Nachdem ich jetzt eine lange Zeit weg war, geht es natürlich auch hier weiter. Ich bedanke mich bei meiner treuen Leserin Angel, die nach wie vor aktiv ist und deshalb folgt das nächste Update nach so vielen Jahren auch pünktlich zum Jahresbeginn (hab ein paar Neujahrsvorsätze, die ich gerne umsetzen würde).
Super, es geht los mit dem Gegrusel.
Jetzt geht es weiter mit dem Gruselthema.
Na das hat ja schon gut angefangen. Roughlin wäre fast schon erwischt worden. Aber er hatte ja nochmal Glück.
Diesmal hatte er noch Glück. Fragt sich nur wie lange das noch gut geht.
Der gute Roughlin ist vielleicht nicht so gut, wie du denkst. Die beiden Hauptcharaktere sind natürlich in diesem Kapitel schon eingeführt worden. Jetzt erfährst du etwas mehr über Matthew Roughlin, jedoch bleibt auch einiges unklar.
Und dann der Rückblick. Der endet ja wohl nicht so toll. Bin mal gespannt was da passiert. Fieser Cliffhanger wieder mal.
Ich habe mich natürlich gespoilert und das hört sich ja nun auch nicht gerade gut an.
Au ja ein ganz fieser Cliffhanger, dieses Mal bin ich natürlich etwas freundlicher und lasse es mal, naja weniger offen, was passiert.
Episode 2: #93103/213
04. Oktober 2013, Deep Ground
„Dieser Roughlin geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“, sagte Owens an seine Partnerin gewandt.
Rebecca Luger arbeitete seit knapp einem Jahr hier in Deep Ground. Davor hatte sie genau wie er in Chicago gearbeitet, ehe sie hier in diese Kleinstadt in Illinois versetzt wurde. Nur war sie freiwillig hierhergekommen, er war strafversetzt worden.
Seine Partnerin warf ihm einen Blick zu, den er nur zu gut kannte. Er verschwendete seine Energie an einen Fall der sich letzten Endes wieder als harmlos herausstellen würde. So war es die letzten drei Male auch gewesen. Vielleicht hatte sie Recht, vielleicht war er einfach schon zu lange Polizist um wirklich noch berechtigte Zweifel zu hegen. Vielleicht war aber auch genau an diesem einen Fall was dran, was ihn wieder zurück nach Chicago brachte. Er hasste dieses Nest. Viel zu verschlafen. Es stand selten was an und wenn, dann höchstens kleinere Diebstähle. Nichts was nicht auch ein kleiner Streifenbeamter schaffen würde. Er hatte die Akte von Roughlin vor sich liegen und war erstaunt, was er darin alles über den Kanadier fand. Roughlin war früher bei den kanadischen Special Forces gewesen. Er hatte ein angefangenes Studium in der Fachrichtung Strafrecht, hatte jedoch im Jänner 1994 das Handtuch geworfen und war stattdessen zum Militär gegangen. Ein Großteil seiner Militärzeit war immer noch als geheim eingestuft, also nicht ersichtlich in dieser Akte. Dafür war seine Zeit beim Vancouver Police Department umso genauer dokumentiert worden. 2 Jahre lang Streifendienst, dann 7 Jahre lang Ermittler beim Morddezernat. Owens war beeindruckt von den vielen Belobigungen, aber auch von den vielen Verwarnungen die Roughlin über die Jahre angehäuft hatte. Er hatte noch nie so viele Beschwerden von Angehörigen gesehen. Mehrere Disziplinarstrafen fanden sich in dieser Akte wieder. Kein Musterknabe, wie es den Anschein erweckte. Roughlin war zwar durchaus ein guter Ermittler. Er hatte Owens binnen Sekunden durchschaut, das war ihm nicht entgangen. Während des Verhörs war er selbst nur schwer zu durchschauen. Vermutlich ein ziemlich guter Lügner, dachte Owens. Sein Blick glitt weiter nach unten und er entdeckte eine Anmerkung die ihn neugierig werden ließ. Dort stand, dass Roughlin besonders an einem Fall mit der Aktennummer #93103/213 interessiert war. Das Datum machte ihn stutzig, da Roughlin zu dieser Zeit noch Student war. Zu dumm das er die Akte nicht da hatte. Es würde ihn interessieren was vor beinahe zwanzig Jahren geschehen war, damit Roughlin so ein Interesse an diesem Fall hatte.
