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sven1421

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:33

Kurzgeschichten aus dem Hause SVEN1421



Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist reine Fiktion. Sie hat nichts mit 24 zu tun, und in welche Richtung sie genau geht, ist mal wieder völlig offen. Seid gespannt und glaubt mir, daß auch diesmal gilt: Nichts ist am Ende so, wie es am Anfang scheint! ... Aber lest selbst. Ich wünsche Euch fürs erste viel Vergnügen und spannende Unterhaltung. Über Kommentare und Kritik würde ich mich natürlich auch wieder sehr freuen!

Ein Licht in der Dunkelheit

Mein Name ist Ment. Dieter-Erich Ment ... um genauer zu sein. Meines Zeichens Hauptkommissar bei der Berliner Polizei. Geboren bin ich am 12.11.1936 in Danzig. Nach dem Krieg mußten meine Eltern und ich - wie viele andere - unsere bisherige Heimat verlassen und sind in die deutsche Hauptstadt gezogen, wo wir zunächst bei einer Familie Müller einquartiert wurden. Harte Jahre folgten, während die völlig zerstörte Metropole um uns her langsam aus ihren Ruinen wieder auferstand und sich ihrer Zukunft zuwandte. Am 17. Juni 1953 trat ich schließlich nach einem Jahr Ausbildung den Dienst bei der Polizei an. Daß ich mich noch so genau an das Datum erinnern kann, liegt sicher daran, daß es im Ostteil der Stadt an diesem Tag zu einem bedeutenden Volksaufstand kam, der sogar später in die Geschichtsbücher Einzug fand. Und die Zeiten blieben unruhig, während das ewige verbissene Kräftemessen zwischen Ost und West seinen Tiefstpunkt erreichte im Bau der Mauer am 13. August 1961. Meine neue Heimatstadt schien nun endgültig geteilt. Hoffnung keimte auf, als US-Präsident John F. Kennedy anläßlich des 15. Jahrestages der Berliner Luftbrücke die Stadt und ihre Menschen besuchte und einem ganzen, leidgeprüften Volk Mut machte mit seinem Satz: "Ich bin ein Berliner" ...

Aber all das ist ja Geschichte. Geschichte, die Sie in jedem Lexikon und jedem Geschichtsbuch nachlesen können. Meine Geschichte aber, die ich Ihnen jetzt erzählen werde, die finden Sie so in keinem Geschichtsbuch der Welt. Und dabei begann doch alles so unscheinbar und mit einer Tatsache, die schon in der Bibel steht: "Am Anfang war das Licht".

Es war mitten in der Nacht, als ich plötzlich von meinem Bett hochschreckte. Um mich herum war alles dunkel, aber aus Richtung des Flurs schien ein schmaler Lichtfetzen auf den Fußboden meines Schlafzimmers. Dabei wußte ich doch ganz genau, daß ich vor dem Schlafengehen überall in der Wohnung das Licht gelöscht hatte. Ich stand also auf, zog meine Latschen über die Füße und begab mich in den Flur. Tatsächlich, das Licht im Badezimmer war an. Ein wenig benebelt ging ich zum Lichtschalter und knipste ihn aus. Dabei kam ich leicht ins Wanken. Nanu, was war denn das? Es fühlte sich ja an, als ob ich irgendwie betäubt worden war - so, als hätte ich ein Schlafmittel bekommen. Aber das konnte ja gar nicht sein. Denn zum einen hatte ich gar keine solchen Mittelchen im Haus, und zum anderen lebte ich doch ganz allein hier in meiner kleinen Zweizimmerwohnung mitten im Wedding.

Ich schüttelte den Kopf. Auf meinem Rückweg in mein Bett lehnte ich mich dann etwas an der Wand an. Ich wollte schließlich in meinem blau-weiß gestreiften Pyjama gerade wieder unter meiner warmen Bettdcke verschwinden, als ich heftig erschrak. Meine Hand hatte beim Griff unter die Bettdecke etwas ertastet. Da lag etwas, nein nicht etwas ... jemand. Meine andere Hand suchte aufgeregt nach dem Lichtschalter der Nachttischlampe. Licht fiel ins Dunkel des Raumes. Neben meinem leeren Platz im Bett lag tatsächlich jemand - eine mir völlig fremde Frau - und schlief. Oder war sie etwa ... tot?! Ich rüttelte an ihrem Arm, wodurch sie langsam zu sich kam. Sie drehte ihren Körper ein wenig zu mir, blinzelte mir seelenruhig mit einem Auge entgegen und sagte dann mit verschlafener Stimme: "Dieter, was ist denn los? Leg Dich doch wieder ins Bett, Schatz!"

Schatz? Ich glaubte, meinen Ohren nicht zu trauen. Schatz? Ich war ein seit Jahren alleinstehender und alleinlebender Mann. Was sollte der Blödsinn?! Ich stellte die Fremde zur Rede: "Wer sind Sie? Wie kommen Sie in mein Bett mitten in der Nacht? Und was um alles in der Welt wollen Sie von mir?" Die Angesprochene öffnete nun beide Augen und richtete sich langsam im Bett auf: "Aber Dieter, ich bin doch die Erika, Deine Frau. Nun komm schon, Liebling. Es ist erst 3 Uhr, und wir zwei Beide haben wieder einen anstrengenden Tag vor uns. Zieh Deine Pantoffeln aus und leg Dich wieder hin". In meinem Kopf fuhren die Gedanken und Gefühle Achterbahn. Was wollte diese wildfremde Frau von mir? Wer hatte sie mir ins Bett gelegt? Hatte das vielleicht damit zu tun, daß ich als Polizist am morgigen Tag für den reibungslosen Ablauf des Berlinbesuchs von Präsident Kennedy mit verantwortlich war. Stimmten etwa die Gerüchte, und es war tatsächlich ein Attentat auf den Amerikaner oder gar auf den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt geplant? Hatte jemand diese Dame eingeschleust, um mich aus dem Weg zu räumen oder mich in meiner Wohnung festzuhalten, während einer der Attentäter meine Identität annahm? Wenn es so war, dann mußte ich das unbedingt verhindern! Aber wie nur? Ich wußte ja nicht einmal, ob die geheimnisvolle Frau noch Hintermänner hatte oder ob sie bewaffnet und gefährlich war. Ich beschloß also mit kühlem Kopf, ihr infames Spiel fürs erste mitzuspielen, zumindestens solange, bis sie eingeschlafen war und ich still und heimlich die Wohnung verlassen konnte.

Und so legte ich mich wieder brav zu ihr ins Bett und sagte ganz ruhig: "Gute Nacht, Schatz!" Sie gab mir zur Erwiderung noch einen sanften Kuß auf den Mund, dann drehte sie mir wieder den Rücken zu und schlief ein. Ich lag derweil ganz ruhig, hatte die Hände ineinandergefaltet und starrte im Dunkel an die Zimmerdecke. Ja, das machte Sinn. Sicher hatte man mir am Vorabend irgendwie in einem unachtsamen Moment ein Schlafmittel in das Bier, das ich jeden Abend in meiner Stammkneipe zu mir zu nehmen pflegte, getan. Das würde auch die Benommenheit von vorhin erklären. Dann hatte man sich Zutritt zu meiner Wohnung verschafft und die Frau dort einfach neben mich ins Bett gelegt. Und nun sollte sie auf mich aufpassen, während der oder die Attentäter an meiner Stelle seelenruhig ... aber nicht mit mir, meine Damen und Herren. Ich lauschte und hörte das ruhige, regelmäßige Atmen der Frau neben mir. Sie schlief. Zur Sicherheit wartete ich noch ein paar Minuten, dann stand ich ganz leise auf, nahm meine bereitliegende Kleidung vom Stuhl in der Ecke und zog mich vorsichtig im dunklen Flur an. Ich schlich zur Wohnungstür und drückte die Klinke behutsam nach unten.

