TAG 4: 13.10.2011
Ich erwache um Punkt 5 Uhr beim ersten Klang der Klosterglocke, bleibe aber - auch aufgrund meines leicht angeschlagenen körperlichen Zustands - nach einem weiteren Täschen Kamillentee noch bis gegen 7.30 Uhr im Bett. Dabei wird mir schlagartig auch bewußt, daß meine Tochter Laura an diesem Tag ihren zehnten Geburtstag feiert. Kein Wunder also, daß sie zuvor ein Teil meiner nächtlichen Traumwelt war, an deren Ende ich mich dann im Unterbewußtsein größtenteils auf der Flucht über Hochhaustreppen und hindernisreiche Hinterhöfe befand, ohne auch nur ansatzweise zu wissen, vor wem und weshalb.
In der Realität des neu beginnenden Tages hingegen lasse ich es da schon einmal deutlich ruhiger angehen. Ganz gemächlich erhebe ich mich vom Bett und ziehe die Vorhänge vor meinem Fenster zurück, wozu ich die linke Fensterhälfte zum Lüften leicht anklappe. Ich mache mein Bett, gehe zähneputzen, duschen und mich anziehen. Anschließend trinke ich noch eine weitere schöne warme Tasse Kamillentee und nehme vorsorglich noch eine Tablette für den Magen ein. In aller Gelassenheit ziehe ich mir im Anschluß Jacke und Schuhe an und verlasse meine gute Stube und das Gästehaus St.Josef in Richtung des Haupthauses. Dort angekommen dauert es noch einen kleinen Moment, bis die Eingangstür von innen aufgesperrt wird und ich - gemeinsam mit den fast gleichzeitig von der Kirche her eintreffenden Teilnehmern der Eucharistiefeier - eintreten darf. Auch an diesem Morgen sind die Tische im Speiseraum wieder liebevoll eingedeckt, und das Bufet in gewohnter Manier äußerst reichhaltig bestückt, wobei ich mir allerdings diesmal zur Schonung meines etwas angegriffenen Magens nur eine kleine Tasse Kaffee und ein ganz dünn mit Butter und einem Hauch Marmelade bestrichenes Brötchen gönne. Ganz nebenbei bekomme ich aus den leisen Tischgesprächen auch mit, daß eine der mit uns am Tisch sitzenden Schwestern leicht erkältet ist und auf einen Hinweis der Mutter des rollstuhlbedürftigen Max vom Vortag diesem Umstand mit dem altbewährten Hausmittel Zwiebelsaft zu Leibe gerückt ist. Der Junge Max erbittet sich bei der Gelegenheit von besagter Schwester ein Buch aus der Bibliothek zum Ausleihen. Wer nun aber glaubt, es müsse sich beim gewünschtem Buch zweifellos um ein ungemein geistliches Werk handeln, der irrt! Was sich der Junge erbittet, ist vielmehr das ungeheuer weltlich erscheinende Bestseller-Rowling "Harry Potter und die Kammer des Schreckens". Auf diesen Wunsch näher eingehend, merkt die Schwester schmunzelnd an, daß gegen jenen zauberhaft abenteuerlichen Roman ein dem jungen Max von ihr zuvor ans Herz gelegtes geistliches Buch wohl kaum eine echte Chance habe. Welch realisitische, aber auch etwas betrübliche Sicht der Dinge. Dennoch: Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt! Und wenn sie es tut, dann ganz sicher nicht auf ewig. Schon gar nicht hier im Kloster! Nein, hier ersteht sie spätestens am dritten Tage wieder auf von den Toten und wird fortan jeden Morgen ganz neu geboren, beim ersten Klang der Glocke und dem damit einhergegenden Aufgang der hellerlichten Sonne.
Die scheint mir übrigens auch wieder, während ich - zurückgekehrt auf mein Zimmer - all meine innersten Gedanken und Erlebnisse zu Papier bringe und dabei ab und an zum Fenster hinausschaue, in strahlendster Verfassung zu sein. Und nun, da auch mein Magen sich wieder beruhigt hat, lockt sie mich damit unweigerlich ins Freie hinaus. So folge ich ich ihrem goldigen Lockruf nach draußen und lasse Körper und Geist von Sonnenschein und frischer Luft neu betanken.