Rebecca riss ihn aus seinen Gedanken, als sie sagte: „Und wieder ist ein Arbeiter verunglückt.“
Owens blickte auf. „Schon wieder während der Bauarbeiten im Deep Circle Theater?“
Rebecca nickte. „Hier auf Seite drei steht’s.“
Sie legte ihm die aktuelle Ausgabe der ortsansässigen Nachrichtenredaktion Deep Paper News hin und er überflog die Schlagzeilen zu der Meldung.
In wenigen Tagen stand die Wiedereröffnung des 1995 geschlossenen Deep Circle Theaters bevor und schon im Vorfeld gab es so viele Unglücke. Das war bereits der dritte Arbeiter der tot aufgefunden wurde. Vielleicht war dieses Ding doch eine einstürzende Ruine und es war besser, wenn das alte Gemäuer geschlossen blieb.
02. Oktober 1993
Matt wachte auf. Es war Samstag, endlich. Die Woche war anstrengend gewesen. Jetzt konnte er zum ersten Mal seit einer ganzen Weile entspannen. Er griff rüber auf die andere Bettseite, doch Grace war nicht da. Verwundert drehte er sich zur Seite und sah, dass ihre Seite des Bettes leer war. Matt stand auf und blickte in Richtung Badezimmer. Die Tür stand offen, kein Dampf hing in der Luft. Sie war noch nicht duschen gewesen. Normalerweise machte sie das als erstes, wenn sie aufstand. Er gähnte und ging nun seinerseits seinem morgendlichen Ritual nach. Zähneputzen, duschen und rasieren. Dann verschwand er nach nebenan und erwartete Grace im Wohnzimmer zu finden. Doch es war genauso wie er es in der Nacht zuvor vorgefunden hatte. Bücher über Strafrecht lagen auf dem Beistelltisch vor der Couch und es roch nach kaltem abgestandenen Rauch. Grace hätte auf alle Fälle gelüftet, wenn sie gestern nach Hause gekommen wäre. Vielleicht schlief sie ja bei Doris drüben. Das kam zwar selten aber doch von Zeit zu Zeit mal vor. Er dachte sich nichts weiter dabei und ging in die angrenzende Küche um sich eine Tasse Kaffee zu machen. Er schaltete das Radio ein und ging hinüber zur Wohnungstür, wo schon die morgendliche Zeitung auf dem Fußabtretter lag. Mit der Zeitung unterm Arm schloss er die Wohnungstür und setzte sich auf die grüne abgesessene Couch. Er nahm die Tasse mit dem brühend heißen Kaffee und nippte vorsichtig daran. Dann zündete er sich eine Zigarette an und genoss die Mischung aus Kaffeegeschmack und Zigarettenqualm. Er griff nach dem Telefonhörer und suchte auf dem Zettel neben dem Apparat nach der Telefonnummer von Doris. Er wählte die Nummer und horchte entspannt wie es klingelte.
Schließlich meldete sich Doris und klang ziemlich verschlafen. „Ja?“
„Doris?“, fragte Roughlin. „Hier ist Matt.“
„Ja was gibt’s denn?“
„Hat Grace bei dir und Macy übernachtet?“, fragte Matt und rechnete fest mit einer Zusage.
„Das weiß ich nicht. Wäre aber möglich.“, sagte sie und er hörte wie sie versuchte sich aufzusetzen.
„Oh mein Kopf.“, stöhnte sie.
„Wieder zu viel getrunken?“, fragte Roughlin und konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken.
„Ha ha.“, war die Antwort von Doris.
„Könntest du nachsehen ob Grace da ist?“, fragte Roughlin schließlich.
Er hörte wie sie nach Grace rief. Er wartete hoffnungsvoll auf eine gute Nachricht. Doch die kam nicht. „Also hier ist sie nicht. Vielleicht ist sie aber auch gerade auf dem Nachhauseweg.“
„Vielleicht.“, erwiderte Roughlin und legte den Hörer wieder auf die Gabel.