Mist, die Tür war verschlossen. Kluger Schachzug, meine Dame! Aber nicht klug genug. Was sie nämlich nicht ahnen konnte, war, daß ich in der obersten Schublade der Flurkommode unter meinen Winterhandschuhen stets einen Zweitschlüssel zu liegen hatte. Ich holte ihn hervor und schloß damit ganz vorsichtig die Tür auf. Eine Minute später stand ich im Hausflur und lauschte. Es war nichts zu hören. Anscheinend gab es hier wieder meinem Erwarten erstmal keine weiteren Komplizen von ihr. Langsam schlich ich die Treppen herunter und begab mich auf die Straße. Ich machte mich auf den Weg zu meiner Polizeiwache in der Davidsstraße 110. Dabei versuchte ich, mich möglicht unauffällig zu verhalten. Einige der vorübergehenden Passanten beäugten mich dennoch ein wenig mißtrauisch, aber ich blieb gelassen und ging einfach stur geradeaus blickend weiter. Nur nicht nervös werden. Ich mußte meine Jungs in der Wache warnen! Ich mußte den Bürgermeister und den Präsidenten retten! Das war mein erstes und einziges Ziel!

Endlich erreichte ich das spärlich beleuchtete Polizeigebäude und atmete auf. Geschafft! Ich betrat den Wachraum und ging auf den jungen Beamten hinter dem Schalter zu. Nanu, den kannte ich ja gar nicht?! Aber naja, mein Chef hatte ja bei der Dienstbesprechung am Nachmittag verkündet, daß unsere Dienststelle angesichts der besonderen Situation, die der Kennedy-Besuch darstellte, Unterstützung von anderen Revieren bekommen sollte. Ich stellte mich also vor dem Schalter auf und meldete kurz und bündig: "Herr Wachtmeister, Hauptkommissar Ment hat eine wichtige Mitteilung zu machen, die sich entscheidend auf die Sicherheit des Regierenden Bürgermeisters und seines hohen amerikanischen Gastes auswirken könnte". Der Wachtmeister hinter dem Thresen musterte ihn von oben bis unten. Dann grinste er ein wenig blöd und meinte: "Ah ja, der Herr Hauptkommissar. Zu so früher Stunde schon dienstlich unterwegs. Was gibt es denn so Eiliges?" Ich war ein wenig verdutzt. Daß der das so leicht nahm?! Naja, die Jugend von heute eben! Und so setzte ich meine Meldung fort: "Jemand hat mich wahrscheinlich betäubt und mir anschließend eine wildfremde Frau in mein Bett gesteckt, die nun behauptet, mit mir verheiratet zu sein. Ich nehme an, sie soll mich an der Ausübung meiner heutigen Dienstaufgabe hindern. Vermutlich ist auch schon jemand an meine Stelle getreten und hat meine Identität angenommen, um ungehindert an unseren Staatsbesuch herankommen zu können. Es geht wahrscheinlich um das befürchtete Attentat auf Präsident John F. Kennedy!" Der junge Beamte wurde plötzlich ernst und nachdenklich: "Ja, wenn das so ist. Sie warten bitte hier, ich informiere nur rasch die entsprechenden Stellen!" Damit lief er ins Hinterzimmer ans Telefon. Er wählte eine längere Nummer und sprach dann minutenlang ganz aufgeregt in den Hörer hinein. Anschließend tätigte er noch einen zweiten Anruf und kam dann in die Wachstube zurück. Er klopfte mir freundlich auf die Schulter und meinte: "Prima, Herr Hauptkommissar. Unsere Leute sind gleich hier und nehmen Sie dann mit zur weiteren Einsatzbesprechung".

Fünf Minuten später betraten drei kräftige Männer in Rot-Kreuz-Montur die Wache. Sie tuschelten kurz mit dem Wachtmeister und postierten sich dann um mich herum. Einer von ihnen ergriff meine Hand und sagte: "Herr Ment? Ich bin Doktor Zwinger. Und die Herren zu meiner Rechten und Linken würden Sie jetzt gern einmal mitnehmen. Ihre Frau haben wir auch schon mitgebracht, die wartet in unserem Krankenwagen auf Sie. Legen Sie sich doch bitte mal auf die Trage". Mit diesen Worten gab er zwei weiteren Männern in weiß vor der Tür ein Zeichen, die dann eine Krankentrage hereinbrachten. Jetzt verstand ich das Grinsen des vermeintlichen Wachtmeisters vorhin! Das Ganze war eine großangelegte Verschwörung zur Ermordung Kennedys. Und alle steckten mit drin: meine sogenannte Frau, der ach so freundliche Beamte hinterm Schalter und diese ganzen als Mitarbeiter des Roten Kreuzes verkleideten Mistkerle. Ich wehrte mich verzweifelt mit Händen und Füßen, aber es half nichts. Gegen diese Übermacht konnte ich einfach nichts ausrichten. Und so landete ich binnen weniger Sekunden gefesselt an Händen und Füßen auf der Krankentrage und anschließend im Rettungswagen, der mit mir davonbrauste.

Im Krankenwagen wurde mir sofort eine gelbliche Flüssigkeit über eine Spritze injiziert, die mich augenblicklich wieder ruhig und müde machte. Das Letzte, was ich vorm Einschlummern noch sah, war jene mir fremde Frau, die sich als meine Ehefrau ausgab und nun leise weinend meine Hand hielt. So ein durchtriebenes Luder, weint sogar ... man könnte denken, sie sei ehrlich besorgt um mich. Was wird jetzt bloß aus den gefährdeten Staatsmännern. Hoffentlich gelingt es, den gemeinen Anschlag noch rechtzeitig zu vereiteln ... Das war mein letzter Gedanke, dann wurde es dunkel um mich ...

---

Gestatten, daß ich mich vorstelle?! Mein Name ist Sven Schindler, und ich trete in meinen Geschichten sonst eigentlich niemals so direkt in Erscheinung wie gerade eben jetzt und hier. Aber an dieser Stelle tue ich es dennoch, denn es ist wohl niemand geeigneter, die Geschichte des Herrn Ment weiterzuerzählen als ich. Es ist eine recht traurige Geschichte, wie Du gleich bemerken wirst. Ich darf doch Du sagen, ja?! Vielleicht noch ein paar kurze Worte zu meiner Person: Ich arbeite seit nunmehr 12 Jahren als Hilfskraft in der Altenpflege. Meine Hauptaufgabe besteht dabei darin, älteren Menschen bei der Meisterung ihres Lebensalltags zu helfen - sie zu wecken, ihnen beim Aufstehen zu helfen, sie beim Waschen zu unterstützen, sie einzucremen, sie anzukleiden, ihr Essen vorzubereiten und auszuteilen und es gegebenenfalls auch zu verabreichen, mit auf die regelmäßige Einnahme der verordneten Medikamente zu achten und darauf daß sie ausreichend essen und trinken, sie zur Toilette zu begleiten oder ihnen die Windeln zu wechseln, sie zu beschäftigen und mich mit ihnen zu unterhalten, sie auszukleiden, ihnen beim zu Bett gehen zu helfen und ihren möglichst ungetrübten Nachtschlaf zu bewachen ... und das sind nur die wichtigsten all jenr Aufgaben, die ich im Rahmen meiner Tätigkeit zu erledigen habe. Es ist eine körperlich wie seelisch anstrengende, und dennoch eine schöne und dankbare Arbeit - besonders dann, wenn man als Lohn ein Lächeln oder ein Lob aus dem Munde eines seiner Schutzbefohlenen erntet. Doch genug von mir und zurück zu Herrn Ment ...

