den Weg in die Kirche machen, begeben wir uns noch rasch zu Yelena und Lukas Svensson, die auch schon in Aufbruchstimmung sein dürften.

Der Dichter geht ab, und der Vorhang öffnet sich wieder.

5. AKT (in dem reichlich Weihnachtsgebäck mitmischt)

In der Svenssonschen Küche. Am Küchentisch steht Hausherrin Yelena in Rollkragenpullover, Jeans und Küchenschürze und hat gerade mithilfe zweier runder Topflappen ein Blech mit fertiggebackenen Plätzchen aus dem Ofen geholt, als es an der Tür klingelt.

YELENA (gleich zur Tür laufend): Wer das können sein um dieses Zeit?

Sie stellt das Blech ab, legt ihre beiden Topflappen beiseite öffnet und vor ihr steht ganz außer Atem der Postbote Ihrer Majestät mit einem großen, schweren Paket von etwa 150x80 Zentimetern in den Händen.

POSTBOTE (schnaubend): Bin ich hier richtig bei den Svensson?!
YELENA (überrrascht): Schon, ja! Aber wir gar nicht erwarten so großes Paket! Wer denn sein Absender?
POSTBOTE (auf dem Aufkleber nachsehend): Fritz Salomon, Schönhauser Allee, Berlin, Deutschland.
YELENA (freudig): Ah, das ja! Das sein liebes Onkel von mein Mann Luki! Sie können geben mir!

Der Postbote übergibt ihr das Paket, unter dessen Last sie beinahe in die Knie geht. Der Postbote aber greift ihr blitzschnell unter die Arme und bewahrt sie so vor ihrem Kniefall.

POSTBOTE (aufgeregt): Vorsicht, junge Frau, das Ding ist schwer! Na, ist ja noch mal gutgegangen! Nun denn: Ein Frohes Fest für Sie und Ihren Mann!
YELENA (noch etwas erschrocken): Ja, sein sehr schwer! Aber alles sein gut! Frohes Weihnacht für Sie auch!

Sie schließt die Tür und trägt das Paket unter großer Kraftanstrengung in die Küche, wo sie es auf einem der Stühle behutsam abstellt.

YELENA (rufend): Luki, Liebes! Da sein gekommen Paket von gutes Onkel Fritz!

Aus dem Nebenraum heraus betritt Lukas Svensson bereits in Anzugjacke und Oberhemd mit Krawatte, aber noch ohne Hose die Küche.

LUKAS (erfreut): Von Onkel Fritz? Da ist bestimmt der übliche Marzipanstollen drin! Mmh, wie ich mich schon auf den gefreut habe.
YELENA (schmunzelnd): Das dann aber sein großes Stollen bei ein solches schweren Paket!
LUKAS (das Paket nachdenklich betrachtend): Nun, da muß diesmal wohl noch mehr drin sein! Ob ich es mal aufmache?
YELENA (Lukas auf die Finger klopfend): Weg mit Finger! Es noch nicht sein Zeit für Bescherung und Auspacken von Geschenke!
LUKAS (leise flehend): Ach bitte! Vielleicht ist da ja etwas ganz Wichtiges drin! Etwas, das keinen Aufschub duldet!
YELENA (lächelnd): Also manches Mal Du sein schlimmer wie Kind wenn noch klein! Na gut! Du schon dürfen aufmachen Paket, kleines Luki!
LUKAS (in die Hände klatschend): Au fein!

Lukas reißt an der Schnur des Paketes und an dem Klebeband, mit dem es mehr als reichlich umwickelt ist, aber so sehr er sich auch bemüht, beides gibt seinem Zerren einfach nicht nach. Vom Küchentisch nimmt derweil Yelena ein großes Brotmesser zur Hand.

YELENA (Lukas das Messer reichend): Du es vielleicht einmal damit versuchen, großes Entfesslungskünstler?!
LUKAS (nickend): Gute Idee, mein Schatz! Was würde ich doch nur ohne Dich anstellen?
YELENA (schmunzelnd): Nun, Du wahrscheinlich noch würden kämpfen mit großes Paket bis Neues Jahr!

Lukas hat unterdess mit der Schere das Paket aufgeschnitten. Er klappt den Deckel beiseite und schaut in das Paket hinein, wo er neben dem Stollen übereinandergestapelt noch unzählige alte dicke Buchbände vorfindet. Er nimmt eines der Bücher heraus und klappt den Deckel auf.

LUKAS (den Titel und die darunterstehende handschriftliche Widmung vorlesend): Sherlock Holmes von Sir Arthur Conan Doyle - Sonderausgabe mit sämtlichen Geschichten des weltberühmten Detektivs in 6 Bänden. Für unseren kleinen Liebling Lukas als Geschenk zum Heiligen Weihnachtsfest 1955. Wir lieben Dich! Und wir danken Gott für jedes Weihnachten, das wir gemeinsam feiern dürfen! Maria und Josef Svensson.
YELENA (einen Brief an der Innenseite des Pakets herausziehend): Hier auch sein Brief!

Lukas nimmt von Yelena den Briefumschlag entgegen, öffnet ihn und entfaltet das darin enthaltene Schreiben.

LUKAS (den Brief laut vorlesend): Lieber Lukas! Ich wünsche Dir und Deiner bezaubernden Frau Gemalin sowie Deinem Freund Timmy ein Frohes und Gesegnetes Weihnachtsfest sowie einen Guten, wenn auch nicht wörtlich zu nehmenden, Rutsch ins neue Jahr! Anbei die Bücher, die mir vom Nachlaßverwalter meines Herrn Bruders aus seiner neuen Heimat England kurz nach seinem Tod zugesandt wurde. Wie ich der innseitigen Widmung erst jetzt beim Aufräumen meines Kellers entnommen habe, dürften Sie von Anfang an für Dich bestimmt gewesen sein! Viel Freude beim Lesen und besinnliche Feiertage! Dein Onkel Fritz!

Eine einsame Träne kullert aus Lukas' Auge auf den Küchenboden. Yelena nimmt ihren Mann in die Arme und streichelt über seine Wange.

YELENA (tröstend): Du gar nichts müssen sein traurig! Das doch sein sehr schönes Geschenk von Dein Eltern! Und liebes Geste von gutes Onkel!
LUKAS (sich die Träne wegwischend): Du hast ja recht, mein Engel! Aber die Zwei fehlen mir doch so sehr seit Ihrem Unfall damals am Heiligen Abend 1955! Und doch hab ich seit Deiner Entführung vor ein paar Monaten das seltsame Gefühl, als hätte ich sie noch einmal gesehen und sogar mit ihnen Weihnachten gefeiert. Ja, genau, wir waren zusammen in London, in Rußland und auch in Berlin. Da haben wir den Weihnachtsmarkt am Alex besucht und einen sehr schönen Abend verbracht, bevor sie dann am Flughafen Schönefeld wieder als Engel gen Himmel entschwebt sind.
YELENA (seufzend): Ach, Luki! Das aber gewesen sein wirklich schönes Traum!
LUKAS (nachdenklich murmelnd): Ja, auch wenn ich mir nicht so sicher bin, ob das wirklich nur ein Traum war. Dafür war das Ganze einfach zu real, weißt Du?! Nur zu schade, daß ich keinen Beweis für das Ganze hab!