Kein Grund zur Beunruhigung. Vielleicht war sie wirklich gerade auf dem Rückweg. Vielleicht war sie einfach eingeschlafen und erst vor kurzem aufgewacht. Auf Grace war Verlass. Sie war nie betrunken und kam immer rechtzeitig nach Hause. Es fiel ihm auf, dass er mittlerweile ziemlich oft das Wort ‚Vielleicht’ vor seine Vermutungen stellte. Ziemlich schlecht für einen angehenden Juristen, dachte er.
Er nahm einen weiteren Zug von seiner Zigarette und las in der Zeitung. Die Obdachlosenheime verlieren immer mehr Besucher. In den letzten zwei Jahren verschwanden immer mehr Obdachlose einer bestimmten Gegend. Zumindest tauchten sie abends in dem Obdachlosenheim in der Nähe von Vancouver nicht mehr auf. Waren vermutlich weitergezogen, hieß es in der Zeitung.
Einfamilienhaus brannte in der Nähe von Quebec bis auf die Grundmauern nieder. Die Feuerwehr bekämpfte bis in die frühen Morgenstunden die immer wieder auflodernden Flammen. Verletzt wurde niemand. Es wird nicht von einer Straftat ausgegangen, stand in der Zeitung.
Dann klopfte es an der Tür. Sie hat vermutlich ihre Schlüssel vergessen, dachte Matt. Er legte die Zeitung zur Seite, stand auf und ging zur Tür hinüber. Doch es war nicht Grace, die auf der anderen Seite wartete. Es war nur der Nachbar von der Nebenwohnung. „Verzeihung Nachbar, aber wir, meine Frau und ich, machen gerade eine Umfrage was in den Wohnungen noch alles an Reparaturen ansteht.“
Er drückte Roughlin einen Zettel in die Hand und fügte noch rasch hinzu: „Schreiben Sie einfach auf was noch zu tun ist und werfen Sie den Zettel dann in meinen Briefkasten.“
„Das mach ich.“, sagte Roughlin und nickte. „Danke.“
„Keine Ursache.“, erwiderte der Nachbar.
Roughlin war enttäuscht. Seine Frau war noch immer nicht da. Langsam aber sicher fing er doch an sich Sorgen zu machen. Unbegründet, dachte er. Matt kannte Grace. Er kannte sie seit fünf Jahren. Seit einem waren sie verheiratet und er wusste, dass sie vorsichtig war.
Der Abend brach heran und noch immer war Grace nicht zu Hause. Roughlin war mittlerweile mehr als nur besorgt. Er war aufgeregt und unsicher. Die Angst um Grace war einfach zu groß. Langsam glaubte er, den Verstand zu verlieren. Er musste hier raus. Sofort!
Er schlüpfte in seinen Mantel und nahm seinen Hausschlüssel und eine Taschenlampe mit. Er würde sie suchen gehen. Doch wo sollte er anfangen? Er wusste nicht, wann Grace von Doris weggegangen war und wo sie sich befinden konnte. Am einfachsten war es wohl, die Strecke zu Doris und Macys Wohnung abzufahren. Genau, er würde einfach zu Doris fahren. Vielleicht traf er sie irgendwo an. Vielleicht hatte sie Bekannte getroffen und war mit ihnen mitgegangen. Da war schon wieder dieses Wort Vielleicht. Verdammt. Roughlin verließ die gemeinsame Wohnung und sperrte ab. Er hatte den Zettel für den Nachbarn vergessen, fiel ihm ein, doch er verließ das Gebäude. Dafür war später noch Zeit. Er brauchte genau zwanzig Minuten zu Doris und Macy. Zehn Minuten Bahnfahrt und jeweils fünf Minuten um von seiner Wohnung zur U-Bahnstation und von der U-Bahnstation zu der Wohnung von Doris und Macy zu gelangen.
Dort stieß er jedoch auf eine verlassene Wohnung. Zumindest reagierte niemand auf sein Läuten. Doris war verdammt hart im Nehmen. Der eine Rausch war gerade zum Kater geworden und schon folgte das nächste Besäufnis. Das war doch kein Leben. Es war nun Viertel nach Neun. Keine Spur von Doris, Macy oder Grace. Er stieß einen lauten Fluch aus und seufzte. Dann setzte er sich auf die Stufen vor dem Wohngebäude und ließ den Kopf hängen. In einem kurzen Anflug von Hoffnung hörte er jemanden seinen Namen rufen. Er blickte auf und sah Doris, die gerade um die Ecke gebogen war vor sich stehen.