Herr Dieter-Erich Ment wurde am 07. August 2009 im Alter von 72 Jahren in das Pflegeheim am Rande Berlins gebracht, in dem ich arbeite. Ich höchstpersönlich habe das Türschild an seinem Zimmer angebracht, daß nicht nur seinen Namen wiedergibt, sondern auch seine Hauptkrankheitsdiagnose: "D.E.MENT". Aufgrund jener Erkrankung, die viele verschiedene Bezeichnungen und Formen hat, fehlt Herrn Ment das Kurzzeitgedächtnis. Er vergißt Dinge, die er eben gerade getan hat. Und er erinnert sich dafür an deren Stelle an Dinge, die sehr lange zurückliegen, so als seien sie eben gerade erst passiert. Herr Ment lebt somit in seiner ganz eigenen Welt, und die liegt stets ein kleines oder auch mal ein größeres Stück weit in seiner Vergangenheit. Als er zu uns kam, war es in dieser Welt wohl gerade der 26. Juni 1963, der Tag des Berlinbesuchs vom damaligen Präsident John Fitzgerald Kennedy. Herr Ment glaubte fest und unverrückbar daran, daß er ein im Dienst befindlicher Hauptkommissar der Berliner Polizei sei. Er drohte bei seinem Eintreffen, die ganze Verschwörung auffliegen, uns alle verhaften und lebenslänglich wegsperren zu lassen. Außerdem schrie er die ganze Zeit lauthals um Hilfe und wollte unbedingt und auf der Stelle mit dem Regierenden Bürgermeister von Westberlin Willy Brandt telefonieren. Schließlich ginge es um Leben und Tod. Dieser Bitte von ihm konnte ich leider nicht entsprechen, hatte ich doch höchstpersönlich schon Jahre zuvor im Oktober 1992 mich vor seinem Sarg verbeugend Abschied von jenem ehrenvollen deutschen Politiker genommen.

Stattdessen versuchten wir als Pflegepersonal, Herrn Ment erst einmal zu besänftigen und ließen dann einen Arzt kommen, der ihm etwas zur Beruhigung gab. Nach ein paar Wochen hatte sich Herr Ment schon recht gut bei uns eingelebt. Nur hin und wieder wollte er noch nach Hause zu seinen Eltern in die kleine Wohnung am Danziger Hafen. Aber er freute sich jeden Tag, wenn seine Frau ihn besuchen kam, auch wenn er sie dabei stets für seine Mutter hielt und mit Minna ansprach. Bei der Suche nach seinem Zimmer und der Toilette muß ich ihm freilich jeden Tag aufs Neue behilflich sein. Und daß er nun für immer hier wohnt, will er mir meistens auch nicht so ganz abnehmen. Aber er bleibt dabei zumindest immer sehr höflich und freundlich. Nur ein einziges Mal noch habe ich den lieben, alten Herrn zornig und mit geballten Fäusten erlebt ... an jenem Tag, an dem ein Nachrichtensender im Fernsehen eine Dokumentation über das Kennedy-Attentat vom 22. November 1963 im texanischen Dallas ausstrahlte. Da meinte er dann mit Tränen in den Augen leise zu mir, er hätte das vielleicht verhindern können, in jener Nacht in der er erwachte - durch ein Licht in der Dunkelheit ...

[ENDE]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:35



Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist reine Fiktion. Sie entspringt einem meiner verrücktesten Träume. Sie hat nichts mit 24 zu tun, und man darf von ihr - wie von fast jedem meiner Träume - vor allem zwei Dinge nicht erwarten: zum einen normale menschliche Logik und zu zweiten ein Ende, das diesen Namen verdient hätte. Seid gespannt und glaubt mir, wenn ich Euch sage: Die Ängste, die den Haupthelden gleich befallen werden, die hat auch der Autor als der Träumende zu 100% am eigenen Leib durchlebt! ... Aber lest selbst. Ich wünsche Euch fürs erste viel Vergnügen und spannende Unterhaltung. Über Kommentare und Kritik würde ich mich natürlich wie stets unheimlich freuen!

Geburtsstunde der Angst


Dunkelheit umgab uns inmitten des von allen Menschenseelen verlassenen Waldgebietes, in dem wir uns befanden. Nur der Vollmond und der klare, wolkenlose Himmel verhinderten, daß wir gänzlich im Finstern standen. Der einzige Weg, der die dichten Baumreihen durchbrach, bildete einen in sich geschlossenen Kreis, an dessen äußerem und innerem Rande in unregelmäßigen Abständen hier und da ein einzelnes längst verlassenes Haus oder aber auch das eine oder andere alte, lieblos abgestellte Autowrack herumstand. Ein kräftiger, eisiger Wind war aufgezogen und hatte neben der klirrenden Kälte auch Nieselregen mitgebracht, der uns zusätzlich um die Ohren pfiff und sowohl auf den Weg als auch auf unseren aufgeregten Gesichtern einen kleinen Eisfilm zu hinterlassen begann.

Aber vielleicht sollte ich erst einmal aufklären, wen ich meine, wenn ich hier gleich zu Beginn andauernd von wir rede. ICH, nun ja - das bin ich: Sven, 37 Jahre alt und eigentlich ein ganz normaler, recht unauffälliger Mann mit einem sehr unspektakulären, normalen Leben. Aber wie ich eben schon sagte: nur eigentlich! Heute nämlich nicht - ganz und gar nicht, wie sich noch herausstellen sollte. Denn ich stand hier in der klirrenden Kälte jenes nächtlichen Waldes mit einer geladenen und entsicherten Pistole in der zitternden rechten Hand, jederzeit bereit zu schießen, auf alles, was sich mir oder IHR und vor<allemIHM feindlich nähern könnte. IHR - das ist sie: Michaela, die taffe Frau an meiner Seite im sexy schwarzen Lederoutfit. Eine Männerphantasie im Stile von Catwoman halt, nur ohne Maske, dafür aber mit einem herrlich süßen, unschuldigen Gesichtchen, das nur noch verführerischer wird, wenn sie lächelt. Aber im Moment ist Michaela zu angespannt, um zu lächeln. Im Moment steigt sie nämlich in einen schneeweißen Flitzer, der auf der Straße bereitsteht und dessen laufender Motor unter ihren erfahrenen Händen nun selbst zu fauchen beginnt wie ein wildes Kätzchen. Aber ich schweife ab, ist doch die Auflistung der erwähnten Personen noch nicht vollständig. Schließlich bleibt da noch das erwähnte IHM.

Tja, und hier endet bereits jede normalmenschliche Logik in meiner kleinen Erzählung. IHM, das ist nämlich das kleine, unschuldige Baby, das da seit nunmehr neun Monaten im Bauch heranwächst, und das sich gerade diese ungemütliche, unheilvolle Nacht ausgesucht hat, um ans Licht - oder sollte ich in dem Fall lieber sagen: ans Halbdunkel - dieser Welt zu gelangen. Nun werdet Ihr sicher sagen: Ja, aber so eine Schwangerschaft ist ja auch nichts so Unlogisches oder Außergewöhnliches - selbst unter diesen Umständen. Klar, da gäbe ich Euch ja Recht, wenn das kleine, ungeborene Wesen auf der Suche nach dem Ausgang nicht gerade in diesem Moment frech und ungestüm von innen gegen MEINE stark gewölbte Bauchdecke trampeln würde.
Ich hab ja keine Ahnung, wie es den Männern unter Euch gehen würde, aber ich hatte jedenfalls fürchterliche Angst. Zum einen vor den Schmerzen der Geburt - die schon als unbeteiligter Zuschauer nicht unbedingt schön mit anzusehen sind, wie ich aus eigener Erfahrung nur allzu gut weiß - und zum anderen vor der anstrengenden Prozedur an sich. Wann um alles in der Welt sollte ich denn nun pressen und wann atmen. Man(n) sollte eben ruhig sicherheitshalber doch einen Geburtsvorbereitungskurs mitmachen und sei es nur, damit man(n) für solche Ausnahmeträume wie den meinen dann entsprechend vorbereitet ist.