TAG 4: 13.10.2011 [Teil 2]
Bei meinen - teilweise recht ausgedehnten - Waldspaziergängen gewinne ich, obgleich ich oftmals kreuz und quer wandere, immer wieder den Eindruck, daß hier vor Ort letztendlich alle Wege zwar nicht nach Rom, dafür aber stets zurück ins Kloster führen. Und so komme ich auch diesmal nach etwa dreiviertelstündlichem Fußmarsch am schmiedeeisernen Eingangstor der Abtei St.Gertrud an, das - durchgehend vom frühen Morgen bis zum späten Abend - allen Gästen und Besuchern weit offensteht. Den Kragen meines Poloshirts habe ich dabei unter meiner wetterfesten Jacke längst hochgeschlagen und die Hände in den Jackentaschen sorgsam verborgen. Oh ja, es läßt sich nicht bestreiten, das strahlende Lächeln der Sonne trügt ein wenig. Es ist schon ziemlich kalt an diesem Herbsttag des Jahres 2011 nach Christi Geburt. Und so drehe ich, ein wenig durchgefroren das Gästehaus betretend, in meinem Zimmer unterm Fenster auch sogleich die Heizung ordentlich weit auf, welche leise vor sich hin rauschend umgehend wohlige Wärme im ganzen Raum zu verbreiten beginnt.
Desweiteren begebe ich mich für einen Moment in die nahegelegene Teeküche, um mir dort eine Kanne schönen heißen Pfefferminztee aufzubrühen. Hierbei treffe ich unterdess auch eine der unzähligen fleißigen Helferinnen an, die für die Sauberkeit und das Aufstocken der Vorräte im Gästehaus sorgen. Wir unterhalten uns kurz, während das Leitungswasser im Wasserkocher langsam vor sich herzubrodeln beginnt, dann geht sie nebenan im Flur die Treppe zum Obergeschoß wischen und läßt mich erst einmal in aller Ruhe meine bereits bereitstehende Thermoskanne befüllen. Tja, der Gast ist halt auch hier im Kloster König, oder sagen wir mal - biblisch betrachtet - zumindest einer aus dessen unmittelbarer Gefolgschaft. Und so lasse ich mir, wieder zurück in meiner Unterkunft, den aromatisch duftenden, herrlich heißen Teebeutelaufguß - aus der Kanne zuvor in die schon in meinem Zimmer befindliche Tasse abgefüllt - zum krönenden Abschluß des bei majestätischem Sonnenschein langsam zuendegehenden Vormittags, am Schreibtisch thronend, Schluck für Schluck königlich schmecken. Dabei blättere ich beim Aus-dem-Fenster-Schauen und abwartenden Teetrinken noch ein wenig in einem Büchlein mit dem Titel "Gebete der Christenheit" von Walter Nigg, und dann ist es langsam auch schon wieder an der Zeit, sich zur Einnahme des gemeinsamen Mittagsmahls ins Haupthaus zu begeben.
TAG 4: 13.10.2011 [Teil 3]
Während des Mittagessens in trauter Runde wird mir dann einmal mehr richtig bewußt, wie sehr sich mein Leben in den letzten 4 Tagen hier doch schon verändert hat. Da steh ich nach dem Betreten des Speiseraums zunächst einmal minutenlang kerzengerade hinter meinem Stuhl, die Hände vorm Bauch zusammengefaltet, und warte darauf, daß alle anderen Anwesenden ebenfalls Aufstellung nehmen und das Tischgebet gesprochen wird. Andächtig lausche ich dem Vorbeter und bekräftige mit dem schlußendlich gemeinsam gesprochenen Amen, daß es auch mein innigstern Wunsch ist, daß Jesus Christus unser aller Gast sein und die uns von seinem göttlichen Vater her zuteilgewordenen Speisen und Getränke segnen möge. Gemeinsam nehmen wir alle daraufhin platz, reichen uns gegenseitig das Essen und das bereitstehende Mineralwasser zu und wünschen uns dabei gegenseitig von Angesicht zu Angesicht nochmals eine gesegnete Mahlzeit.