„Was verschlägt dich in diese Gegend?“, fragte sie lächelnd.
Roughlins Blick blieb ernst. „Grace ist verschwunden.“
„Was?“, fragte Doris und ihr Lächeln verschwand.
Roughlin nickte. „Sie ist den ganzen Tag nicht nach Hause gekommen.“
„Hast du schon die Polizei informiert?“
Roughlin schüttelte den Kopf. „Das hat keinen Sinn. Die nehmen erst dann eine Vermisstenmeldung auf, wenn sie mehr als 24 Stunden vermisst wird.“
Doris drängte sich an ihm vorbei und schloss die Tür auf. „Komm rein, wir finden sie.“
„Ich mach mir große Sorgen um sie.“, sagte Roughlin und stieß einen Seufzer aus.
Doris streichelte ihn am Arm. „Kann ich mir denken du Armer. Aber ihr ist bestimmt nichts passiert, vertrau mir. Sie kann gut auf sich aufpassen.“
„Doris ich weiß, dass sie auf sich aufpassen kann, aber mir gehen langsam die plausiblen Erklärungen für ihr Verschwinden aus.“, erwiderte Roughlin und schloss die Tür hinter sich.
„Hat sie vielleicht bei wem anderen übernachtet?“, fragte Doris.
Roughlin schüttelte den Kopf. „Mir fällt niemand ein.“, sagte er und dachte nochmals angestrengt darüber nach. Doch ihm fiel wirklich niemand ein. „Nein, ganz bestimmt nicht. Sie kennt hier ja nur euch und ich denke nicht, dass sie den weiten Weg nach Quebec auf sich nimmt, um ihre Eltern zu besuchen, ohne mir Bescheid zu geben.“
„Okay, wir fahren jetzt zu euch nach Hause, dann greifen wir uns das Telefonbuch und rufen alle eure Bekannten an, vielleicht ist sie ja woanders untergekommen.“
Roughlin fuhr sich mit der Hand durch sein dichtes Haar und atmete schwer aus. Seine Augen glitten von links nach rechts und ein mieser Gedanke machte sich in seinem Kopf breit.
„Was ist?“, fragte Doris.
Roughlin schüttelte nur den Kopf und kämpfte bei diesem Gedanken gegen die Tränen.
„Matthew, was ist los?“, fragte Doris und klang besorgt.
„Wir sollten auch alle Krankenhäuser überprüfen.“, sagte er mit schwacher Stimme und schluckte die aufkeimenden Tränen hinunter. Er blinzelte ein paar Mal und hoffte, dass Doris nicht auffiel, wie sehr ihm das zu schaffen machte.
„Oh, Schätzchen komm her.“, sagte Doris und umarmte ihn fest. „Es wird alles gut, du wirst sehen, wir finden Grace und sie ist bestimmt wohlauf.“
Er ließ die Umarmung zu und sagte schließlich: „Na schön, fahren wir.“
04. Oktober 2013
Die Polizeiakte von Matthew Roughlin war beeindruckend gewesen. Besonders interessant fand Owens jedoch den einen Fall von dem Roughlin offenbar besessen war. Er dachte darüber nach die Kollegen in Vancouver anzurufen und sie zu bitten, ihm doch die Akte dieses Falls zu schicken. Es interessierte ihn brennend zu erfahren, was wohl vorgefallen war, dass Roughlin fast 5 Jahre lang ein und denselben Fall untersucht hatte. Dieser Roughlin war kein Musterknabe. Beim Vancouver Police Department hatte man ihn rausgeworfen, nachdem er einen Vorgesetzten übel zugerichtet hatte. Eine psychologische Untersuchung hatte ergeben, dass er Schwierigkeiten hatte sein Temperament im Zaum zu halten und er hatte Schwierigkeiten mit Autoritäten, was seine ganzen Verwarnungen erklärte. Doch was war der Auslöser gewesen? Was war 1993 so schlimmes vorgefallen, dass es ihn dazu bewegt hatte, zur kanadischen Armee zu gehen und sich zu einem Elitesoldaten ausbilden zu lassen, anstatt sein Studium zu vollenden?