Doch zurück von mir und dem IHM in mir sowie zu ihr, und dem IHM vor ihr. Da war nämlich noch jemand: der Grund, warum ich immer noch die Waffe in der Hand hielt und der, warum Michaela so blitzschnell in den roten Wagen geklettert war. ER, das war ein schrecklich finster dreinblickender Typ mit einem Dreitagebart, dessen Stoppeln ebenso kurz waren wie der Rest der pechschwarzen Haare auf seinem kurzgeschorenen Schädel. Sein Name war Antonio, und er war die Verkörperung des Bösen. Ein Kerl, der ohne ein Wimpernzucken über Leichen ging - wenn es sein sollte, dann heute Nacht auch über die unseren. Bei diesem skrupellosen Tier zählte nicht einmal die Tatsache, daß ich hochschwanger war, dessen war ich mir absolut sicher. Wie dem auch sei: Jener Antonio war in seinen schwarzen Aston Martin DBS gestiegen und hatte inzwischen ebenfalls den Motor gestartet. So standen sich die beiden Autos nun gegenüber, sich mit ihren Lichtkegelaugen böse anleuchtend und ihre Räder raubtierkrallenähnlich in den Sand drückend - jederzeit zum Sprung bereit.

Antonio machte schließlich mit seinem Wagen den Anfang, aber er fuhr wider Erwarten erst ein paar Meter zurück und schlug dann einen kräftigen Haken, der sein Auto erst wieder zum Stehen kommen ließ, als es sich einmal komplett gedreht hatte und nun dieselbe Fahrtrichtung einschlug wie Michaelas Jaguar. Jener hatte sich bis jetzt noch völlig ruhig verhalten, sich keinen einzigen Zentimeter weit bewegt. Und auch nun wartete er - wartete darauf, daß Schwarz den nächsten Zug machen würde. Und Antonio verstand diesen Wink. Mit quietschenden Reifen startete er seine Fahrt auf der Rennbahn, zu der er sich den nahezu kreisrunden Weg nun endgültig auserkoren hatte. Michaelas strahlendweißes Flitzerchen tat es ihm nur Sekundenbruchteile später gleich - und so ging das Rennen Schwarz gegen Weiß und Gut gegen Böse in die erste Runde.

Irgendwie hatte ich so gar keine Lust, dabei einfach nur den unbeteiligten Zuschauer zu spielen, der abwartet, wer gewinnt - um dann schlußendlich dem Sieger mit offenen Armen entgegenzurennen - je nach Ausgang mit einem Kuß auf die Wange oder einer tödlichen Kugel belohnt. Und so lief ich vorsichtig ein paar Meter weiter am Rande der Rennstrecke entlang bis hin zu einem der abgestellten Autowracks. Im wahren Leben hätte ich - gerade in meinem derzeitigen Zustand - sicher keine Chance gehabt, das Wrack auf die Straße bewegt zu bekommen. Aber wir waren ja hier nicht im wahren Leben, sondern in meinem Traum, und da ging, was ich wollte - allen physikalischen Gesetzen zum Trotz. Das kleine Blechmonster war sogar federleicht, was mich sogleich zum nächsten Autowrack auf der gegenüberliegenden Seite des Wegs laufen ließ, um hier die Demonstration meiner ungeheuren Stärke gleich noch einmal zu wiederholen. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich so im Alleingang eine exzellente Straßensperre aufgebaut, vor der auch Antonios schwarzer Sportwagen ganz gewiß Halt machen mußte. Und so wartete ich nun, die Pistole im Anschlag, auf den unvermeidlichen Boxenstop des mörderischen Fieslings - wobei ich gleichzeitig beide Daumen drückte, daß Michaela ihn nicht schon mit ihrem weißen Flitzer überholt hatte.

Das Daumendrücken hatte geholfen, Antonio raste unangefochten als Erster ganz in sein schwarzes Blech gehüllt ungebremst auf meine Barriere zu. Nur noch wenige Meter trennten ihn vom unschönen Aus seiner noch ach so jungen Rennfahrerkarriere. Aber der durchtriebene Mistkerl bekam in letzter Sekunde noch die Kurve. Er riß das Lenkrad herum und bretterte nun mitten durch die dichten Baumreihen des inneren Waldkreises, wo ihn ein paar Sekunden später ein Baumstamm unsanft stoppte. Michaela, die ihm die ganze Zeit auf den Fersen gewesen war, sprang aus ihrem inzwischen zum Stehen gebrachten Wagen und zückte nun ebenfalls die mitgeführte Pistole aus der Tasche ihres Ledernanzugs heraus. Dann rannte sie auf das verunglückte Schrottauto Antonios zu, das mit seiner starkverbeulten schwarzen Hülle bereits dem Anlaß seines traurigen Ablebens passend gekleidet war. Sie öffnete mit einem kräftigen Ruck die Tür auf der Fahrerseite und leuchtete mit einer mitgebrachten Taschenlampe in die nur leicht zusammengeschrumpfte Fahrerkabine hinein. Ich, der ich nach Luft ringend inzwischen ebenfalls an der Unglücksstelle angelangt war, schaute im selben Augenblick von vorn durch die zersplitterte Windschutzscheibe ins Autoinnere. Und für einen Moment lang stockte uns nun Beiden der Atem ... denn der Fahrersitz war leer, und Antonio scheinbar im Dickicht des Waldes verschwunden.

Michaela gewann recht schnell ihre Fassung zurück und erkannte, in welcher Gefahr wir uns doch jetzt befanden. Sie packte mich mit ihren eisigen Fingern bei meiner zitternden Hand und riß mich mit einem kräftigen Ruck aus meiner ängstlichen Erstarrtheit heraus. Dann rannten wir Hand in Hand auf die Mitte des Waldwegs zurück, wo wir uns sogleich in stummer Übereinkunft Rücken an Rücken stellten, die Waffen nach vorn gerichtet und uns langsam im Kreis zu drehen begannen, um so nach Möglichkeit jederzeit die gesamte Umgebung fest im Blick zu haben und bereit zu sein, wenn jener skrupellose Schuft aus dem Schutze des Waldes zurückkehren würde, um seine mörderischen Pläne an uns Dreien zu vollenden. Daß er zurückkehren würde, daran bestand für keinen von uns Beiden je ein Zweifel. Noch nie hatte ein Profikiller wie er seiner von langer Hand vorbereiteten Mordanschläge unvollendet abgebrochen. Und so drehten wir uns weiter langsam und voller Angst im Kreis um uns selbst, während sich in meinem fruchtbaren Leib ein kleines Menschenkind - unaufhaltsam und nichts ahnend von all dem Bösen und Furchteinflößenden dieser Welt hier draußen - auf seine Geburtsstunde vorbereitete, die im schlimmsten Falle auch gleichzeitig die Stunde des Todes für uns alle zusammen sein würde ...

[ENDE]

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:37

Der Tod

Finger und Zehen färben sich blau,
weil das Rot des Blutes sie nicht mehr erreicht.
Haut wird blaß und kalt,
weil Strahlen und Wärme den Körper verlassen.

Atem beginnt zu schnappen,
zu schnappen nach Luft.
Es gelingt ihm nicht mehr, sie einzufangen,
denn sie geht ihm langsam aus.

Gedanken fliegen, schweifen hin und her,
Erinnerung läßt Leben Revue passieren.
So vieles scheint unerledigt geblieben.
Doch Zeit wird knapp, viel zu knapp.

Ängste greifen nach einem letzten Strohhalm.
Ein Funke Lebenswille, aus Todesfurcht geboren.
Puls wird flacher, Augen schließen sich, Geist schwindet ...
Und der seelenlose Leib heißt den Tod willkommen.

Menschen bleiben zurück, stehen am Grab,
Tränen füllen die Augen, Trauer macht stumm.
Die Frage nach dem Warum schwebt unausgesprochen im Raum
und bleibt unbeantwortet bis zum Jüngsten Tag.