Blatt für Blatt genießen wir hierauf unseren mit Essig und Öl angerichteten Feldsalat, Bissen um Bissen im Anschluß unsere herrlich duftenden und nicht weniger herrlich schmeckenden Kohlrouladen mit dunkler Soße und Kartoffeln als Sättigungsbeilage. Und Stück für Stück lassen wir uns abschließend auch noch die aromatisch im eigenen Saft eingelegte Williams-Christ-Birne munden, welche zu Tisch den Nachtisch darstellt. Das alles einmal mehr in andächtiger Stille, ohne jegliche Hektik und mit einem glückseligen Lächeln in allen Gesichtern.
Nichts, aber auch rein gar nichts, erinnert dabei an jenes Eßverhalten, das ich sonst im arbeitsreichen Alltag an den Tag zu legen gewohnt bin: Mehr schlingend als kauend oder gar genießend in lärmender Umgebung mal hier und da rasch ein paar Happen nebenher einschieben, gestreßt und ständig unterbrochen von nervenden Bittgesuchen und Klingeltönen aller Art. Hier hingegen ist der einzige Klingelton das sanfte Läuten der Klosterglocke. Und der einzig Bittende und Suchende bin ich selbst, Ja, ich erbitte und suche nämlich immer wieder die Stille - und darf sie hier vor Ort Tag für Tag und Stunde um Stunde in jeder einzelnen Minute und Sekunde neu finden und dankbar in Empfang nehmen. Schon jetzt, knapp 24 Stunden vor ihrem vorläufigen Abschluß, erweist sich damit meine, anfangs vielleicht noch scheinbar unmögliche Mission "Stille Zeit im Kloster" als voller Erfolg - und ich darf dabei aus tiefster Seele hinzufügen: Gott sei Dank!
Und so begebe ich mich wenige Augenblicke später innerlich erfüllt von jener Dankbarkeit einerseits sowie von Speis und Trank andererseits ruhigen Schrittes in die vier Wände meiner Unterkunft zurück.
12:45 Uhr
Was ich vielleicht nicht unerwähnt lassen sollte: Mittagsruhe wird großgeschrieben - und das keineswegs nur im vielseitigen Wörterbuch eines Herrn Duden, sondern auch hier bei meinem Aufenthalt innerhalb der alexanderdörfischen Klostermauern. Und das, obwohl sie jeden Tag nur den relativ kleinen Zeitraum von etwa einer halben Stunde umfaßt. Sie gehört nunmal einfach mit dazu, jene kurze Ruhephase, in der ich - alle Viere von mir streckend auf dem Bett liegend mit starrem, nach oben zu Decke gerichtetem Blick - für einen Moment lang alles um mich herum vergesse, die Augen schließe und vor mich hin döse, um dann wieder frisch und munter in den Rest des Nachmittags zu starten, dessen sonnige Stunden auch diesmal vor allem wieder geistiger Lektüre vorbehalten sein werden.
TAG 4: 13.10.2011 [Teil 4]
Auf der Suche nach einem geeigneten Lesestoff werde ich in der kleinen Bibliothek im Obergeschoß meines Gästehauses relativ schnell fündig. Ich entdecke dort nämlich ein Buch mit dem vielversprechenden Titel "Geistlich leben im Sinne alter Klosterregeln" von Peter Dyckhoff. Es enthält zu meiner Freude neben den klösterlichen Regeln nach Basilius, Augustinus, Franziskus, Ignatius und Klara auch jene Benedikts, nach denen man sich hier im Kloster richtet.
Folgende Regeln sollen dem Menschen dabei helfen, im Alltag Demut sowie die sogenannte geistliche Kunst einzuüben:
* Pflege ein gesundes Selbstbewußtsein, hüte Dich aber gleichzeitig vor Überheblichkeit und Selbstüberschätzung!
* Werde feinfühliger, um inmitten alles Vergänglichen das Unvergängliche wahrnehmen zu können!
* Handle nicht unüberlegt, solang Dich Deine Intuition trügen kann!