Lukas und auch Yelena erstarren mit einem Male in ihren Bewegungen, und der Dichter kommt von links die Bühne.

DICHTER: Menschenskind Lukas! Wo ist denn auf einmal all Dein kriminalistischer Spürsinn geblieben? Den gewünschten Beweis hab ich Dir doch seinerzeit längst in die Hand gegeben. Naja, da werd ich mir wohl noch was einfallen lassen müssen, um Dich wieder daran zu erinnern. Aber das hat sicherlich noch einen Moment lang Zeit, oder?! Also jetzt erstmal weiter im Text.

Der Dichter geht ab. Die Erstarrung des Svenssonpaares löst sich wieder, und Yelena beugt sich zu ihrem Lukas herüber und drückt ihm einen sanften Kuß auf die Wange.


YELENA (voller Mitgefühl): Ja, wirklich zu schade! Aber Du hast ja die Erinnerung an dieses wundervolle Erlebnis, die Du so oder so in Dir trägst und die Dir keiner jemals mehr nehmen kann.
LUKAS (Yelenas Kuß erwidernd): Das hast Du aber schön gesagt, mein Engel! Und auch ich danke, wie schon meine Eltern, Gott für jedes Weihnachten, das ich mit Ihnen feiern durfte. Und für jedes, das ich bis jetzt mit Dir feiern durfte und auch in Zukunft noch mit Dir feiern darf, wie viele auch immer das noch sein mögen!

In diesem Moment meldet sich das hölzerne Vögelchen aus der Kuckucksuhr an der Wand und schlägt exakt 5 mal an, womit es 5 Uhr nachmittags ist.

YELENA (erschrocken): Oh, es sein schon so spät! Wir losmüssen zu Kirche, sonst wir noch kommen zu spät!

Damit wirft sie ihre Schürze auf einen der Stühle und verschwindet blitzschnell im benachbarten Schlafzimmer.

LUKAS (den Blick nach oben gerichtet): Ja, es ist Zeit! Zeit, einmal Danke zu sagen für das Geschenk, daß Du uns mit der Geburt Deines Sohnes gemacht hast. Mögen wir dieses großartige Geschenk wie auch das unseres Lebens für immer ganz bewußt in unseren Herzen mit uns tragen. Vor allem, wenn auch nicht nur, an Weihnachten! Frohe und Gesegnete Weihnachten uns allen! Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden unter den Menschen, an denen Gott Wohlgefallen hat. Amen!"

Lukas geht ab in Richtung Schlafzimmer. Der fünfte Vorhang fällt. Das Orchester spielt "We Wish You A Merry Christmas", und der Dichter erklimmt ein letztes Mal die Bühne.

DICHTER (reimend): Und ist's nun an der Zeit zu gehn, so sag ich nun Aufwiedersehn! Auch ich wünsch ohne jede Frage, uns allen Frohe Feiertage! Und hoffend, dieses Stück gefiel, gehts weiter dann beim Krippenspiel!

Der Dichter geht ab, und der geschlossene Vorhang wird von oben herabfallen gelassen, wobei sich die zunächst stockdunkle Bühne sich mit einem Male in eine herrlich weiße, weihnachtliche Schneelandschaft verwandelt, in deren Mitte die riesigen, fast bis in den Himmel hineinragenden Türme der St.Pauls Cathedral von den Spots kleiner bunter Scheinwerferlichter angestrahlt erscheinen. Schlittenglocken ertönen und verstummen wieder. Das Orchester aber spielt leise "Stille Nacht" ...

HEILIGABEND - 24. Dezember 2009 - TEIL 2 - BITTE ANKLICKEN!

[Lukas findet einen Beweis, Wannabe macht ein paar unerhörte Entdeckungen]

Majestätisch erhob sich St.Pauls Cathedral mit ihren zwei Türmen in den abendlichen Himmel, während der große Zeiger der Turmuhr ganz nach oben auf die 12 zeigte und der kleine Zeiger genau entgegengesetzt dazu nach unten auf die 6. Und während aus dem Innern der Kirche durch die weit offenstehende Tür des Haupteingangs die leise Melodie von "O Come All Ye Faithful" nach draußen klang, strömten aus allen Himmelsrichtungen auch bereits die Gläubigen zu diesem Haus Gottes, um miteinander einer ganz besonderen Geburtstagsfeier beizuwohnen - der Feier der Geburt Jesu Christi vor genau 2009 Jahren. Unter all denen, die sich zu Fuß durch den Schnee hindurch auf den Weg zu dieser Feierstunde gemacht hatten, waren auch Yelena und Lukas Svensson, die sich von der nahegelegenen Ubahnstation nun der Kathedrale näherten. Mit ihnen gemeinsam war der Saxophonist Saxi unterwegs, der sein Instrument unter dem Arm mit sich trug. Auf der Straße an ihnen vorbei fuhr dabei mehrfach laut hupend das Auto Cathrin Napolitanis, in dem neben der Eigentümerin auch deren Freundin Jane und der kleine Luke - Yelenas und Lukas' Enkelsohn - saßen und dem Svenssonpaar ganz aufgeregt zuwinkten. Aus der entgegengesetzten Richtung war derweil ein zarter Glöckchenklang zu vernehmen, der von einem Zweispännerschlitten herrührte, welcher ebenfalls auf dem Weg zur Feier jenes Heiligen Abends zu sein schien. Auf dem Kutschbock des eigentümlichen Kufenfahrzeugs saßen Charles Wannabe und Claudia Palmer, in deren Mitte der farbige Junge Cedrick mit großen, strahlenden Augen auf das bunt erstrahlende Kirchengemäuer starrte. Hinter den Dreien aber hockten auf einer Ladefläche zehn, dick in alte Lumpen gekleidete Obdachlose - eben jene Obdachlose, deren momentane Wohnadresse die London Bridge war. Lediglich Henry Fist fehlte noch, um das dreckige Dutzend - wie Cedrick die Ansammlung der Zwölf oftmals leicht sarkastisch zu bezeichnen pflegte - voll zu machen. Da schoß wie aus dem Nichts einer der CI7 Mannschaftswagen heran, der am Straßenrand hielt, und dem als Fahrer Youstan Texas und als Beifahrer John Wayne Powerich entstiegen. Beide Männer begaben sich flinken Fußes nach hinten, wo sie die Türen des Transporters öffneten und dann eine Rampe herunterfahren ließen, über die sich Tim Hackerman mit seinem Elektrorollstuhl den Weg ins Freie bahnte. An seiner Seite aber lief Sabrina Meltstone mit leicht wippendem Schritt die abschüssige Rampe wie einen Laufsteg entlang. Und während sich alle auf dem Vorplatz der Kathedrale nun langsam immer näher kamen, erhob sich über ihren Häuptern mit einem Male ein geradezu ohrenbetäubender Lärm, mit dem eine gewaltige Luftströmung einherging. Die auf dem Platz Versammelten erhoben sichtlich erstaunt die luftig umwehten Köpfe und erkannten einen Hubschrauber, der nun inmitten des Platzes zur Landung ansetzte. Kaum hatte der Pilot jenes Helikopters auf dem Boden aufgesetzt und die Rotoren abgestellt, da entsprangen dem Bauch dieses Monstrums, dessen Heckflosse die russische Fahne zierte, auch schon Nina Svensson und ihre Tochter Lisa, wobei letztere sofort freudestrahlend auf ihren Vater zurannte und ihn in die Arme schloß. Und während Lukas, einige Sekunden lang in dieser innigen Umarmung verharrend, über die Schulter seiner Tochter schaute, erspähte er auf dem Vorplatz noch zwei weitere bekannte Gesichter. Das eine gehörte dem Kunstsammler Leon Ardo, der neben einem schwarzen Zylinderhut und einem langen Kunstnerzmatel auch einen dicken schwarzen Wollschal trug, den er sich einmal lässig um den Hals geschwungen hatte. Das andere vertraute Gesicht aber war das des Pflegers Alfred Robber, der an seiner Hand einen älteren Mann mit sich führte und ihn hin und wieder dazu animierte, statt kleiner Tippelschritte doch lieber größere Schritte zu machen. Sekunden später standen all diese Menschen zusammen vor der großen Treppe, die ins Kircheninnere führte und beschritten vereint die Stufen. Nur Timmy fuhr mit seinem Rollstuhl - begleitet von Sabrina - zum Seiteneingang der Kirche, wo eine von Pfarrer Shepherd selbst zurechtgezimmerte Rampe aus zwei Brettern auch ihm und seinem Rollstuhl den Zugang zu dem Innern des imposanten Gotteshauses gestattete. Drinnen trafen Sabrina und er dabei wieder auf all die anderen Besuchern der Gottesdienstfeier, die sich inzwischen in die unzähligen Bankreihen links und rechts des langen Gangs, welcher zum Altar führte, zu zwängen versuchten. Nur die zehn Obdachlosen, unter denen sich acht Männer, eine Frau und ein Baby befanden, wurden - noch bevor sie Gelegenheit hatten, überhaupt Platz zu nehmen - bereits von Pastor Shepherd zur Seite genommen. Er tuschelte aufgeregt mit ihnen und führte sie dann mit sich fort, wodurch sie den Blicken der übrigen, deutlich besser gekleideten Klientel der Gottesdienstbesucher entschwanden. Tim Hackerman, der dieses merkwürdige Vorgehen des Geistlichen ein wenig irritiert beobachtet hatte, hingegen blieb mit seinem Rollstuhl gleich neben dem Sitzplatz Sabrinas in vorderster Reihe direkt am Gang stehen, wo ihm sich wenige Momente noch ein kleines Mädchen mit langen blonden Haaren und großen leuchtenden Augen sowie einem unheimlich bezaubernden Lächeln hinzugesellte, welches in einem Faltrollstuhl von seiner Mutter hereingeschoben wurde.