[ENDE]

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:41

Mein erster frühlingshafter Waldspziergang im Jahre 2010 hatte mich zu einer kleinen paradiesischen Betrachtung inspiriert, die ich Euch nicht vorenthalten möchte. Ist ein kleiner Spaziergang zwischen Himmel und Hölle draus geworden, aber lest nur selbst:

Paradiesische Zustände

Seelenruhig und gelassen schlenderte ich über einen weichen Wolkenteppich hinweg durch die Unendlichkeit einer strahlendweißen, hellerleuchteten Umgebung. Vor meinen Augen aber zeichnete in die Leere des Raumes hinein der Schöpfer hochstpersönlich mit unsichtbarem Pinsel in den lebendigsten Farben eine zauberhafte Waldlandschaft. Zu meiner Rechten waren die dichtstehenden Bäume in ein herbstlich buntes Laubkleid gehüllt, dessen herabgefallene Verwandschaft vetrocknend und in seiner Vergänglichkeit langsam zu Staub zerfallend den Erdboden komplett bedeckte. Zu meiner Linken hingegen grünte und blühte es frühlingshaft aus dem frisch aufgetauten Erdreich heraus. Den Astspitzen der kahlen Bäume entsprangen zaghaft klebrig hellgrüne Knospen und strebten dem Licht jener Sonne entgegen, die gemeinsam mit Mond und Sternen am Himmel stand und hochsommerliche Hitze ausstrahlte. Sie wärmte meinen gänzlich unbekleideten Körper, an dem hier weder ich noch meinen Weg kreuzende - gleichsam unverhüllte - Passanten in irgendeiner Weise Anstoß nahmen. Unter meine barften Füßen knirrschte bei jedem meiner unbeschwerten Schritte die - den Waldweg dünn bedeckende - Schneeschicht. Am Wegesrand aber saßen in unregelmäßigen Abständen Fuchs und Hase, Reh und Wildschwein, Katze und Maus, Hund und Igel einträchtig beisammen.

Verschiedenartigste Vögel zwitscherten auf beiden Seiten des Wegs, und ich erkannte in ihrem mehrstimmigen Gesang sofort die unbeschwerte Melodie von Antonio Vivaldis "Vier Jahreszeiten". Außer diesem erquickenden Ohrenschmaus herrschte um mich herum himmlische Stille. Die Gedanken in meinem Kopf aber kamen und gingen gleichzeitig - eigene wie auch fremde. Kindlich verspielt tobten sie miteinander, wurden eins oder trennten sich nach kurzem leidenschaftlichen Diskurs freundschaftlich voneinander. Eine leises engelhaftes Frauenstimmchen drang plötzlich an mein Ohr. Es säuselte: "Werte Gottesgeschöpfe, versäumt bitte nicht die Gesprächsrunde zum Thema 'Einführung in die hohe Kunst des Dichtens und Schreibens' unter der Leitung der Herren Johann Wolfgang von Goethe, Theodor Fontane und Ernest Hemmingway. Treffpunkt ist heute um 14 Uhr Himmlischer Ewigkeitszeit auf Wolke 7. Als Dauer des lockeren Gedankenaustauschs sind zirka 20 Erdenjahre anberaumt. Momentan liegt die Teilnehmerzahl, der nach oben hin keine Grenzen gesetzt sind, bei 240.171 Himmelsbürgern". Ja, diese Gesprächsrunde reizte mich sehr. Denn wenn ich auch während meiner Erdentage Pflegehelfer von Beruf gewesen war, so hatte ich doch stets - von Kindesbeinen an - das Schreiben von Geschichten als meine eigentliche innere Berufung angesehen. Meine Lippen formten ein lautloses Ja und schon bestätigte dieselbe engelhafte Stimme meine Anmeldung zu dem literarischen Gesprächskreis. So einfach und problemlos gestaltete Kommunikation hier oben, waren wir doch alle als Gottes Kinder mit unseren Gedanken gleichsam über eine Art drahtloses Netzwerk mit dem zentralen Server Gott verbunden, so daß ein jeder jederzeit uneingeschränktes Gedankengut der gesamten Menschheit vom Beginn seiner Schöpfung an hatte.

Ich atmete tief ein und aus, sog den Duft der reinen unverbrauchten Waldluft in mich ein. Das ewige Leben war einfach herrlich. Von einem oftmals jahrelangen Exkurs ging es zum nächsten, unterbrochen nur von mehrwöchigen Spaziergängen durch eine Landschaft, die man sich im Geiste frei wählen konnte. Ich hatte mir - wie schon früher zu Lebzeiten - den Wald zum Entspannen ausgesucht, andere wählten den Südseestrand, den Polarkreis oder das Hochgebirge.
Besonders mein letzter Exkurs hatte es in sich gehabt: ein sechstägiger Ausflug zum Rande der Hölle unter der Reiseleitung von Herrn Dante Alighieri, der durch seine allseits bekannte "Göttliche Komödie" als Kenner der dortigen Szene galt. Auf einem Sonnenstrahlexpreß ging es hinab zum Rande der Finsternis.
Und auch wenn uns als gläubigen Menschen der Zutritt zum inneren Kreis verwährt blieb, war das, was wir von oben her durch den Rauchabzug zu erspähen vermochten, grausam genug. Durch den ununterbrochenen Qualm hindurch, welcher einen ekelhaften Gestank von Fäulnis und Verwesung verbreitete, erblickten wir dreckige, blutverkrustete Gestalten, die man nur noch schwerlich als ehemals menschliche Wesen zu identifizieren vermochte. In dem Flammenmeer, daß ständig von den zahlreichen Brandstiftern und Feuerteufeln aller Zeiten am Brennen gehalten wurde, herrschten allerorts Folter, Kannibalismus, Vergewaltigung und Mord. Männer und Frauen schlugen sich gegenseitig die Schädel ein. Sie rissen sich mit den Krallen - die einst ihre Hände waren - die Haut in Fetzen vom Leibe und stachen sich mit ihren messerscharfen Fingernägeln die diabolisch blitzenden, kalt ins Leere starrenden Augen aus. Angetrieben wurden sie dabei von langhaarigen, gehörnten Monstern mit langen, vernarbten Schwanzen an ihren üppigen, mit riesigen Eiterbeulen übersäten Hinterteilen. Hinter jenen peitscheschwingenden, teuflisch lachenden Horrorgestalten aber knieten auf dem schlammbedeckten Untergrund ganz in schwarz gekleidete, totenbleich geschminkte junge Mädchen, die mit ihren blutroten Lippen ohne Unterlaß angewidert über die eitrigen Gesäße leckten.
Selbst der an sich lustvolle Akt geschlechtlicher zwischenmenschlicher Liebe verkam an jenem unheilvollen Ort zur unreinen, abartigen Perversion. Überall suhlten sich nackte, in Schlamm und eigene Exkremente gehüllte, stinkende Menschenleiber - wildgrunzend ineinander verknäult. All diese gespenstischen Szenarien hatten etwas Tierisches, völlig Entmenschlichtes an sich. Über alldem aber spottete eine düstere Stimme unaufhörlich: "Es gibt keinen Gott! Der Mensch ist durch und durch verdorben. Und in seiner Verdorbenheit ist er dem ewigen Verderben geweiht!".
Wie war ich innerlich froh und glücklich, als wir am Ende des sechsten Tages auf einem zweiten Sonnenstrahl die himmlische Heimreise antreten durften. Und ich dankte meinem Schöpfer während und nach meiner Heimkehr ununterbrochen dafür, daß er mich zum Glauben geführt hatte, durch den mir jenes höllische Schicksal ewiger Verdammnis erspart blieb.

Ein heller Trompetenton riß mich in diesem Moment aus meinen dunklen Erinnerungen. Ein Engel verkündete den Anbruch der zweiten Nachmittagsstunde und damit den Beginn des literarischen Kreises. Fröhlich vor mich her summend machte ich mich auf den Weg zu Wolke 7. Und nach Ablauf der zwanzig Jahre würde ich mich dann gleich zum nächsten Kurs anmelden: "Die hohe Kunst des Betrachtens und Malens" unter der Leitung der Herren Albrecht Dürer und Michelangelo.

Ja, meine irdischen Freunde, so könnte es aussehen - jenes himmlische Paradies, in das ich am Ende meines Erdendaseins eingehen werde. So oder so ähnlich ... oder aber vielleicht auch ganz anders ...