* Vermeide unbeherrschtes und lautes Reden! Sei mit Deiner Stimme eher gemäßigt und zurückhaltend! Setze Vernunft und Denken ein, bevor Du sprichst!
* Verteidige und rechtfertige Dich nie unnötig, sondern harre lieber schweigend aus! Bleibe dabei standhaft, ohne müde zu werden, und übe Dich in Geduld!
* Laß allzu laute Eindrücke in Deinem Alltag nicht überhand nehmen, so daß Du durch sie belastet wirst!
* Laß freudigen Impulsen in Dir stets freien Lauf! Lache jedoch niemals, wenn Dir nicht danach zumute ist - nur, um anderen einen Gefallen zu tun!
* Sei Dir der Folgen Deines Tuns und Lassens stets bewußt und handle aus dieser Verantwortung heraus!
* Halte Maß beim Essen und beim Trinken! Gönne Dir ausreichend gesunden Schlaf, laß aber keine Trägheit zu!
* Laufe nicht davon vor unangenehmen Dingen, Unrecht und Leid, welches Dir auf Deinem geistlichen Lebensweg begegnet!
* Beziehe den Tod, der unumgänglich ist, in Dein Leben mit ein!
* Sei darauf bedacht, alle Dunkelheit Deines Herzens auszuleuchten und alle Hindernisse aufzulösen, die dem Strömen wahrer Lebensenergie in Dir im Wege stehen!
* Halte Dich soweit wie möglich von allen dunklen und deprimierenden Dingen des Lebens fern! Laß nichts Dunkles in Dich hinein!
* Wenn Launen oder dunkle Gedanken in Dir aufkommen, gehe ihnen umgehend auf den Grund und versuche, ihre Ursache zu beseitigen!
* Vergelte niemals Gleiches mit Gleichem, sondern stelle Liebe und Vergebung stets über alles!
* Sei ehrlich zu Dir selbst, und überschätze Dich selbst nicht! Gestehe eigenes Fehlverhalten stets ein und entschuldige Dich dafür!
* Steuere die Wünsche Deines Körpers selbst, und laß Dich nicht von Deinem Körper steuern!
* Kultiviere Deine sexuellen Wünsche, und laß Dich nicht von ihnen beherrschen!
* Übe von Zeit zu Zeit Enthaltsamkeit! Bleibe stets bescheiden und lerne dort zu entsagen, wo es geboten erscheint!
* Nimm nichts, was anderen gehört, und mach es Dir zueigen! Mache auch nicht das Schicksal eines anderen Menschen zu Deinem eigenen!
* Greife nienmals störend in ein anderes Leben ein! Vor allem aber: Zerstöre kein Leben!
* Behandle jeden anderen Menschen so, wie auch Du selbst behandelt werden möchtest!
* Enttäusche und verletzte niemanden, dem Du Deine Treue zugesagt hast, vor allem nicht Deinen Partner!
* Bleibe in allem in der Wahrheit! Hüte Dich vor falschem oder unnützem Reden! Schweige eher, als daß Du jemanden durch Deine Worte belastest!
* Vergiß nie, Dich den Menschen zuzuwenden, die Deine Hilfe benötigen! Werde sensibel für ihre Belange!
* Kehre nach einem Streit mit jemandem stets noch vor Sonnenuntergang zum Frieden zurück!
* Baue Vorurteile gegenüber anderen so gut und schnell wie möglich ab, um Dich damit der eigentlichen Wahrheit nähern zu können!
* Sieh diejenigen, die Du nicht magst, als Herausforderung und lerne Wesentliches aus dieser Erfahrung!
* Erhebe Dich nicht über andere, und meide jeglichen Stolz! Hüte Dich vor Besserwisserei, und falle niemandem ins Wort!
* Nimm jeden Mitmenschen als einmaliges Geschenk des Schöpfers an! Entdecke in ihm den Widerschein des Schöpfers, liebe und ehre ihn!
* Bete auch für diejenigen, die Du noch nicht ehren und lieben kannst!