Kaum hatten alle ihre Plätze eingenommen, da wurde im Innern langsam das Licht gedämpft, und der neben hinter dem Altar stehende gemischte Chor der St.Pauls Cathedral begann, als Eingangslied mehrstimmig "Hark The Herald Angels Sing" vorzutragen. Andächtig lauschten Lukas und Yelena und in ihrer Mitte der kleine Luke der wundervollen alten Weise, ebenso wie gleich neben ihnen Charles Wannabe und Claudia Palmer, zwischen denen dem kleinen Cedrick der Mund vor sichtlichem Erstaunen weit offenstand. Da drang mit einem Male ein leises "Psst" an das Ohr Wannabes. Zunächst hielt er es für die eindringliche Aufforderung eines Besuchers an einen anderen, doch bitte still zu sein, und kümmerte sich gar nicht weiter darum. Dann aber wiederholte sich jenes zischende Geräusch, zu dem sich ebenso zischend die Nennung seines Nachnamens gesellte, umkleidet von zwei höflichen Anreden: "Psst, Mister Wannabe, Sir!". Nun kümmerte sich Charles doch darum, woher dieses Geräusch kam, und entdeckte dabei hinter einem der Kirchenpfeiler Pastor Marc Shepherd, der ihn aufgeregt zu sich heranwinkte. Charles stand auf und begab sich, seinen Körper an seinen Banknachbarn vorbeizwängend, zu dem Geistlichen. Der aber begrüßte ihn rasch und flüsterte dann nervös: "Sir, ich hab da ein großes Problem! Mir ist quasi in letzter Minute der Engel des Herrn abgesprungen, und ich hab keinen Ersatz für ihn. Könnten Sie nicht vielleicht?!". Charles Wannabe war sichtlich erstaunt: "Gerade ich, der ich bei unseren bisherigen Zusammentreffen selten ein gutes Haar an Ihnen und Ihrem Glauben gelassen habe? Warum nehmen Sie denn nicht meinen Partner Lukas Svensson, zu dem die Rolle doch viel besser passen würde?". Shepherd aber erwiderte: "Nun, es ist wegen der Größe!". Und als Wannabe ihn fragend ansah, ergänzte er: "Wegen der Kleidergröße! Unser Engelskostüm ist eher eine M als eine, nun ja, XL". Charles Wannabe mußte unweigerlich schmunzeln, wozu er sprach: "Ihr Engel muß also schlank sein, ja?! Ist das nicht eine Art Diskriminierung der Schwergewichtigen? Ich sollte den Fall vielleicht einmal Amnasty International oder den Weight Watchers melden! Ne, Spaß beiseite: Ok, ich mach's! Ich hätte da allerdings noch drei Fragen ... Erstens: Wo ist der Fummel? Zweitens: Wie lautet mein Text? Und zu guter Letzt: Wie hoch ist meine Gage?". Entsetzt sah ihn Pastor Shepherd an. Charles aber grinste nur: "Ha, reingefallen! Aber nun sollten wir keine weitere Zeit verschwenden! Ich würd sagen, Sie weisen mir den Weg zur Krippe mit unserem kleinen Star von Bethlehem, und ich folge Ihnen unauffällig!".