[ENDE]

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:43

Ein altes Märchen - das mir meine Oma abends immer vorgelesen hat - hat zu einer neuen märchenhaften Kurzgeschichte inspiriert, die ich meinen geschätzten Lesern nicht vorenthalten möchte, prägt ihr Leitgedanke doch quasi mein ganzes Leben ...

Die Halle der Lebenslichter - Ein Märchen vom Gebruder Sven

Es war einmal einmal ein Mann, der saß an seinem vierzigsten Geburtstag einsam und verlassen in seiner kleinen Wohnung und dachte über das Leben nach. Dabei beschäftigte ihn vor allem die Frage, ob es wohl einen Ort gäbe, an dem die Lebenzeit des Menschen festgelegt sei. Und wie er so darüber nachsann, da rückte unbemerkt die Nacht herein. Als die Glocke des nahegelegenen Kirchturms schließlich zwölf schlug, flackerte plötzlich gespenstisch das Licht in seinem Zimmer - und vor ihm erschien eine große düstere Gestalt, in einen langen schwarzen Mantel gehüllt, mit unter einer Kapuze verdecktem, zu Boden blickenden Gesicht. Der Mann erschrak beim Anblick jenes Fremdes und wisperte ganz leise mit einem deutlichen Zittern in seiner Stimme: "Wer bist Du? Und was willst Du von mir?". Der Kopf des nächtlichen Besuchers erhob sich langsam, und unter der schwarzen Kapuze strahlte dem Mann im Halbdunkel des Zimmers aus einem nicht erkennbaren Gesicht ein Paar glutroter Augen entgegen. Dazu ertönte zeitgleich eine tiefe, furchteinflößende Stimme: "Mein Name ist Gevatter Tod. Und ich komme, um Dir Antwort zu geben auf jene Frage, die Dich in den letzten Stunden Deines Lebens so unheimlich in ihren Bann gezogen hat". Damit warf er seinen schwarzen Mantel um den wie versteinert in seinem Sessel hockenden Mann, um den herum es nun mit einem Schlage stockfinster wurde.

Es kam dem verängstigten Mann wie eine Ewigkeit vor, bis sein Begleiter schließlich den Mantel wieder öffnete. Vor seinen Augen erschien dabei ein strahlend hell erleuchteter Saal, auf dessen Marmorfußboden Millionen von dicht an dicht stehenden Kerzen brannten. Einige von ihnen waren hoch, und ihre Flammen wiegten ganz sachte hin und her in dem leichten Hauch, der sie umspielte. Andere waren schon verloschen, so daß nur noch der kalte, schwarze Docht aus einer erstarrten, unansehnlichen Talgmasse hervorlugte. Wieder andere näherten sich eben jenem Ende, und ihre Flammen schlugen kämpferisch wild hin und her - gerade so, als wollten sie das unvermeidliche Schicksal ihres Ablebens damit herauszögern.

Der Mann schaute dem Gevatter Tod tief in die düster funklenden Augen und fragte: "Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?". Die Stimme des Todes aber antwortete kühl: "Dies ist die himmlische Halle der Lebenslichter. Jeder Mensch auf Erden hat hier seine eigene Kerze, die für die Dauer seines Lebens steht. Solange ihre Flamme ruhig leuchtend erstrahlt, lebt der Mensch. Sobald sie aber erlischt, endet damit auch das irdische Leben des Menschen, für den sie hier stellvertretend brannte". Und während der Tod noch so zu ihm rederte, da fiel der Blick des Mannes auf eine jener fast niedergebrannten Kerzen, deren schwindende Wachsmasse nur noch für ein paar Minuten Lebenszeit zu sprechen schien. Aufgeregt deutete er mit dem Finger auf die flackernde Lichtgestalt und wandte sich dabei wieder an seinen schwarzumhüllten Begleiter: "Sag mir, wem gehört dieses Lebenslicht, das so unaufhaltsam dem Ende zustrebt und dennoch in seinem verzweifelten Todeskampf so eine ungeheure Wärme und Leuchtkraft verbreitet". Der Tod schaute finster, dann sprach er: "Das ist eine sehr traurige Geschichte. Doch wenn es Dich so sehr interessiert, so sollst Du erfahren, wem dieses in Kürze verlöschende Lebenslicht gehört". Damit warf er erneut seinen Umhang um die Gestalt des Mannes und nahm ihm damit die Sicht.

Wieder dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis der Umhang vor seinen Augen zurückgeschlagen wurde. Diesmal fand sich der Mann in einem kleinen dunklen Zimmer wieder. Mitten im Raum stand ein Bettchen, in dem ein etwa sechsjähriges Mädchen lag. Die Kleine hatte im Mondlicht, welches durch das Fenster hineinfiel, ein ganz bleiches Gesicht. Ihre Augen schienen matt und hatten all den Glanz verloren, welchen die unbeschwerten Kinderaugen gleichaltriger Mädchen normalerweise auszustrahlen vermögen. Sie atmete schwer, und auf ihrer Stirn standen dicke Schweißperlen. Erst jetzt bemerkte der Mann neben dem Bett einen kleinen Kinderstuhl, auf dem - in sich zusammengesunken - eine Frau saß, die dem Kind in diesem Moment mit einem Handtuch die kaltfeuchte Stirn abtupfte. Die Kleine aber wimmerte: "Mami, Mami, mir wird so kalt. Sag, muß ich jetzt auch sterben so wie der Papa im letzten Winter?". Die Mutter drehte ihren Kopf zur Seite und schluchzte: "Ach mein Liebes, mein armes Kleines, Du darfst mich jetzt nicht verlassen. Ich hab doch sonst keinen Menschen mehr auf der Welt". Das zitternde Händchen des Mädchens suchte auf dem Bettlaken die Hand der Mutter. Es fand und umfaßte sie, während das Mädchen kaum hörbar zu flüstern begann: "Aber liebste Mami, wein doch nicht! Ich bin doch dann beim Papa im Himmel. In dem wunderschönen Paradies, von dem Du mir damals so viel erzählt hast, als der Papa plötzlich nicht mehr bei uns war. Da warten wir dann beide gemeinsam auf Dich. Und wenn Du uns eines Tages dort besuchen kommst, dann feiern wir alle Zusammen ein großes Wiedersehensfest. Das ist doch schön, oder?!". Die Mutter wischte rasch mit dem Handtuch über ihr verweintes Gesicht. Dann ergriff sie mit der freien linken Hand das kraftlose kleine Händchen ihrer Tochter und sprach, sichtlich um Fassung ringend: "Ja, mein Schatz, das ist eine ganz wundervolle Idee. Genauso machen wir das - Du, der Papi und ich". Über das Gesicht des Mädchens huschte ein kurzes Lächeln, dann schlossen sich seine müden Augen.

Mit einer Mischung aus Bestürzung und hilfloser Wut schaute der Mann auf den Gevatter zu seiner Rechten und schrie: "Wie kannst Du nur so ruhig dastehen? Warum tust Du denn nichts? Wiillst Du das arme kleine Mädchen seelenruhig sterben lassen und ihrer Mutter damit das Herz brechen?". Der Tod in seinem schwarzen Mantel aber zuckte nur kurz mit den Schultern: "Ich kann da gar nichts machen! So ist das Leben nunmal. Es kommt, und es geht - ein ewiger Kreislauf". Und damit ergriff der schwarze Mantel des Todes erneut Besitz von seinem leidenschaftlichen Ankläger und umnachtete ihn.

