ANSTELLE EINES VORWORTES
Sehr geehrter Herr Fontane (oder darf ich als Landsmann vielleicht auch einfach Lieber Theo sagen?!),
Ich danke Ihnen recht herzlich für die Einladung, mit Ihnen unsere gemeinsame brandenburgische Heimat zu bereisen. Auch wenn es möglicherweise ein wenig vermessen sein mag, den mit "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" überschriebenen, mehr als 1000 Seiten umfassenden Text Ihres - zu einem Buch gebundenen - Werkes als schlichte Einladung zu verstehen. Und dennoch: Genau das ist Ihr Buch für mich ... und so folge ich Ihnen - wenn auch nach fast 150 Jahren sicher ein klein wenig verspätet - von nun an in den kommenden Tagen, Wochen, Monaten und Jahren an all die Orte, die Sie mir in Ihrem oben genannten Reisebericht so wortgewandt vor Augen zu führen versuchen. Ich hoffe dabei, nicht nur meiner Heimat sondern auch Ihnen, großer Dichter, ein Stück weit näher zu kommen - auch wenn ich hier und da von der Reihenfolge der einzelnen Reisestationen wie vom Schreibstil her sicher meine ganz eigenen Wege gehen werde. Sie einholen zu wollen, gedenke ich dabei in keinster Weise, dafür dürfte ich mit meiner Nachfolge dann wohl doch ein wenig zu lange gewartet haben. Und dennoch glaube ich ganz fest daran, Ihnen am Ende meines irdischen Weges einmal Auge in Auge gegenüberzustehen und mich mit Ihnen über das Erlebte austauschen zu können.
Ganz von diesem Gedanken beseelt, wage ich den ersten Schritt ... jenen ersten Schritt, mit dem jede Reise nun einmal beginnt. Mich führt er aus meinen heimischen vier Wänden nach draußen, wo mich sogleich strahlendster Sonnenschein in Empfang nimmt. Ich atme ein paar Mal tief durch und stürze mich dann ins Menschengetümmel meiner Heimatstadt Hennigsdorf - nördlich vom hauptstädtischen Berlin. Meine Füße tragen mich dabei über die Gehwege am Rande jener Straßen hinweg, die inzwischen längst Ihren Namen tragen ... erst die FONTANEsiedlung, dann die FONTANEstraße. Ja, geschätzter Wegbereiter, vieles hier im Brandenburgischen ist nach Ihnen benannt. Hier, wo selbst nach der Einführung des Euro als europäische Einheitswährung die "Mark" noch immer ihren festen Platz hat, ehrt man das Andenken an einen der größten Söhne, die das Land hervorgebracht hat, auf diese Art und Weise. An Fontaneschulen lesen die Jugendlichen Ihre Erzählungen - beispielsweise die Geschichte der "Effi Briest", die mich dank ihrer leidenschaftlichen Dramatik schon zu meiner Schulzeit in ihren Bann zu ziehen vermochte. Unsere Kinder lernen Ihre Gedichte - zum Beispiel das über "John Maynard" oder das von "Herr Ribbeck auf Ribbeck im Havelland", deren Vortrag mir auch heute noch jedes Mal die Tränen ins Auge treibt und an deren Vorbildwirkung sich quasi mein ganzes Leben ausrichtet.
Während so meine Gedanken noch ganz um Ihre Person und Ihr umfangreiches Lebenswerk kreisen, erreiche ich auf meiner Wanderschaft auch schon den Hennigsdorfer Bahnhof, wo ich am Fahrkartenautomaten noch rasch ein Ticket zum ersten Ziel meiner Nachwanderung löse, das - wie könnte es auch anders sein - Ihre Geburtsstadt Neuruppin ist. Und so besteige ich nun den schon bereitstehenden Regionalzug - mit Notizblock und Digitalkamera im Rucksack, die meine gewonnenen Eindrücke möglichst eindrucksvoll festhalten sollen. Ja, anders als Sie werde ich die Zwischenstrecken meiner Wanderungen durch unser schönes märkisches Land nicht mit einer Pferdekutsche sondern zu großen Teilen mit der Deutschen Bahn zurücklegen. Und auch, was sich mir an den einzelnen Orten an Sehenswürdigkeiten erschließt, wird sicher zum Teil stark von dem abweichen, was Sie einst auf Ihrer Wanderschaft vorfanden. Schließlich hat der Lauf der Zeit vieles verändert. Neues wurde geschaffen, Altes wurde ersetzt oder aber auch durch Kriege und natürlichen Zerfall unwiderbringlich zerstört. Auch die Menschen, auf die ich treffen werde, werden andere sein, als die, denen Sie begegnet sind. Und dennoch wird es Einiges geben, das unverändert geblieben ist: die atemberaubende Schönheit der Natur oder auch die tief in jedem Menschen verwurzelte Sehnsucht nach Frieden, Geborgenheit und Liebe. All dies gilt es nun, Ihren Spuren folgend, zu entdecken. Und wissen Sie was: Ich freue mich unheimlich darauf!