Währenddessen war das Eingangslied auch schon fast an seinem Ende angelangt. Und so mußte sich Pastor Shepherd mit der Wegweisung für Charles Wannabe tatsächlich ein wenig sputen, um rechtzeitig zu seinen Eröffnungsworten wieder an seinem Platz hinter dem Altar zu sein. Er schaffte es gerade noch mit der letzten Note des Liedes, holte einmal tief Luft und sprach dann zu den versammelten Gästen: "Liebe Gemeinde, liebe Besucher! Wir alle haben uns heute abend hier zusammengefunden, um - wie in jedem Jahr - die Geburt unseres Herrn Jesus Christus zu feiern. Und wenn Sie sich dabei fragen sollten, was wir unserem Geburtstagskind wohl schenken könnten, so lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Wie wäre es denn zum Beispiel mit einem offenen Ohr für das, was er uns an diesem Heiligen Abend von sich, seiner Botschaft und von seinem Vater im Himmel zu erzählen hat? Lauschen wir also nunmehr in diesem Sinne gemeinsam andächtig der Geschichte seiner Geburt". Es kehrte mit einem Schlag Stille ein in dem großen Kirchengebäude. Und ganz vorn rechts vom Altar erstrahlte das schummrig-fahle Licht eines Scheinwerfers zum Ende des langen Kirchganges hin, in dessen Mittelpunkt sich die Konturen einer Frau und eines Mannes abzeichneten, die sich - in lange Tücher gehüllt - bedächtig ihren Weg über den roten Teppich bahnten. Der Mann stützte dabei die Frau an seiner Seite, deren Bauch - unter den, ihn bedeckenden Tüchern - eine auffällige Wölbung aufwies. Vom Altar her aber verkündete die warme Stimme eines älteren Mannes dazu: "Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde. Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. Und jedermann ging, daß er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt. Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, weil er aus dem Hause und Geschlechte Davids war, damit er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe, die war schwanger". Mann und Frau hatten im sie umgebenden schummrigen Licht inzwischen den ganzen langen Gang hinter sich gelassen und standen nun rechtsseitig des Altars vor einer großen Wand aus Pappmasche, über deren eingebauter Tür ein Schild mit der leuchtenden Aufschrift "Herberge" hing. Der Mann klopfte kurz an der Tür an, worauf ihm von einem dickbäuchigen Mann geöffnet wurde, der das Paar kurzzeitig ein wenig mitleidig beäugte, dann aber kopfschüttelnd seine breiten Schultern hob und ihnen die Tür vor der Nase zuschlug. Gesenkten Hauptes gingen die Frau und der Mann ein paar Schritte weiter nach links, wo direkt vor dem Altar am Boden auf breit ausgelegtem Stroh eine kleine hölzerne Futterkrippe stand. Das fahle Licht, das sie die ganze Zeit über auf ihrem Weg begleitet hatte, begann eigentümlich zu flackern, wozu sich wieder die sanfte Stimme des älteren Herrn erhob und verkündete: "Und als sie dort waren, kam die Zeit, daß sie gebären sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge". Das Flackern des Lichts hörte auf, und inmitten des Strohs der Futterkrippe war - angestrahlt von einem viel kleineren, aber dafür deutlich helleren Scheinwerfer - ein mit Mullbinden umwickeltes Kleinkind zu erkennen. Einen Augenblick lang war alles still, nur das kleine Kind gab immer wieder schrille, jauchzende Laute von sich. Erst jetzt bemerkte Tim Hackerman, das sowohl das Kind als auch die Frau und der Mann, welche lächelnd um die Krippe herumstanden, den Reihen der zehn Obdachlosen von der London Bridge entstammten. Das fahle Licht des großen Scheinwerfers richtete seinen Strahl nun von der Krippe weg auf die linke Seite des Altars aus, wo zwischen ein paar kleinen Stofflämmchen die restlichen sieben Obdachlosen auf dem Boden hockten - Strohhüte auf den Köpfen und lange, aus Baumästen zurechtgeschnitzte Stöcke in den Händen. Dazu ertönte ein weiteres Mal die Stimme des alten Mannes: "Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde". Da tauchte mitten unter den Hirtendarstellern das grelle Licht eines weiteren Scheinwerfers auf, in dessen Mitte sich - anfangs nur schemenhaft sichtbar - die mit Flügeln behangene Gestalt eines Mannes mit einer Art goldenem Ring über dem Kopf aus seiner bisherigen, am Boden zusammengekauerten Haltung heraus langsam zu voller Größe aufrichtete. Und die sanfte Stimme des alten Erzählers erklärte: "Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen ...". An dieser Stelle verstummte der alte Mann, das grelle Licht wurde leicht gedrosselt, woraufhin sich jene beflügelte Gestalt in einen, ganz in weißen Tüll gekleideten und von einem leicht verrutschten Heiligenschein gekrönten Charles Wannabe verwandelte, der mit tiefer Baßstimme geradezu gespenstisch raunte: "Fürchtet Euch ...". Der Flügelbehangene räusperte sich kurz und verlieh damit seiner Stimme sogleich etwas Helleres, als er daraufhin geradezu feierlich verlautbarte: "Fürchtet Euch nicht! Siehe, ich verkündige Euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen". Um den mit seiner kleinen, und dennoch keineswegs unbedeutenden Gastrolle in diesem Krippenspiel sichtlich zufriedenen Engel Chales leuchteten in diesem Augenblick exakt zwei Dutzend kleine, helle Scheinwerferspots auf, wobei in jedem das strahlende Lachen je eines ebenso kleinen, ganz von weißem Tüll umkleideten Kindes erschien. Die Stimme des alten Mannes aber erklang dazu noch ein letztes Mal: "Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen ...". Und auf dieses Stichwort ertönte aus den Reihen der himmlischen Kinderschar ein 24faches, wenn hier und da auch nicht ganz synchrones, und dennoch dadurch keineswegs weniger zu Herzen gehendes: "Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens".