Aus der Umhüllung freigelassen, sah sich der Mann nun wieder inmitten der hell erleuchteten Halle der Lebenslichter. Die Flamme auf dem Lebenslicht des Mädchens flackerte inzwischen wild hin und her, als der Mann daneben ein großes, ruhig brennendes Talglicht erblickte. Wieder schaute der emotional immer noch völlig Aufgewühlte dem Tod ins Angesicht und sprach: "Was geschieht eigentlich, wenn ich nun eines der großen Lichter hier nehme und es auf das verlöschende Lebenslicht des kleinen Mädchens aufsetze?". Die düstere Stimme des nahen Todes erwiderte: "Dann freilich wird das Mädchen so lange weiterleben, bis eines Tages das neue aufgesteckte Lebenslicht erlischt. Der Besitzer des anderen Lichts aber wird im selben Moment sein Leben verlieren". Der Mann erschrak sichtlich und dachte nach. Durfte er einfach so ein Leben beenden, um ein anderes zu retten?! Ratsuchend sah er den Gevatter zu seiner Rechten an, der aber sprach ganz unbeeindruckt: "Nun, es ist Deine Entscheidung. Aber Du mußt sie rasch treffen, denn es dauert nur noch wenige Sekunden, bis die Kleine ihren letzten Atemzug macht. Und dann kommt jede Rettung zu spät". Nervös sah der Mann abwechselnd auf das zitternde Flämmchen des kleinen Mädchens und die ruhige Flamme daneben. Es dauerte noch einige Momente, dann aber gab sich der Mann einen Ruck, ergriff das große Kerzenlicht und pflanzte es entschlossen auf das im Ausgehen begriffene Licht des kranken Kindes ...

Wie von ferne vernahm der Mann mit großer Genugtuung noch im selben Augenblick den wundervollen Freudenschrei der Mutter am Bett ihrer wie durch ein Wunder plötzlich wieder genesenen Tochter, während sein eigener Körper zeitgleich inmitten der düsteren Einsamkeit seiner Wohnung tot zu Boden sank. Das kleine Mädchen und ihre Mutter aber verbrachten noch viele schöne Jahre ihres Lebens zusammen. Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:44

Ein Hausarztbesuch, bei dem ich ausgiebig Gelegenheit hatte, meinen Mitmenschen "aufs Maul" zu schauen, hatte mich mal wieder zu einer kleinen kurzweiligen Geschichte inspiriert. Viel Vergnügen!

ARZTBESUCH IN DER PRAXIS

Im Gang zwischen der Anmeldung und dem Sprechstundenzimmer der Allgemeinmedizinerin Frau Dr. Buratino stand ein halbes Dutzend Patienten sorgsam zu einer Schlange aufgereiht. Ich war der Dritte in dieser losen Folge von mehr oder minder Wartewilligen. Meinen Eintrittspreis für dieses Event von 10 Euro hatte ich bei der etwas mürrischen Schwester am Tresen gelöhnt und die Quittung dafür in Form eines schwarzblau bedruckten Papierfetzens erhalten. Zudem hatte mich die Gute zähneknirschend und ein wenig kurz angebunden daran erinnert, daß für mich die Lebenszeit in Kürze abgelaufen sei - also eigentlich nicht meine, sondern die meiner Krankenversicherungskarte. Und nun stand ich also mit gekreuzten Beinen und vor dem Bauch verschränkten Armen da, lehnte meine Schulter gegen die kalkweiße Flurwand und studierte dabei so unauffällig wie möglich meine Leidensgenossen.

Vor mir unterhielten sich zwei Oberstufenschüler eifrig darüber, wie man wohl der Doktorin am schnellsten und reibungslosesten einen Krankenschein aus der Hüfte leiern könne. Der Dünnere der beiden Knaben schwor auf eine vorgespielte Grippe mit Husten, Schnupfen und mindestens 44,4 Grad Fieber. Der andere aber meinte nur abwinkend, diese Symptome habe er schon vor der letzten Matheklausur vorgetäuscht, und es sei jetzt mal Zeit für was Neues. Durchfall und Erbrechen wäre nicht schlecht, er müsse vorher nur noch das Blaßausschaun üben. Der Schlanke nickte eifrig und zog aus seiner Hosentasche eine zerknüllte Fotografie hervor. Dazu klopfte er seinem Kumpel freudestrahlend auf die Schulter und sprach in feinstem Hauptstadthochdeutsch: "Da hab ick wat für Dir! Det hilft bei mich imma, een Foto von meene Oma, wo ihr beim Lachen de Zähne rausfliejen und jradezu in det weitausjeschnittene Dekolte von ihre Sommerbluse rinrutschen". Besagte Momentaufnahme verfehlte ihre Wirkung nicht. Der pummlige Knabe neben den Fotoinhaber wurde auf der Stelle leichenblaß. Auch ihm drohte nun etwas aus dem Gesicht zu fallen, doch der sanfte Ruf der Ärztin "Der Nächste bitte!", welcher aus dem eben geöffneten Sprechzimmer an sein Ohr drang, bewahrte ihn und uns vor den üblen Folgen seiner allzu intensiven Lichtbildbetrachtung.

'Prima', dachte ich, 'und schon bin ich der Nächste bitte!'. So etwas sollte man im Angesicht einer Arztpraxis als zurückhaltender Kassenpatient natürlich niemals laut aussprechen. Ja, nicht einmal denken sollte man das! Zu schnell wird man sonst von der rauhen Wirklichkeit eines besseren belehrt. Und so nahm auch an diesem sonnigen Vormittag nun das Unheil seinen unaufhaltsamen Lauf.

Denn kaum hatte sich die Tür des Sprechzimmers hinter den beiden Knaben geschlossen, walzte in meinem Rücken jene leichtbekleidete Drei-Zentner-Dame, die bis dato das dicke Ende der Schlange gebildet hatte, ihren übergewichtigen Körper an ihrem Vormann vorbei. Der ältere Herr löste kurz seinen Blick von seiner mitgebrachten Zeitung und wollte wohl etwas sagen, aber die schnaufende Dampfwalze mit den XXL-Blümchenmustergewand kam ihm zuvor und fuhr ihm lauthals über den eben erst leicht geöffneten Mund: "Sach mal Opa, willste mir etwa nich vorbeilassen. Will een Jentelmänn sein und läßt ne junge Lädi nicht mal vor. Wat is bloß aus mit juten ollen Knigge jeworden? Ach, det wird überhaupt alles imma schlimma, findste nich! Und nu mach mal jefällichst Platz, sonst platz ick nämlich gleich mal! So'n oller Kerl wie Du hat schließlich jenuch Zeit zum Anstehn, wa?!".

Zack - war sie an dem armen alten Mann mit dem offenstehenden Mund vorbei und nahm nun bereits den nächsten Herrn aufs Korn, einen Jüngling mit einem Kopfhörerknopf im Ohr, welcher schon die ganze Zeit hinter mir ununterbrochen einen stampfenden Beat von sich gab. Der junge Mann zog sich den Stopfen aus der Hörmuschel, als die Überbreite - schon etwa auf gleicher Höhe mit ihm - ihren Überholversuch startete. Ich hatte mich natürlich längst umgedreht, und brauchte nach der ersten stimmgewaltigen Attacke der oppulenten Blümchenfee keine hellseherischen Fähigkeiten mehr, um zu erahnen, daß der Jüngling den Stöpsel lieber als Lärmschutz im Ohr hätte behalten sollen. Allein, es war bereits zu spät für diese Einsicht. Die blümerante Dampflok hatte ihr lautes Mundwerk schon wieder voll aufgedreht, und brüllte dem sportlich gebauten Jüngling sofort ins eben frei gewordene Ohr: "Na und Du, Männekin, wat willst Du denn jetz von mir? Stänkern, oder wat? Du Rotzlöffel hast wohl inne Schule nich uffjepaßt, wa? Erwachsne soll man nämlich höflich gegenübertretn, Platz anbieten und so! Nu tu mal nich so, als ob Du mir nich verstehn tust! Tritt lieba mal een zwee Schritt zurück, damit ick meen formschönet Fahrjestell vor Dich einparken kann". Der junge Mann war viel zu überrumpelt von der Fülle und dem forschen Auftreten der Rubensdame, als daß er es wagte, zu protestieren.