Er griff zum Hörer und wählte die Nummer des Vancouver Police Departments, die er sich schon im Vorfeld im Internet rausgesucht hatte. Owens ließ sich mit dem ehemaligen Vorgesetzten von Roughlin verbinden und erzählte ihm in Kurzform was sich gestern ereignet hatte.
„Ich benötige eine Akte, vielleicht werde ich ja dann aus ihm schlau.“, sagte Owens und gab dem Deputy Chief Constable Roland Rail die Aktennummer durch.
„Sehen Sie Detective, diese Akte betrifft einen offenen Fall, von daher dürfte ich sie Ihnen nicht übermitteln, aber da ich kein großer Fan von Freak Cop Roughlin bin, gebe ich Ihnen die Informationen die Sie benötigen sehr gerne.“
„Wie war er als Detective?“, fragte Owens.
„Leider sehr brillant.“, gab Rail zu. „Bevor er Detective wurde, hat er einen Doktorabschluss in Kriminologie erworben. Er ist ein Verhörspezialist und Profiler der seinesgleichen sucht, dazu ist er ein verdammter Einstein was das Erkennen von Zusammenhängen betrifft.“
„Ein Verhörspezialist?“, fragte Owens skeptisch. „So kam er mir gestern nicht vor.“
„Unterschätzen Sie Roughlin nicht. Er weiß nach ihrem Gespräch vermutlich mehr über Sie, als Sie über ihn. Er stellt sich sehr oft dumm, was er aber mit Sicherheit nicht ist. Wenn Sie aus diesem Verhör Informationen gewonnen haben, dann wollte er, dass Sie sie haben.“
„Er wollte, dass ich Sie habe?“, fragte Owens verwirrt. „Warum würde er wollen, dass ich weiß, dass er nach einer Frau sucht?“
„Keine Ahnung.“, erwiderte Rail. „Er ist verrückt, was denken Sie, warum nennen wir ihn hier alle Freak Cop?“
„Wie kam es dazu?“
„Sein Verhalten.“, sagte Rail. „Er war kein gewöhnlicher Cop, ich kann Ihnen nicht beschreiben was ich alles mit ihm mitgemacht habe, aber er ist kein Engel und er hat Dinge getan und gesehen, die ich mir nicht mal vorstellen will. Manche denken, er ist irgendein durchgeknallter Irrer, der früher oder später jemanden tötet. Könnte was dran sein, aber wenn er einer ist, dann ist er der gefährlichste Mann, dem Sie jemals begegnet sind. Ich schicke Ihnen die Akte per Mail, okay? Passen Sie auf sich auf, Detective.“
„Das mach ich, vielen Dank.“, sagte Owens und gab Rail seine E-Mail Adresse durch.
Er legte auf und lehnte sich zurück. Wieso sucht Roughlin nach einer Frau? Was will er von ihr?
03. Oktober 1993
Roughlin und Doris hatten die ganze Nacht über telefoniert. Erfolglos. Grace war wie vom Erdboden verschluckt. Sie war in kein Krankenhaus eingeliefert worden. Keiner von ihren Freunden hatte etwas von ihr gehört oder gesehen. Doris schlief mittlerweile auf der alten Ledercouch in Roughlins Wohnung und er saß daneben und drückte einen weiteren Zigarettenstummel im Aschenbecher aus, der mittlerweile überfüllt war. Kalte Asche und ein paar Stummel lagen daneben auf dem Tisch und in der Wohnung qualmte es ordentlich. Die ersten Strahlen der Herbstsonne fielen durch die Fenster der Wohnung. Roughlin stand auf und schlüpfte wieder in seinen Mantel. Er würde die Polizei verständigen und eine Vermisstenmeldung aufgeben. Er suchte ein Foto von Grace heraus und steckte es in seine braune Umhängetasche, die er über die Schulter warf. Er verließ die Wohnung und ging ein Stück zu Fuß, bis er seinen alten Ford Escort, Baujahr 1985 erreicht hatte. Er sprang hinein, startete den Motor und fuhr zur nächsten Polizeistelle.
Die Polizeistelle lag zehn Minuten vom Campus entfernt. Roughlin trat ein und wandte sich an den Polizeibeamten, der hinter dem Informationsschalter saß. Er schenkte Roughlin einen mürrischen Blick und nahm einen langen Schluck von seiner Kaffeetasse. Der Officer war übergewichtig und trug einen ungepflegten Schnauzer, der struppig wirkte. Die verbliebenen dünnen Haare, die er noch hatte, hatte er nach hinten gekämmt und seine Uniform saß gerade so. Die Knöpfe würden wohl demnächst nachgeben, denn sein weißes Unterhemd war bereits unter der Knopfreihe sichtbar, die ziemlich aufgebläht war.