Alle Lichter verloschen, nur der Spot auf dem Kind in der Krippe blieb. Und während sich im Halbdunkel unter dem donnernden Beifall aller spontan von ihren Plätzen aufgestandener Besucher all die anderen Laiendarsteller - unter ihnen mit stolzgeschwellter Brust und ein paar Tränchen der Rührung in den Augen auch Charles Wannabe - still und heimlich nach hinten abgingen, um sich wieder umzukleiden, blieben die Verkörperer der Maria und des Josef bei dem Kinde an der Krippe stehen und schauten ihm in die strahlenden Augen. Dazu betrat Pastor Shephard unter den leisen Klängen von "Away In A Manger" den Altar, bekreuzigte sich und begann - nach dem langsamen Abschwellen des Applauses - mit feierlicher Stimme seine Predigt: "Ja, liebe Besucher, uns allen ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr. Heute vor mehr als 2000 Jahren wurde in ihm Gott Mensch und begab sich aus den paradiesischen Zuständen seines Himmelreichs zu uns herunter, mitten hinein in unsere Welt. Dabei kam er keineswegs machtvoll seine Stärke zur Schau stellend in Glanz und Gloria mit einer prunkvollen, goldenen Kutsche und viel Gefolge, wie es die Herrscher seinerzeit zu tun pflegten. Nein, er kam nackt, schwach und geradezu ohnmächtig zur Welt unter denkbar ärmlichsten Verhältnissen. Gott machte sich in ihm arm, um uns durch das Geschenk seiner menschlichen Geburt reich zu machen. Schon in dem Zeichen seiner Geburt war er damit angetreten, den armen Menschen von seinem qualvollen Schicksal zu befreien, indem er ihm die Vergebung seiner Schuld und damit an seiner Seite das ewige Leben in einer besseren Welt, dem Paradies, anbot. Alles aber, was wir tun müssen, um dieses kostbare Geschenk in Empfang nehmen zu können, ist glauben. Ja, meine lieben Freunde, glauben an ihn, den Heiland, der uns heil macht, indem er uns befreit von all dem, was an dunklen Schatten auf unserer Seele lastet". Leise schluchzend senkte Cathrin Napolitani bei diesen Worten ihren Kopf und legte ihn auf die Schulter ihrer Freundin Jane, die ihr dabei sanft über das Haar strich. Pastor Shepherd aber fuhr in seiner Ansprache fort: "Er, der unsere Armut am eigenen Leibe erfahren hat, ist gekommen, sie schon hier auf Erden zu mildern und zu lindern. Er schenkt den armen Seelen reichen Trost, und läßt sie durch sein unermüdliches Bodenpersonal gelebte Nächstenliebe erfahren". Die inzwischen zurückgekehrten, und sich ganz leise überall im Gang vertreilenden Obdachlosen nickten sich stumm zu. Saxi aber, der in einer der hinteren Bankreihen saß, lächelte, und versuchte dabei, mit den Augen seine beiden neuen Freunde Lukas Svensson und Charles Wannabe unter den Anwesenden auszumachen. Jenen Charles Wannabe, der gerade wieder neben Claudia und Cedrick Platz genommen hatte und nun vielsagend dem kleinen, farbigen Jungen an seiner Seite zublinzelte. Pastor Shepherd aber sprach: "Und dabei beschränkt sich jenes Mildern unserer Leiden keineswegs auf die Armut allein, sondern gilt ebenso für all die Krankheiten, die uns plagen. Auch hier verspricht Gott dem gläubigen Menschen in seinem Wort Trost, Beistand und Linderung". Stumm schauten sich Alfred Robber und der neben ihm sitzende Hudson Butler tief in die Augen. Pastor Shepherd aber fuhr unvermindert fort: "Allem voran aber beschenkt uns Gott in seiner Menschwerdung mit seiner Liebe. Einer Liebe, die das Handeln seines Sohnes über die ganze Zeit seines irdischen Daseins begleitet und die ihn am Ende nicht einmal vor dem Sich-selbst-für-uns-Opfern am Kreuz zurückschrecken läßt. Ja, liebe Schwestern und Brüder, werte Gäste, auch der Schatten des Kreuzes schwebt bereits über dieser festlichen Stunde. Das Kreuz auf dem Hügel Golgatha vollendet, was im Stall in der Krippe begann - Gottes Plan zur Erlösung und Errettung der Menschheit. Diese selbstlose, aufopfernde Liebe Gottes zu uns, seinen Kindern, sollte uns dabei jederzeit als Beispiel dienen - als Beispiel für unsere Liebe zu Gott wie auch für unsere Liebe untereinander". Bei diesen Worten kehrte ein seltsames Funkeln in die Augen vieler Besucher ein, wobei sie jeweils paarweise dem Menschen an ihrer Seite tief in die Augen schauten - Yelena Lukas, Sabrina Timmy und Charles Claudia. Und wenn Lukas nicht nur Augen für seine Frau gehabt hätte, dann wäre ihm vielleicht auch aufgefallen, welch verstohlene Blicke in diesem Moment in seinem Rücken auch seine Tochter Lisa und der wohl kaum ganz zufällig gerade neben ihr sitzende John Wayne Powerich miteinander austauschten. Pastor Shepherd aber setzte all dessen ungeachtet nun zum Ende seiner Predigt an: "Und damit entlasse ich Sie, denen Gott das wunderbare Geschenk dieses Heiligen Abends zuteil werden läßt, aus dieser Feierstunde und vertraue Sie dem Segen Gottes an". Die Versammelten erhoben sich, soweit es ihnen möglich war, auf jenes Stichwort hin von ihren Plätzen und falteten dabei andächtig die Hände vor sich. Pastor Shepherd aber erhob seine Hände weit ausgebreitet über ihre Köpfe hinweg und sprach: "Der Herr segne Euch und behüte Euch. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über Euch und sei Euch gnädig. Der Herr hebe sein Angesicht über Euch und gebe Euch Frieden! Amen!". Einstimmig bekräftigte die Menge der Anwesenden den in jenem Amen zum Ausdruck kommenden Wunsch, das alles Gesagte genau so geschehen möge, worauf Pastor Shepherd zu ihnen sprach: "Und nun, bevor Sie aufbrechen und draußen vor der Tür wieder jeder seines Wegs zieht, möchten wir es wie schon im letzten Jahr halten und einem jungen Musiker die Chance geben, uns mit seiner Sangeskunst zu erfreuen. Und darum, meine Lieben, zum musikalischen Ausgang unseres Gottesdienstes hier nun der kleine Cedrick, oder - wie er sich zu nennen pflegt - Mike L.Jag's Sohn mit seinem, zum Geist dieses ganz besonderen Abends äußerst passenden Wunsch "Heal The World". Cedrick aber erhob sich von seinem Platz und trat freudestrahlend nach vorn, wo er aus voller Kehle mit glasklarer Stimme jene ergreifende Popballade vorzutragen begann. Am Ende spendete man dem jungen Künstler minutenlang tosenden Beifall, woraufhin sich die Masse anschließend langsam von ihren Plätzen erhob und nunmehr aus den Bankreihen über die Gänge dem Ausgang entgegenströmte, an dessen weit geöffneter Pforte der inzwischen dorthin enteilte Pastor Shepherd noch einmal jedem Einzelnen von ihnen die Hand schüttelte und dabei unermüdlich jedem ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest wünschte.

Es dauerte zirka eine halbe Stunde, dann war das Kirchengebäude fast menschenleer. Nur hier und da saßen und standen vereinzelt noch ein paar Gäste. Vorn nahe dem Altar beispielsweise hatten sich Charles Wannabe, Hudson Butler und sein Pfleger Alfred sowie der Kunstsammler Leon Ardo vor der wiederaufgetauchten Paulusfigur eingefunden, wobei letzterer entzückt feststellte: "Ist er nicht einfach eine prächtige Erscheinung?! Sie haben sich mit diesem wunderbaren, einzigartigen Werk wahrlich schon zu Lebzeiten ein Denkmal gesetzt, großer Meister Butler". Und während Hudson Butler vorsichtig nickte, ertönte aus dem Hintergrund die Stimme einer Frau: "Ja, das hat er. Und nicht nur in dieser hölzernen Figur, sondern vor allem auch in seiner nicht weniger wunderbaren und einzigartigen Tochter Lilly". Erschrocken in sich zusammenzuckend drehte sich Hudson Butler um und stammelte: "Angela, Du! ... Ich ... ich hab das ... das nicht ... nicht gewußt, daß ... daß Du und Lilly ... daß ihr auch hier ... auch hier seid, sonst ...". Die Frau, die vor sich den Rollstuhl mit jenem kleinen blonden Mädchen herschob, aber fiel ihm ins Wort: "Na, was dann, Hudson?! Ich hoffe doch, Du wolltest sagen, dann hättest Du uns längst begrüßt, mir die Hand und Deiner Tochter einen Kuß gegeben?!". Überglücklich stürzte Butler auf die beiden Damen zu und umklammerte dabei erst dankbar die Hand der Frau, um dann vor dem Rollstuhl mit dem Mädchen auf die Knie zu sinken, ihr seine Arme um den Hals zu werfen und ihr kleines, strahlendes Gesicht über und über mit Küssen zu bedecken. Die Mutter der Kleinen aber sprach: "Verzeih mir bitte die Verbitterung, mit der ich in den letzten Jahren nicht nur Dir Dein Töchterchen, sondern auch ihr den Vater vorenthalten habe! Du kannst uns in Zukunft jederzeit besuchen kommen, ebenso wie Lilly Dich jederzeit besuchen darf. Das verspreche ich Euch Beiden und wünsche uns allen Dreien damit ein frohes und segensreiches Fest und noch viele glückliche neue Jahre!". Langsam erhob sich Hudson Butler und erwiderte: "Ich hab Dir längst verziehen, Angela! Und ich wünsche auch Dir und meiner Lilly von ganzem Herzen ein frohes und segensreiches Fest!". Und ohne lang zu zögern, ergriff er Lillys Rollstuhl und begann, ihn langsam vor sich herzuschieben in Richtung des Seiteneingangs, über dessen Rampe Vater und Tochter gemeinsam mit deren Mutter und Pfleger Alfred nach draußen entschwanden.