Inzwischen macht sich mein schienengebundenes Reisegefährt unter dem von mir gewählten Sitzplatz zügig auf den Weg. Draußen vor dem Zugfenster beginnen Felder, Wiesen und Wälder und Ortschaften an mir vorbeizuhuschen. Im Geiste aber fühle ich mich unweigerlich in meine Kindheit zurückversetzt, in der ich an der Seite meiner Eltern und Großeltern dieselbe Strecke im deutlich geringerem Tempo einer dunkelroten Bimmelbahn - von den Einheimischen liebevoll als Ferkeltaxe tituliert - zurücklegte. Noch recht genau erinnere ich mich an die Bahnhöfe, die wir auf unserer Fahrt passierten. An vielen von ihnen macht die Bahn auch heute noch Halt, die anderen - deren Bahnsteige oft schon ein wenig mit Gras und Sträuchern zugewachsen sind - läßt sie einfach links liegen.
Da ist zunächst Velten, das auch schon zu DDR-Zeiten den Beinamen "Mark" tragen durfte, als es die Mark und das Land Brandenburg sonst schon gar nicht mehr gab. Schließlich war die DDR verwaltungstechnisch damals statt in Länder in Bezirke und Kreise eingeteilt,wobei der Großteil der Mark zu den Bezirken Potsdam, Frankfurt(Oder) und Cottbus gehörte. Erst seit der Wiedervereinigung am 3.Oktober 1990 gibt es wieder ein einheitliches Bundesland Brandenburg. In Velten (Mark) war ich als Kind oft zu Besuch, denn hier lebten und arbeiteten eine Tante und eine Onkel von mir. Wobei mein Onkel in der Ofenfabrik arbeitete, die heute als Ofenmuseum ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen darstellt. Zudem lebt dort noch eine Tante väterlicherseits von mir, und auch meine Großmutter väterlicherseits - die ich leider nie kennengelernt habe - war bis zu ihrem Tod dort zuhause. Heute wohnt im idyllisch gelegenen Teil Parkstadt eine sehr gute Freundin von mir, was Velten zusätzlich zu einem interessanten Tagesreiseziel für mich werden läßt.
Die darauffolgenden Stationen rauschen haltlos am Zugfenster vorbei ... Bärenklau, dessen Namensgebung mir schon früher immer ein Rätsel war, und wo die Mutter meiner Tochter als Spätaussiedlerin aus Rußland von behördlicher Seite eine Weile zwischengelagert worden war ... Vehlefanz, das von uns Kindern auch gern als Firlefanz betitelt wurde ... Und Schwante, in dessen Obstanbaubetrieben ich während meiner Abiturzeit einmal einen Ferieneinsatz absolvierte.
Erst in Kremmen - einem kleinen Städtchen, dessen Kulisse auch Film und Fernsehen der DDR hin und wieder gern einmal für ihr Schaffen nutzten - hält mein Regionalzug wieder und läßt mich schräg aus dem Fenster heraus über den kleinen Bahnhofsvorplatz hinweg einen kurzen Blick auf meine erste Arbeitsstelle erhaschen, das vereinsgeführte Alten- und Pflegeheim. Ach wie oft bin ich seinerzeit auf meinem Drahtesel aus dem etwa zehn Kilometer entfernten Beetz durch die engen Gassen, über die zuckersandigen Wege und holprigen Pflastersteinstraßen vor Dienstbeginn dorhin geradelt und nach Dienstende den gleichen - witterungsbedingt mal mehr mal weniger beschwerlichen - Weg wieder zurück. Dabei kreuzte mein Weg stets mindestens einmal jene Bahnschienen, auf denen mich nun der Zug zum nächsten Zwischenstop befördert.