* Segne in Deinem Herzen und im Gebet alle, die schlecht über Dich reden, Dir Deine Gaben nicht gönnen und hinter Deinem Rücken abfällige Bemerkungen machen!
* Mache Gott als Schöpfer des Himmels und der Erde zum Maßstab aller Dinge und damit auch zum Maßstab Deines eigenen Lebens!
* Halte Dich an die Heilige Schrift und an die darin aufgestellten Gebote! Entdecke in der Nachfolge Christi die Dir gemäße Gangart, und bleibe ihr treu!
* Gib in allem Christus in Deinem Leben den Vorrang! Setzte das Gebet und die Hingabe an ihn stets an erste Stelle in Deinem Leben!
* Kultiviere Deinen Willen dahingehend, daß er zum Willen Gottes wird! Richte Dein Tun, Reden, Denken und Fühlen so aus, daß dadurch Gottes Wille geschehe!
* Spüre immer wieder neu, wie sich der Wille Gottes in Deinem Leben ausdrücken möchte, und handle danach!
* Zweifle niemals an der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, selbst dann, wenn Du Deine Zuwendung nicht gleichbleibend spürst!
* Ersetze alle dunklen Gedanken in Dir durch lichtvolle, die Du auf Christus ausrichtest!
* Setze all Deine Hoffnung auf Gott und denke daran, daß alles Gute, was Du erfährst, von ihm ausgeht!
* Binde Dich nie zu sehr an materielle Güter, äußere Ansprüche oder Ämter! Gib Dich immer wieder ganz dem Schöpfer hin, ohne an Weltlichem zu hängen!
* Verliere Dich nur in Hingabe und Gottesliebe - nicht in anderen Dingen!
* Wisse, daß der Schöpfer allgegenwärtig ist, so daß Du ihm in allen Menschen und allem Geschaffenen begegnen kannst!
* Sprich mit jemandem, dem Du Dein Vertrauen schenkst, über Dein geistliches Leben und folge seinem Rat!
* Folge den Weisungen Deines geistlichen Begleiters auch dort, wo Du den Sinn nicht sofort einsiehst! Setze dabei Dein Vertrauen ganz auf Gott!
* Sprich nur von Dir und Deinen Erfahrungen im Christsein, wenn Du danach gefragt wirst!
* Verbringe auch in Deinem Alltag einen Teil Deiner Zeit mit dem Lesen geistlicher Literatur!
Nach mehr als drei Stunden geistlicher Lektüre lege ich das klösterliche Regelwerk dann fürs Erste beiseite, um die mir bis zur Vesper noch verbleibende knappe Dreiviertelstunde nochmals für einen kurzen Spaziergang zu nutzen.
16:40 Uhr
Durch das Eingangstor des Klosters hindurch führt mich mein Weg einmal mehr entlang der Backsteinmauer und der Gästehausrückseite, vorbei am Klostergarten auf dem Plattenweg zwischen den angrenzenden Feldern hin zu einer Art natürlichem Durchgang, welcher von zwei von zwei hochgewachsenen, aus ihrem Umfeld sichtbar herausragenden Bäumen gebildet wird, zwischen deren üppig ausgebreiteten Kronen sich vor meinen Augen das nahezu unbewegte prächtige Wolkenmeer vom hellblauem Himmelsgrund malerisch abhebt. Es kommt einem beim langsamen Daraufzuschreiten fast so vor, als hätte man hierin gar die langersehnte Pforte zum paradiesischen Himmelreich entdeckt. Und doch ist diese - meinem ganz persönlichen Empfinden nach zumindest - viel eher in der genau entgegengesetzten Richtung zu suchen, nämlich dort, wo ich geradewegs herkomme und wohin mich wenig später mein kurzer Ausflug ins Freie auch wieder zurückführen wird ... im Kloster in der Gemeinschaft der Ordensschwestern von Alexanderdorf.