Charles, der dieser anrührenden Szene andächtig beigewohnt hatte, richtete seinen Blick nun wieder auf den hölzernen Paulus, von dessen wahrhaft sehr lebendiger Erscheinung nicht nur er, sondern mit ihm erneut auch Leon Ardo ganz angetan war: "Und schauen Sie doch nur, wie seine linke Hand uns den Weg zum Himmel zu weisen versucht ... Aber Moment mal, was ist denn das? Um Himmels willen, da ist ja ein kleiner Riß in seiner Hand, so als hätte er, während er verschollen war, eine Wunde davongetragen". Bestürzt näherte Ardo sein Gesicht der Figur, um die beschädigte Stelle genauer in Augenschein nehmen zu können. Doch auch in Charles Wannabes Gesicht war Bestürzung eingekehrt. Eine Wunde an der linken Handinnenfläche?! Das kam ihm doch irgendwie merkwürdig bekannt vor. Im Geiste erinnerte er sich wieder an seinen Abschied von Pauli und dessen Erwiderung auf seine Frage nach der tiefen Rißwunde, die jener in der linken Hand aufwies: 'Ach, das! Das ist weiter nichts, da bin ich nur beim Kistenschleppen vorhin an einem herausragenden Nagel hängengeblieben'. Wannabe war plötzlich ganz aufgeregt. Aber das konnte doch nicht sein, das war doch nicht möglich! Oder etwa doch? Nun, wenn man einmal länger darüber nachdachte ... Die Figur war auf mysteriöse Weise verschwunden, wenig später tauchte wie aus dem Nichts Pauli auf, dann verschwand Pauli plötzlich wieder spurlos nach einem Spaziergang im Hyde Park, und ein paar Stunden später taucht der hölzerne Paulus wieder auf, unversehrt bis auf denselben wunden Punkt, den zuvor auch Pauli hatte. Charles brauchte Gewißheit. Und so rief er rasch Pastor Shepherd zu sich. Der Pfarrer setzte schon an, sich bei Charles Wannabe für dessen engelhaften Einsatz beim Krippenspiel zu bedanken, aber Wannabe fiel ihm sofort ins Wort: "Wie war das noch gleich, als der Paulus wieder auftauchte?!". Shepherd überlegte kurz, dann erzählte er: "Die Mutter der kleinen Lilly hat ihn uns gestern Nacht zurückgebracht und sagte, ihre Tochter hätte die Figur auf einer nachmittäglichen Spazierfahrt im Hyde Park gefunden, so wie sie es mit der Statue zuvor bei ihrem letzten Besuch hier in der Kirche verabredet hätte! Und die Kleine hat ihm eine rotweiße Pudelmütze mit Bommel übergestülpt und ihn in eine lange rote Kutte eingewickelt". Und während sich Pasor Shepherd nach dieser Auskunft wieder in Richtung Hauptausgang bewegte, um dort auch noch den Rest der Kichenbesucher zu verabschieden, geriet Charles Wannabe ganz außer sich. Er schlug die Hände wild über dem Kopf zusammen und rief begeistert: "Es paßt! Alles paßt! Der Hyde Park! Die rote Kutte, die Pauli trug! Und die rotweiße Bommelmütze, die er aufhatte! Und der Name, natürlich der Name: Pauli! Ich muß echt blind wie ein kleiner Maulwurf gewesen sein, das ich das die ganze Zeit über nicht bemerkt habe. Paulus ist Pauli, und Pauli ist Paulus! Jetzt versteh ich auch die komische Nachricht auf Paulis Karte in der Kutsche 'Was aber unser Wiedersehen angeht, so verweise ich dabei auf: MARY X. MAS. DECEMBER. 24 CUINCHURCH'. Das war gar nicht seine momentane Wohnadresse. Das Ganze ist vielmehr seine Grußbotschaft an mich ... Merry Christmas, also Frohe Weihnacht! Dezember, der vierundzwanzigste, das ist heute. Und das CUINCHURCH bedeutet See You In Church bzw. Wir sehen uns in der Kirche, also hier!". Augenzwinkernd trat Charles Wannabe vor die hölzerne Figur hin und flüsterte: "Schön, Dich wiederzusehen, mein Freund! Hab Dank für alles, was Du während Deines so kurzen irdischen Gastspiels als Mensch für mich getan hast! Ich hoffe, Dir hat unser kleines Krippenspiel genauso gefallen wie mir. Ach übrigens: Ich werde Dich in Zukunft sicher noch öfter hier besuchen kommen und mit den ganzen Neuigkeiten und Problemen in meinem Leben zutexten, schließlich mußt Du mir in Deinem jetzigen Zustand ja zuhören, ob Du nun willst oder nicht! Und weglaufen kannst Du vor mir auch nicht! In diesem Sinne: Zieh Dich schon mal warm an, mein Bester! Und Frohe Weihnachten, mein Freund!".

Charles Wannabe machte auf dem Hacken kehrt und schaute dabei in die entsetzten Augen Leon Ardos, der sich langsam rückwärts gehend entlang des Ganges in Richtung Ausgang bewegte und dabei immer wieder wisperte: "Ein Verrückter! Ich habs ja von Anfang an gewußt, der Mann ist nicht ganz beitroste. Redet mit einer Holzfigur wie mit einem Menschen und nennt sie sogar seinen Freund! Nichts wie weg hier, bevor der Irre noch ganz durchdreht und uns alle als Geiseln nimmt!". Immer weiter wich der Kunstsammler im Gang zurück und versuchte dabei krampfhaft, auf dem Teppich zu bleiben. Schon war er am Ausgang angelangt, wo er beinahe noch den ihm entgegentretenden Pfarrer über den Haufen gerannt hätte. Pastor Shepherd aber reichte ihm die Hand und wünschte dem, sich langsam umdrehenden, verdutzten Ardo ein frohes Fest. Der Kunstsammler reagierte angesichts der von ihm befürchteten Bedrohung in seinem Rücken zunächst ein wenig unwirrsch, meinte dann aber: "Ihnen auch Frohe Feiertage!". Und mit einem Blick auf den draußen soeben wieder einsetzenden Schneefall, ergänzte er, den Kragen seines Kunstnerzes hochklappend: "Ich nehm mir wohl für den Heimweg lieber ein Taxi! Heut abend sind mir zuviele Spinner unterwegs. Und außerdem holt man sich bei dem Hundewetter ansonsten noch den Tod!". Damit verschwand er in die Dunkelheit des Kirchenvorplatzes. Charles Wannabe aber mußte beim letzten Satz des entschwindenden Exzentrikers mit der Kombination aus Hund und Tod unweigerlich wieder an seinen Gefährten Vierbein denken. Die Tränen schossen ihm augenblicklich in die Augen, und weinend suchte er - sich nach allen Seiten verzweifelt umblickend - nach einer Möglichkeit, sich mit seinem wieder aufkommenden Schmerz ein wenig zurückzuziehen.