„Wie kann ich Ihnen helfen, junger Mann.“, sagte der Officer gelangweilt und stellte die Tasse zur Seite. Offensichtlich hatte Roughlin ihm den Morgen vermiest.
„Guten Morgen Officer, ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.“
Der Officer stieß einen entnervten Seufzer aus.
„Wer wird vermisst?“, fragte er nach wie vor genervt.
„Meine Ehefrau.“
„Hat Ihre Ehefrau auch einen Namen?“, unterbrach der Officer.
„Grace Roughlin.“, sagte Roughlin und holte ein Foto aus seiner Umhängetasche. „Hier haben Sie ein Foto.“
Der Officer nahm es entgegen und warf einen Blick darauf. Die Frau darauf hatte rotes Haar, grüne Augen und ein wohlgeformtes Gesicht. Der Officer empfand sie als attraktiv.
„Können Sie weitere Angaben zu ihr machen?“
„Sie ist 1’73 Meter groß, trägt einen beigen Regenmantel und sie hat eine braune Handtasche.“
„Okay, wir kümmern uns darum, füllen Sie dieses Kontaktformular aus.“, sagte der Officer und legte ein DIN A4 Blatt auf den Tisch, auf dem Roughlin verschiedene Angaben zu seiner Person machen musste. Er füllte es ordnungsgemäß aus und gab es dem Officer zurück.
„Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir irgendwelche Informationen haben.“
„Das wars?“, fragte Roughlin. „Mehr tun Sie nicht? Nur beschissene Formulare ausfüllen und dann war’s das?“
„Was soll ich sonst tun?“, fragte der Officer genervt. „Sie herzaubern?“
Roughlin wurde rot vor Wut und wollte sich bereits auf den Officer stürzen, besann sich dann aber eines Besseren und antwortete stattdessen: „Vielleicht heben Sie Ihren fetten Arsch aus dem Stuhl und geben die Information an einen Vorgesetzten weiter, oder reicht dafür Ihr Erbsenhirn nicht aus?“
Der Officer stand auf und packte Roughlin an seinem Mantel. „Was war das du Schisser?“
„Everhart!“, drang eine wütende Stimme durch das Büro. Ein weiter uniformierter Officer, dem Rang nach ein Sergeant.
„Lassen Sie den Mann los, oder Sie kassieren eine weitere Verwarnung!“, sagte der Sergeant drohend.
Der Officer nahm seine Hände weg und nahm wieder Platz.
„Ich entschuldige mich für Constable Everhart.“, sagte der Sergeant und warf Everhart einen drohenden Blick zu. „Ich bin Sergeant Jones.“
„Matthew Roughlin.“
„Was haben Sie für ein Anliegen?“, fragte der Sergeant.
„Meine Frau Grace ist seit mehr als 24 Stunden verschwunden.“, erklärte Roughlin erneut.
Der Sergeant griff hinter den Schreibtisch und nahm das ausgefüllte Kontaktformular, sowie das Foto von Grace. „Eine hübsche Frau.“, sagte der Sergeant.
„Das ist sie.“, erwiderte Roughlin.
„Ich leite den Fall sofort an die Missing Person Unit weiter. Unsere Detectives sind sehr gut.“
„Vielen Dank.“, sagte Roughlin erleichtert.
„Die Chancen stehen gut, dass wir sie finden, vertrauen Sie uns und entschuldigen Sie nochmals den Vorfall mit Constable Everhart.“
„Wir haben beide überreagiert.“
„Das sollte ein Police Constable nicht.“, sagte Sergeant Jones. „Alles Gute Mr. Roughlin und keine Sorge, bei uns ist der Fall in guten Händen.“
„Danke.“, sagte Roughlin und ging mit gesenktem Haupt aus dem Polizeirevier.