Zu meinem Erstaunen entdecke ich beim langsamen Dahingehen am Rande des Wegs immer wieder Schafgarbe - eine der wenigen Pflanzen, die selbst ich, der sonst sämtliche in der Natur vorkommende Gewächse lediglich nach ihren Farben einzuteilen und in hübsch oder weniger hübsch zu unterscheiden vermag, auf Anhieb zweifelsfrei identifizieren kann. Eigentlich verwunderlich, daß mir dieses hier scheinbar doch recht weit verbreitete Kraut nicht schon bei meinen vorherigen Spaziergängen vor Ort aufgefallen ist. Innerlich ein wenig kopfschüttelnd mache ich mich mit diesem Gedanken auf den Rückweg, wobei mir kurz vor meiner Rückkehr aufs Klostergelände sowohl ein Blick auf die mitgeführte Uhr als auch das wohlklingende Läuten der dortigen Glocke gleichermaßen verraten, daß schon in wenigen Minuten im Kircheninnern die Vesper beginnt. Und so begebe ich mich denn auch, nach einem kurzen Abstecher auf mein Zimmer, schnurstracks zur Klosterkirche, wo ich umgehend - wie meist schon früher in der Schule - meinen Platz in einer der hinteren Bankreihen einnehme.
TAG 4: 13.10.2011 [Teil 5]
Wie schon am Vortag sehe ich von meinem Sitzplatz aus einer der Ordenschwestern zu, die vorn am Altar die Kerzen entzündet. Da steigt mir mit einem Male - vollkommen überraschend - ein feiner Duft von unter der heißen Kerzenflamme dahinschmelzendem Wachs in die Nase - und das, obwohl ich mich geschätzte zehn Meter vom "Brennpunkt" jenes Geschehens entfernt befinde. Ja, ist es denn die möglichkeit?! So sehr haben die Stillen Tage im Kloster bereits all meine Sinne geschärft, daß ich Dinge höre, sehe, fühle, schmecke und rieche, derer ich vorher im reizüberfluteten Alltag schon gar nicht mehr gewahr wurde. Eine unendlich große Dankbarkeit befällt mich in diesem Moment, welche einmal mehr dem Schöpfer all jener kleinen und großen Dinge gilt, die ich hier ganz neu entdecken und erleben darf - jenem göttlichen Schöpfer, dem ich letztendlich auch meinen Aufenthalt im Kloster und die damit verbundene Erfahrung friedvoller, aufnahmebereiter innerlicher Gelassenheit verdanke.
Erfüllt von jenem wunderbaren Gefühl feiere ich dann auch den sich anschließenden Gottesdienst mit dem gewohnt festen Ritus und lenke alsdann meine Schritte zum Haupthaus, wo ich zusammen mit den Anderen ein letztes Mal zu Abend esse. Eine Dame mir gegenüber am Tisch, die am kommenden Tag ebenfalls die Heimreise antreten wird, nennt diese Mahlzeit passenderweise "Das letzte Abendmahl". Und so sitzen wir nach einem kurzen Tischgebet des Herrn Pfarrers gemeinsam zu Tisch und teilen Speis und Trank. Nur, daß es bei uns anstelle des Weins roten Früchtetee gibt und daß das Brot nicht gebrochen, sondern - zuvor mit Butter, Käse und Wurst angereichert - mit Messer und Gabel mundgerecht zerteilt wird. Irgendwie ist alles ein wenig anders als damals, als sich Jesus ein letztes Mal vor seiner Verhaftung und seinem Tod am Kreuz mit seinen Jüngern zum gemeinschaftlichen Abendmahl einfand. Und dennoch gibt es da eine ganz entscheidende Sache, die gleich ist. Denn auch an diesem Abend im Kloster Alexanderdorf ist der wiederauferstandene Jesus Christus - so man den Worten der Heiligen Schrift Glauben schenkt, wie all die hier mit mir Versammelten es zweifellos tun - mitten unter uns. Auch dafür danken wir ihm, unserem Herrn, am Ende des gemeinsamen Mahls, in dessen Anschluß ich mich über den Klosterhof hinweg gemächlichen Schrittes zurück zu meinem stillen Kämmerlein begebe.
Ein bißchen Wehmut beschleicht mich dabei, als ich zum Himmel hinaufschaue, hat er doch zu meiner feierlichen Verabschiedung extra sein schönstes weinrotes Abendkleid angelegt, welches er jedoch bereits kurze Zeit später gegen das gewohnte "Lange Schwarze" als Zeichen der hereinbrechenden Nacht eintauscht.