Ganz am anderen Ende des Kirchengebäudes saß auf einer der Bänke einsam und verlassen Cathrin Napolitani, aus deren Augen beim Anblick der inzwischen leeren Krippe vorn am Altar ebenfalls Tränen herabrollten. Jane war mit Luke vor einer Minute zur Toilette gegangen, so daß sie für den Moment mit all den quälenden Gedanken in ihrem Kopf ganz allein zurückgeblieben war. Wieder sah sie die toten Augen ihres Mannes Steven vor sich und wieder das Blut, das aus seinem Körper herausschoß und dabei an ihren Händen klebte. Und sie dachte an die Worte des Pfarrers von Schuld und Vergebung und von dem Heiland, der den Gläubigen zu befreien vermag von all dem, was an dunklen Schatten auf seiner Seele lastet. Ob er wohl recht hatte damit? Nun, warum sollte sie es nicht einmal versuchen?! Kein Ort war im Grunde genommen besser geeignet als dieser, um sich einmal alles Belastende von der Seele zu reden. Sie schaute sich in der Kirche um und entdeckte, etwas abseits gelegen, an einer der Seitenwände in eine Nische eingelassen tatsächlich einen Beichtstuhl, zu dem sie nun zuversichtlich ihre Schritte zu lenken begann. Dort angekommen, zog sie den Vorhang beiseite und setzte sich im Innern der kleinen, dunklen Zelle auf den bereitstehenden Stuhl. Sie zögerte einen Moment, dann aber hörte sie nebenan ein leises Räuspern, und so begann sie mit zitternder Stimme: "Pater, ich möchte beichten! Ich habe schwere Schuld auf mich geladen. Wissen Sie, ich habe meinen Mann Steven ermordet mit zwölf Messerstichen in den Bauch. Und meine Freundin Jane, die ich erst an diesem Tag überhaupt kennengelernt hatte, versetzte ihm zwölf weitere Stiche in den Rücken. Ich weiß natürlich, daß es für unser Tun keine Entschuldigung gibt, aber Steven hat uns beide belogen und betrogen und uns dann noch zutiefst gedemütigt, indem er uns quasi eine Ehe zu dritt vorschlug, so als sei das das Natürlichste auf der Welt. Daß wir beiden Frauen trotz allem nicht im Gefängnis gelandet sind, verdanken wir einzig und allein dem Stiefvater meiner Freundin Jane, dem Ex-Inspektor von Scotland Yard, Mister Lukas Svensson. Er hat die beiden Tatwaffen an sich genommen und bei Nacht und Nebel im Auto eines toten Mafiabosses versteckt, wo sie seine Kollegen dann fanden und den Mafiosi postum für den Mord verantwortlich machten. Und obwohl damit alles bereinigt schien, tief im Innern werde ich seither die Last meiner schweren Schuld einfach nicht wieder los. Zutiefst wünschte ich, ich könnte das Geschehene wieder rückgängig machen. Aber das kann ich leider nicht! Das kann niemand! Und darum bitte ich Sie, Pater, vergeben Sie mir stellvertretend! Stellvertretend für meinen toten Mann und für Gott, durch dessen Sohn Jesus Christus und seinen Tod am Kreuz die Vergebung meiner Schuld ja überhaupt erst möglich wird!". Schweigend wartete Cathrin auf ein erlösendes Wort jenes Mannes in der Nachbarzelle. Doch stattdessen vernahm sie nur ein weiteres Räuspern, dann das Rascheln eines zurückgezogenen Vorhangs, ein paar sich rasch entfernende Schritte und schließlich Stille - schwere, bedrückende Stille. Erst die inzwischen mit Luke wiedergekehrte Jane befreite sie aus dieser Stille, indem sie wenige Augenblicke später den Vorhang des Beichstuhls zurückzog und aufgeregt fragte: "Cathrin, um Himmels willen, was tust Du denn da drin? Wir haben Dich schon überall gesucht, und wenn ich jetzt nicht von weitem unter dem Vorhang Deine Wildlederstiefel erkannt hätte ...". Weiter kam Jane nicht, denn schluchzend fiel ihr die kreidebleiche Cathrin in die Arme und wisperte: "Oh Gott, ich glaube, ich hab grad einen schlimmen Fehler begangen! Hast Du vielleicht eben gerade jemanden von diesem Beichtstuhl weglaufen sehn?". Jane aber zuckte mit den Schultern: "Nein, niemanden! Naja, außer vielleicht Mister Wannabe, der an uns vorbei zum Seiteneingang lief und es dabei ziemlich eilig zu haben schien!".