25. Oktober 1993
Roughlin sah schlecht aus. Er hatte seit Wochen nicht mehr regelmäßig geschlafen und seine Augen waren blutunterlaufen und er hatte schwarze Ringe unter den Augen. Er war blass und hatte auch abgenommen. Seine Hände zitterten, als er das dritte Zigarettenpäckchen an diesem Tag anfing und sich eine Zigarette ansteckte. Er nahm ein paar tiefe Züge und starrte erneut auf das Telefon, in der Hoffnung, dass das verdammte Ding endlich läutete und es hieß, sie hätten Informationen über Grace. Es klopfte an der Tür. Roughlin stand auf und ging schwerfällig hinüber zur Tür. „Wer ist da?“, fragte er erschöpft.
„Ich bin’s Doris.“, ertönte es von der anderen Seite.
Er schob die Türkette zurück und drehte den Knauf herum, ehe er sich wieder auf die Couch setzte und die Asche in den Aschenbecher fallen ließ. Doris hatte eine Tüte dabei. „Ich hab was vom Chinesen geholt.“, sagte sie.
Roughlin zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch aus. Plötzlich hatte er einen Hustenreiz und spuckte in eine Schale, die er neben dem Aschenbecher stehen hatte und in der früher Erdnüsse waren.
„Das Zeug bringt dich noch um.“, sagte sie.
„Wenn’s nur so wäre.“, sagte Roughlin. „Es ist nämlich die verdammte Warterei auf einen Anruf, die mich umbringt.“
„Noch immer nichts Neues?“
Roughlin schüttelte den Kopf, drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich gleich die nächste an. Doris deckte den Tisch, ging hinüber und riss die Balkontüre auf. „So, jetzt bekommst du frische Abendluft.“, sagte sie, ging zu ihm und nahm ihm die Zigarette weg, die sie sofort im Aschenbecher ausmachte.
„Geh was essen.“
„Ich würde dich jetzt rauswerfen, aber ich bin zu erschöpft.“, erwiderte er und atmete ein paar Mal tief durch.
Er stand auf, als plötzlich das Telefon läutete.
Roughlin war wie erstarrt. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, die er das Telefon anstarrte und nichts unternahm. Irgendwann sendete sein Gehirn ein Signal an seine Hände, die zitternd nach dem Hörer griffen. Er hob ab und zögerte einen kleinen Augenblick, ehe er ihn an sein Ohr hielt.
Er schluckte schwer, bevor er sich meldete: „Roughlin?“
Die Art wie er seinen Namen sagte, war sehr erstickt.
„Mr. Roughlin, hier spricht Sergeant Jones.“
Er erkannte ihn an der Stimme, die allerdings sehr zurückhaltend klang.
„Haben Sie meine Frau gefunden?“
Am anderen Ende herrschte Stille.
Schließlich bekam er ein knappes Ja zu hören.
Roughlin wusste nicht was er sagen sollte und er hatte Angst etwas zu fragen.
„Mr. Roughlin?“, fragte der Sergeant. „Sind Sie noch dran?“
„Geht ... Geht es ihr gut?“
Doris stand daneben und hatte unbewusst die Hände gefaltet, so als ob sie beten würde. Sie verfolgte die Reaktion von Matthew, als er das Telefonat weiterführte.
Seine Miene verzog sich. Seine Mundwinkel zogen nach unten, sein Blick nahm eine Leere an und die Spitzen seiner Innenaugenbrauen zogen nach oben. Sein Kinn fing an zu beben und er sank mit einem dumpfen Laut auf die Knie. Der Hörer glitt ihm aus der Hand und knallte auf den Boden. Tränen rannen über sein Gesicht und er schüttelte verbittert den Kopf.
Doris kniete sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Schultern. Sie fing ebenfalls an zu weinen.
„Sie haben sie gefunden.“, sagte er. „Sie haben Grace gefunden.“
Er ließ den Kopf hängen und Tränen tropften an seiner Nasenspitze hinunter, wo sie auf dem Teppichboden als kreisrunde Flecken aufklatschten.
„Was ist passiert?“, fragte Doris mit schwacher Stimme.
Er schüttelte nach wie vor ungläubig den Kopf. „Sie ist tot.“
Fortsetzung folgt ...
Vorschau auf die nächste Episode
Roughlin wird verhaftet
Owens bekommt einen Mordfall auf den Tisch
Der Killer tritt in der Gegenwart in Erscheinung
Mit freundlichen Grüßen
M.V.V.M.