TAG 4: 13.10.2011 [Teil 6]
Wieder ruft dann, wenig später, während ich noch über meinen Tagebuchaufzeichnungen sitze, die Klosterglocke zum Komplet und den Vigilien. Kurzentschlossen streife ich mir an diesem Abend noch einmal meine Jacke über und begebe mich festen Schrittes zur Kirche hin, um dort zumindest einmal an ersterem - sprich: dem kirchlichen Nachtgebet - teilzuhaben. Dabei treffen die Ordensschwestern nicht - wie bei der Vesper üblich - in Zweierformation, sondern einzeln nach und nach in die Kirche ein. Gebetet und gesungen wird anschließend übrigens zur Abwechslung komplett in Deutsch. Und dennoch gehört der zentrale Raum der tagesabschließenden Gottesdienstfeier auch diesmal den Psalmen, an deren Vortrag sich jeweils das von der Vesper her ebenfalls gewohnte gemeinsame Aufstehen und Verneigen anschließt zu den Worten: "Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist! Wie es war am Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit! Amen!". Gleich zu Beginn des Gottesdienstes ist außerdem jeder Einzelne aufgerufen, im kurzen stillen Gebet seinen Tag ganz persönlich für sich Revue passieren zu lassen, womit er gleichsam nocheinmal - vor dem Angesicht Gottes - ausgebreitet und einer inneren geistlichen Prüfung unterzogen wird. Bevor im Anschluß an das Komplet - dessen sichtbares Ende die segnende Bespränkelung aller anwesenden Gläubigen mit Weihwasser durch eine der Ordensschwestern bildet - die Vigilien folgen, erheben sich mehrere Gäste von ihren Plätzen und verlassen leisen Fußes das Kircheninnere, unter ihnen auch ich.
20:00 Uhr
Wieder in meine gute Stube zurückgekehrt, nehme ich an meinem nunmehr letzten Abend im Kloster das von mir zuvor beiseite gelegte Buch "Geistlich leben im Sinne alter Klosterregeln" von Peter Dyckhoff noch einmal zur Hand, und beschäftige mich ein wenig ausführlicher mit dem, was es - von den Regeln des Hl.Benedikt ausgehend - zum Thema Essen, Trinken und Fasten hergibt.
Zum "Maßhalten im Essen" (Kapitel 39 der Benediktregel) heißt es da beispielsweise: "Einmal am Tag eine warme Mahlzeit einzunehmen, ist ratsam. Sie sollte aus zwei unterschiedlichen Gerichten bestehen, damit man von dem einen oder anderen mehr oder weniger zu sich nehmen kann. Sehr zu empfehlen ist es, frisches Gemüse, Salate oder Obst zusätzlich zu reichen. Brot sollte bei den Mahlzeiten nicht fehlen. Achte darauf, Dich niemals zu übersättigen, sondern bleibe in allem genügsam! Dies bekommt sowohl Deinem Körper als auch Deiner Seele am besten. Ein ständiges Zuviel an Essen entspricht nicht dem ureigenen Wesen des Menschen. Die Materie bindet uns sonst zu stark an sich und trennt uns damit von Gott. sei daher genügsam und eher sparsam in allem, was Du zu Dir nimmst, und übertreibe nichts!
Auf Deinem Weg, geistlich zu leben, wirst Du feststellen, daß Du nach einiger Zeit Fleischspeisen ablehnst, weil sie Dir nicht mehr so gut bekommen. Zuerst wird es für Dich dabei zur Selbstverständlichkeit, kein Fleisch mehr von vierfüßigen Tieren zu essen. Freien Herzens auch gern auf Geflügel und Fisch zu verzichten, macht später eine weitere Stufe der Veränderung Deiner Ernähnrung aus. Zwinge nichts willentlich! Lebst Du mehr und mehr geistlich, geschieht alles mit Dir, was geschehen soll, auf wunderbare Weise ganz von selbst. Urteile auch niemals über Andere, was und weiviel sie essen!"