Charles Wannabe stapfte draußen am Seitenflügel der Kirche im sachte herabfallenden Schnee hin und her. Dabei hatte er den Kopf gesenkt und dachte nach, als er mit einem Male aus der dunklen Ecke hin zum hinteren Bereich des Kirchengebäudes wieder jenes merkwürdige, intervallmäßig immer wieder an- und wieder abschwellende, leise Pfeifgeräusch zu vernehmen glaubte, welches er schon kurz vor der Detonation von Lou Cyphers Unterschlupf in der Jump Street Nummer 21 gehört hatte. Er erhob sein Haupt und ging dem Geräusch nach, wobei ihn seine Schritte zu einer jener alten, blauen Polizeirufzellen aus den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts führten. Sichtlich verwundert kratzte sich der Privatermittler am Kopf. So ein altes Relikt hier direkt an den Mauern dieser altehrwürdigen Kirche? Vorsichtig schlich er auf leisen Sohlen um die Zelle herum, als er hinter ihr an der Wand einen großen schwarzen Schatten erblickte, der sich ruckartig hin und her zu bewegen schien. Charles Wannabe ballte angriffsbereit die Fäuste und rief: "Hallo, Sie da, was tun Sie da hinter der Notrufzelle? Kommen Sie sofort raus, und zwar schön langsam! Und lassen Sie die Pfoten gefälligst da, wo ich sie sehen kann, verstanden?!". Nun, es schien ehrlich gesagt nicht so, als hätte ihn die hinter dem mysteriösen Schatten steckende Gestalt verstanden, denn mit einem Satz sprang sie auf Wannabe zu und umklammerte wild knurrend sein linkes Bein. Charles Wannabe aber stand einen Moment lang einfach nur starr da, dann ließ er sich auf die Knie sinken und packte den nächtlichen Angreifer mit beiden Händen, wozu er weinend schrie: "Vierbein! Mein Junge! Vierbein, Du lebst ja! Was für ein Glück, daß Du lebst! Danke, Herr, ich danke Dir für dieses Geschenk des Himmels! Du hättest mir wahrlich kein besseres machen können!". In seinem Rücken tauchte aus dem Innern der Polizeirufzelle urplötzlich ein alter Mann mit Mantel, Schal und einer merkwürdigen Pudelmütze auf, der Charles Wannabe zuzwinkerte: "Ah, dann ist das also Ihr Hundchen, wie! Na, freut mich, daß Sie und der kleine Racker sich jetzt wiedergefunden haben! Ich hab den kleinen Ausreißer nämlich gestern am späten Abend im östlichen London in der Jump Street aufgegriffen, kurz bevor da das große Hochhaus in die Luft flog. Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?! Ich bin der Doktor!". Charles reichte dem Mann die Hand und fragte: "Der Doktor? Doktor Wer?!". Der Mann mit der Mütze aber schüttelte nur den Kopf: "Ach wissen Sie, Namen sind Schall und Rauch!". Charles Wannabe schaute erst auf den Mann, anschließend auf die Notrufzelle hinter ihm, dann fragte er: "Waren Sie etwa die ganze Zeit über da drin in der Zelle?". Der Mann nickte: "Ja, ich wohne sogar da!". Wannabe schaute ihn ungläubig an: "Sie wohnen da?! Das ist doch viel zu klein zum Darinwohnen!". Der namenlose Doktor aber schüttelte nur milde den Kopf: "Ach, drinnen ist es viel geräumiger, als es von draußen ausschauen mag. Wenn Sie mir nicht glauben, dann fragen Sie doch Ihren kleinen vierbeinigen Kumpel". Und seufzend auf den Hund schauend, ergänzte er: "Wissen Sie, ich kann gut nachvollziehen, wie Sie sich jetzt fühlen. Ich hatte nämlich auf meinen vielen Reisen neben einer Menge Zweibeiner auch mal so einen Vierbeiner als Begleiter, auch wenn der damals nicht ganz so lebendig war wie Ihr kleiner Freund hier! Nun ja, genug geplaudert! Ich muß weiter, wissen Sie?! Aber wir werden uns in naher Zukunft sicher wiedersehen. Ich hab nämlich vor, mich hier in ein paar Jahren seßhaft zu machen! Also dann, bis später! Ach ja, und Frohe Weihnacht!". Charles hatte sich unterdess längst wieder seinem Hundefreund gewidmet, mit dem er wild im Schnee herumtobte. Und so bemerkte er gar nicht, wie sich jener Doktor wieder in seine Zelle zurückzog. Er hörte diesmal auch nicht das eigenartige, intervallmäßig immer wieder an- und abschwellende, leise Pfeifgeräusch, welches Sekunden später folgte. Stattdessen bemerkte er etwa eine Minute danach eine Hand, die ihm aufgeregt auf die Schulter tippte. Sie aber gehörte keinem anderen als Lukas Svensson, der ihm lächelnd entgegensah und dazu mit einem Blick auf Vierbein meinte: "Na bitte, da ist er ja wieder, Ihr kleiner Hund!". Charles Wannabe nickte begeistert: "Ja, ja, da ist er! Der Doktor aus der Polizeirufzelle hier hat ihn mir zurückgebracht". Lukas sah Charles verwundert an: "Welcher Mann und welche Polizeirufzelle?". Wannabe aber schüttelte nur mitleidig den Kopf: "Na die Zelle direkt hinter mir! Haben Sie denn keine Augen im ...". Weiter kam er nicht, denn in seinem Rücken gab es - wie er, sich umdrehend, feststellte - nur noch die kahle Wand an Ecke des Kirchengebäudes. Die blaue Notrufzelle aber war verschwunden. Charles rieb sich ungläubig die Augen, dann aber sprach er schulterzuckend: "Ach was solls! Hauptsache, mein kleiner Vierbein ist wieder da und lebt!". Und damit erhob er sich und lief mit seinem Hundefreund um die Wette völlig ausgelassen über den schneebedeckten Vorplatz. Lukas aber schaute dem Treiben der Beiden sichtlich amüsiert zu. Und so sah er auch, wie Vierbein sich plötzlich im dicksten Schnee auf den Rücken warf und dabei mit allen vier Pfoten wild um sich schlug. Der hinzugeeilte Charles Wannabe beobachtete den Streuner eine Sekunde, dann rief er: "Ah, ich verstehe: Schnee-Engel! Die haben meine Mutter und ich früher auch immer gemacht!". Und damit warf auch Wannabe sich rücklings in den Schnee und zappelte dabei ganz aufgeregt mit Armen und Beinen. Lukas, der ihnen bislang nur lachend zusah, wurde mit einem Mal nachdenklich und ernst, wobei er zu murmeln begann: "Aber natürlich! Schnee-Engel! Genau die haben meine beiden Eltern und ich doch auch auf dem Flugplatz in Berlin-Schönefeld gemacht, kurz vor unserem Abschied voneinander. Und davon gibt es sogar ein ... Menschenskind, na klar, ein Foto! Ein Foto, das ich mit der Digitalkamera gemacht hab, die mir dieser nette Vater der kleinen Laura auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Alex geschenkt hat. Die Kamera muß ich dann doch noch irgendwo hier in meiner Manteltasche ...". Aufgeregt durchkramte er erst die rechte und dann die linke seiner tiefen Regenmanteltaschen, wobei er aus letzterer schließlich jene kleine Kamera hervorzog, mit der er wild hüpfend wieder ins Kircheninnere zurücklief, um den beweiskräftigen Fund sogleich seiner Yelena zu präsentieren. Charles und sein Vierbein aber tobten weiter im Schnee herum, bis auch sie schließlich durchgefroren um voller Schnee am ganzen Leib wieder ins Innere der Kathedrale zurückkehrten, um Claudia und Cedrick abzuholen und ihnen vom Umstand ihrer glücklichen Wiedervereinigung zu berichten.

Und während draußen weiter leise der Schnee rieselte, kam in seinem Elektrorollstuhl Tim Hackerman aus dem Seiteneingang der Kirche langsam die Rampe heruntergerollt. Er blickte lange gedankenversunken in den sternenklaren Nachthimmel, dann sah er eine Sternschnuppe und schloß, einen heimlichen Wunsch vor sich her murmelnd, die Augen. Als er sie gerade wieder öffnen wollte, legten sich zwei zarte Hände darüber, und die liebliche Stimme seiner Sabrina ertönte: "Na, was hat mein kleiner Tiny Tim sich gewüscht? Oder will er mir das nicht verraten, weil es sonst nicht in Erfüllung geht?". Timmy aber nickte, wobei Sabrinas Hände seine Augen wieder freigaben. Und ihr einen warmen Kuß auf die kühle Wange hauchend, erklärte er: "Es waren gleich drei Wünsche auf einmal. Zum ersten, daß Du jetzt bei mir sein mögest. Der hat sich eh schon erfüllt! Und zum zweiten, daß Du nicht nur jetzt, sondern für immer bei mir sein mögest! Und der erfüllt sich gleich, wenn Du Ja sagst!". Ein wenig ungläubig schaute Sabrina ihn an: "Ja?! Wozu soll ich ja sagen?". Tim aber schmunzelte: "Dazu, meine Frau zu werden, natürlich! Und ich hoffe, Du bestehst jetzt nicht darauf, daß ich vor Dir niederknie?!". Sabrinas Arme umschlangen seinen Hals. Und während Sie sein Gesicht mit Küssen geradezu überschüttete, rief sie: "Nein! Also nein, natürlich mußt Du nicht niederknien! Und ja! Ja, ich will! Und wie ich will! Laß mich Dein Rollergirl sein! Jetzt und für immer!". Ihre Münder vereinten sich im heißen Spiel ihrer Zungen. Und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis sich die zwei wieder voneinander trennten, wobei Sabrina neugierig fragte: "Und was war dann eigentlich Dein dritter Wunsch?". Timmy aber sprach: "Das war natürlich jener klassische Schlußsatz von meinem Namensvetter aus Charles Dickens wunderbarer Weihnachtsgeschichte: 'Möge Gott uns alle miteinander segnen, einen jeden von uns!'" ...

[ENDE]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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Angel (15. September 2012, 13:53)

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