Dieser Halt mit dem Doppelnamen "Beetz-Sommerfeld" bringt mein Herz sogleich zum Hüpfen. Hier bin ich zusammen mit meinem jüngeren Bruder bei meinen Eltern und Großeltern aufgewachsen. Hier war mein Kindergarten, wo ich mich auf dem Klettergerüst zum ersten Mal in ein Mädchen verguckte. Hier ging ich zur Schule, im den Räumlichkeiten des ehemaligen Gutshauses derer von Quast. Im Beetzer See badeten wir im Sommer, bauten Kleckerburgen oder fingen Kaulquappen. Wie oft habe ich das schilfreiche Ufer jenes Sees umwandert, um auf seiner Sommerfelder Seite im Wald spazieren zu gehen oder meine Mutter von der Arbeit im "Waldhaus", einem Wohnheim für Behinderte innerhalb der Mauern der weit über die Grenzen des kleinen Ortes hinaus bekannten Sommerfelder "Hellmuth-Ulrici-Kliniken", abzuholen. Jenes Wohnheim für Behinderte ist inzwischen übrigens unter neuer Trägerschaft nach einem umfangreichen Um- und Anbau in die Räumlichkeiten meines ehemaligen Kindergartens umgezogen. Auch die erste Hälfte meines Grundwehrdienstes habe ich in Beetz ableisten dürfen, zur Zeit der Wiedervereinigung in einem Objekt der Nationalen Volksarmee. Erst die erste Liebe ließ mich im Dezember 1999 im Alter von 27 Jahren mein Elternhaus und damit auch mein liebgewonnenes Dörfchen Beetz verlassen und mich zurück ziehen in die Stadt meiner Geburt im Jahre 1972, nach Hennigsdorf.
Eben jenes Hennigsdorf, wo meine Reise startete, die nun wieder eine frühere Bahnstation überspringt ... Wall, ein kleines Dorf, durch das mich als Kind mein Weg oft auf dem Fahrradkindersitz meines Großvaters führte, wenn er mir auf einer unserer unzähligen langen Überlandfahrten jedes Mal aus Neue die Schönheit der heimatlichen Landschaft näherbrachte. Ihm - FRITZ SALOMON - sollte ich an dieser Stelle wohl auch diesen etwas anderen Reiseführer widmen, denn wer weiß, ob ich ohne unsere ausgedehnten Touren jemals auch nur auf die Idee gekommen wäre, solch ein Unterfangen wie dieses hier zu starten. In Wall hatte ich übrigens während meiner Haupt-Schulzeit auch einen Arbeitsunterrichtseinsatz auf dem dortigen Landmaschinen-Stützpunkt. Heutezutage gibt es dort, wie ich auch aus dem Zugfenster unschwer erkennen kann, einen ausgedehten Golfplatz, auf dessen akribisch gehegten und gepflegten Grünflächen schlagfertige, wohlbetuchte Golfer kleine weiße Kunststoffbälle nacheinander in 18 künstlich angelegte Erdlöcher zu versenken suchen.
Mich verschlägt es derweil samt meinem Regionalexpreß weiter nach Radensleben, welches inzwischen durch den Vorsatz des Namens der nahegelegenen Ortschaft Wustrau ebenfalls einen Doppelnamen inne hat. Beide Orte kenne ich bislang nur von den Zugdurchfahrten in Richtung Neuruppin, doch das dürfte sich schon in Kürze ändern, ist doch gerade Wustrau in Ihren "Wanderungen durch die Mark Brandenburg", an denen ich mich ja orientiere, das allererste Kapitel gewidmet. Ich freue mich also schon jetzt auf ein baldiges Erkunden jenes mir noch unbekannten Landstrichs, während mein Zug seine kurzzeitig unterbrochene Fahrt wieder aufnimmt.
Ein letztes Mal wird eine kleine Ortschaft von meinem flinken Schienengefährt achtlos links liegengelassen. Karwe. Bislang für mich ebenfalls nur ein Ortsname, zu dem ich - im Gegensatz zu Ihnen, verehrter Theodor Fontane - noch nicht viel zu erzählen weiß, und dessen Durchwanderung ich fürs Erste ebenfalls auf einen späteren Zeitpunkt verschiebe.
Erneut setzt sich der Zug unter mir in Bewegung, noch einmal rauschen ein paar goldgelbe Rapsfelder und kleinere Abschnitte hauptsächlich aus Birken, Eichen und Kiefern bestehender Mischwälder am Fenster vorbei. Dann rückt zur Rechten in Form des Ruppiner Sees eine recht ausgedehnte Wasserfläche ins Blickfeld, woraufhin die Bahn sogleich ihr nächstes und damit nun auch mein erstes Ausflugsziel erreicht ... NEURUPPIN, Rheinsberger Tor ...