Zum "Maßhalten im Trinken" (Kapitel 40 der Benediktregel) liest man dann weiter: "Auch der Genuß von alkoholischen Getränken erfährt auf Deinem geistlichen Weg eine Veränderung. Du verspürst irgendwann kein Verlangen mehr nach Alkohol, der Dich in dieser oder jener Weise immer ein wenig verändert. Du selbst stellst Dich klarer den Anforderungen des Lebens, ohne sie durch Alkoholkonsum zu verschleiern oder zu verdrängen. Trunkenheit in jeglicher Hinsicht bedeutet Verlangsamung auf Deinem geistlichen Weg oder eventuell sogar Rückschritt.
Ein Viertelliter Wein jedoch zu den Mahlzeiten kann nicht schaden und müßte für einen Jeden bekömmlich sein. Wer sich allerdings ganz enthält, sollte sich auch, ohne Rücksicht zu nehmen, in der Öffentlichkeit stets dazu bekennen".
Und zum Thema "Fasten" (Kapitel 49 der Benediktregel) erfährt man schließlich: "Die 40 Tage der vorösterlichen Fastenzeit haben - vollziehst Du sie mit - große Wirkung auf Körper, Geist und Seele. Jeweils neu und vertieft im Glauben kannst Du so den Tod und die Auferstehung des Herrn in sakraler Form miterleben, und reiche Gnade schenkt sich Dir.
Nutze die 40 Tage als Zeit der inneren Einkehr, der Entsagung und des Verzichts. Was Dir vielleicht in der übrigen Zeit des Jahres nicht so leicht möglich ist, sollte hier verwirklicht werden: Außeres und inneres Freiwerden von jeglicher Abhängigkeit. Belastungen, Spannungen und Hindernisse fallen von Dir ab und lösen sich, so daß die Reinheit des Herzens zur Grundhaltung der Seele werden kann. Du wendest Dich bewußt und verstärkt allem zu, was den Aufstieg zu Gott fördert: dem Gebet, der Meditation und dem Schweigen. Hinzu kommt die Einschränkung von Bedürfnissen, von Speise und Trank, sowie die Entsagung von jeglicher Oberflächlichkeit und nur auf Zerstreuung ausgerichteter Unterhaltung. An erster Stelle aber sollte immer das tieferne Gebet, das Gebet der Hingabe, stehen. Es bereitet dem Wirken des Heiligen Geistes den Weg,
In den 40 Tagen der Fastenzeit kannst Du in besonderer Weise vieles konkret verwirklichen, was vielleicht bislang nur Dein Wunsch war. Bitte daraum, daß die Gnadenkraft dieser heiligen Zeit auch Dein übriges seelisches Leben formt, wie auch das der Menschen, für die Du Verantwortung trägst!"
Mit dem Abschluß der Abhandlungen zum Fasten schließe ich dann in Anbetracht der fortgeschrittenen Abendstunde meine Betrachtungen wie auch das Buch in meinen Händen.
Mein vorletzter Tag im Kloster findet damit nun ebenfalls sein Ende. Selbstverständlich nicht, ohne daß ich vorm Lichtlöschen und Zubettgehen noch einmal betend auf dem Zimmerfußboden niedersinke, Gott für alles Erlebte und für den unermeßlichen Reichtum seiner Gaben danke. Außerdem bitte ich meinen himmlischen Vater gleichzeitig um seinen Segen und Schutz für die bereits anbrechende Nacht, und das auch diesmal keineswegs nur für mich, sondern auch für mein Geburtstags-Kind Laura und ihre Mutter sowie für alle anderen liebgewonnenen Menschen, derer ich in diesem Augenblick in meinem Herzen gedenke. Den Einstieg zu meiner kleinen persönlichen Andacht aber bietet dabei Psalm 91 (betitelt als "Unter dem Schutz des Höchsten").
Nachdem ich mich anschließend auch gleich umgehend zu Bett begeben habe, bewege ich mich und meine Gedanken dennoch geraume Zeit, bis ich schließlich irgendwann nach 23 Uhr einschlafe.