Zack - auch diese Hürde hatte die recht stabile Mittvierzigerin genommen. Alles, was ihr nun noch im Wege stand bei ihrem Vordingen auf die Poolposition der Warteschlange, das war ich! Ich machte mich bereits auf eine erneute Brüllattacke ihrerseits gefaßt und stopfte mir daher rasch beide Zeigefinger tief in die Ohren, doch das sollte sich in der Folge rasch als großer Fehler erweisen. Schließlich waren mir jetzt zum einen quasi die Hände gebunden, und zum anderen schien die 100-Kilo-Frau bei mir plötzlich ihre bisher so erfolgreiche Taktik des Shock&Go zu ändern. Breit grinsend schaute sie mich an und klimperte dabei auffällig mit den Wimpern. Dann formte ihr Mund irgendetwas Leisegesprochenes. Hören konnte ich das Gesagte dank meiner schallisolierten Gehörgänge zwar nicht, aber was ich da mehr oder weniger buchstäblich von ihren Lippen ablesen konnte, jagte mir augenblicklich einen Schauer kaltnassen Schweißes über den gesamten Rücken. Das buntgekleidete Nilpferdweibchen flüsterte doch tatsächlich so etwas wie: "Na, Du Schnuckelchen, Du?! Du läßt mir doch bestimmt den Vortritt, oder? Und weil Du es bist, kriechste och een extra dicken Schmatzer von mir uffjedrückt. Komm an meene breite Brust, Du Zuckerstückchen, Du!". Ich sah ihren breiten Knutschmund immer weiter auf mich zukommen, dann versank die Welt um mich plötzlich im Dunkeln, und es duftete mit einem Male unangehm intensiv nach Veilchen. 'Du meine liebe Güte', schoß es mir durch den nun aromaversiegelten Kopf, 'jetzt hat sie mich inmitten ihres üppigen, parfümüberfluteten Vorbaus eingeklemmt. Ich bin begraben, lebendig begraben'. Panik erfaßte mich, denn ich fürchtete, im Schwitzkasten ihrer Weiblichkeit jammervoll zu ersticken. Ich begann zu strampeln, unaufhörlich und wild zu strampeln. Irgendwann löste das Vollweib seine massive Umklammerung. 'Heureka, das Leben hat mich wieder!', dachte ich noch, doch dann schwanden mir erneut die Sinne.

Als ich schließlich aus meiner temporären Ohnmacht wiedererwachte, saß ich am Fuße des Empfangstresens. Vor mir wedelte mir die - immer noch sichtlich mißgelaunte - Sprechstundenschwester mit ihrem, mit eingetrockneten Popeln reichlich besetzten Stofftaschentuch gelangweilt Frischluft zu und meinte schließlich: "Na, da isser ja wieder?! Denn können Se sich ja jetz wieder janz hinten anstellen in die Schlange! Schönen Tach noch!". Vorsichtig erhob ich mich und schritt wackligen Fußes zum Ende der inzwischen sogar noch etwas länger gewordenen Menschenkette. Vorn aber an ihrem anderen Ende öffnete sich im selben Augenblick die Tür zum Sprechzimmer und heraus stampfte jene mir so unverhofft nähergekommene, liebeshungrige Blümchentonne in Menschengestalt, mir im Vorbeiwalzen eine laszive Kußhand zuwerfend.
Vom Sprechzimmer her aber tönte einmal mehr die sanfte Stimme meiner Ärztin: "Der Nächste bitte!". Ja, das dürfte dann jetzt wohl der Jüngling mit dem Hang zur wummernden Technobeschallung sein. Ich aber selbst war an diesem wundervollen Vormittag noch für längere Zeit keineswegs "Der Nächste bitte!" ...

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Angel (23. September 2012, 10:36), Claudia (20. August 2012, 18:19)

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:48

An dieser Stelle nun ein Märchen von einem kleinen Mädchen, das nicht ganz zufällig den Namen meiner Tochter trägt, sowie seiner Mama und seinem Papa - der mir übrigens schon ein wenig ähnlich schaut - und von einem schrecklich lauten Monster. Aber keine Sorge - wie in den meisten Märchen gibt es auch hier ein Happy End ... im realen Leben soll es das ja dann doch nicht so häufig geben, hab ich mir sagen lassen :huh:

Laura & das Sch-Monster

Es war einmal ein kleines Mädchen, das hieß Laura. Es wohnte mit seinen 3 Jahren bei seiner Mami und seinem Papi in einer kleinen Wohnung in einem kleinen Städtchen. Die kleine Laura war ein liebes, aufgewecktes Kind, das beiden Eltern viel Freude bereitete. Nur vor einem hatte Laura Angst. Es war das dickbäuchige giftgrüne Sch-Monster, das sich die meiste Zeit über still und unheimlich in der Ecke hinter dem Kleiderschrank im Zimmer ihres älteren Bruders Iwan versteckt hielt. Nur alle 2 bis 3 Tage holte es ihre Mama dort hervor und legte es im Wohnzimmer auf den Teppichboden. Sie zog ihm dann den dürren Schwanz lang und steckte das Ende in einen kleinen Kasten an der Wand, den die Erwachsenen Steckdose nannten. Dann streichelte sie kurz mit ihrem Finger über eine kleine Erhebung auf dem Rücken des grünen Monsters. Kaum aber hatte sie dies getan, da begann das Monster mit einem lauten Sch-Laut sein ohrenbetäubendes Gebrüll, wozu es durch seinen langen schlauchförmigen Rüssel mit dem Rohrhals und der gefährlich breiten Plastikschnute die Luft in seiner Umgebung geräuschvoll aufsaugte. Lauras Mama pflegte das Untier dabei am oberen Ende des Halses zu packen und es durch das ganze Zimmer zu schleifen, seine Schnute immer dicht an den Boden gepreßt. Die Monsterschnauze aber fraß auf dem Boden alles, was ihm in den Weg kam - Schmutz, Stoffäden und Papierschnipsel. Ja, wenn man nicht aufpaßte, dann verschluckte es sogar kleine Spielzeuge, die das kleine Mädchen auf dem Teppich liegengelassen hatte. Und wer weiß, was es erst mit der kleinen Laura angestellt hätte?! Vermutlich hätte sie das böse Monster dann auch mit Haut und Haar verschlungen und in seinen finsteren Bauch eingesperrt. Doch das kluge Kind war stets auf der Hut und nahm vor dem schnaufenden Untier rasch reißaus, sobald es die gefräßige Schnute auf sich zukommen sah.

Eines Tages - es war schon Winter und der erste Schnee fiel - war Lauras Papa spurlos verschwunden. Im elterlichen Schlafzimmer hatte das kleine Mädchen vormittags laute Geräusche aus dem Wohnzimmer vernommen, fast so laut, als ob das Sch-Monster dort sein Unwesen trieb. Allerdings schien es diesmal seine Stimme verstellt zu haben. Mal ahmte des die tiefe Stimme ihres Papas nach, dann wieder die deutlich höhere ihrer Mama. Neugierig, aber auch ein wenig ängstlich, öffnete die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt breit. Doch das böse grüne Monster war nicht zu sehen. Nur ihre Eltern standen sich mit verschränkten Armen gegenüber, und Papa hatte einen großen Koffer und eine kleine Plastiktüte in der Hand. Wozu brauchte er denn den großen Koffer, den Mama und Papa doch sonst nur zum Verreisen hervorholten?! Das kleine Mädchen lief auf seinen Papa zu und schaute ihn mit großen Augen an. "Papi, was machst Du da?", fragte sie schließlich und hatte dabei ein ganz eigenartiges, mulmiges Gefühl. Der Papa aber beugte sich zu ihr herunter und sprach bedrückt: "Ich muß jetzt gehen, mein Schatz! Auf Wiedersehen! Papi hat Dich lieb!". Dazu drückte er seinem geliebten Mädchen mit seinem pieksenden Schnurrbart einen sanften Kuß auf die Stirn und verschwand im Hausflur, die Tür hinter sich ins Schloß fallen lassend. Laura verstand das nicht. Warum mußte Papa denn jetzt gehen, und wohin wollte er?! Zur Arbeit oder zum Einkaufen vielleicht?! Aber warum war die Mama dann auf einmal so traurig, jetzt wo er weg war - und das, obwohl sie noch vorher mit ihm ganz doll geschimpft hatte?! Jetzt jedenfalls saß sie mit gesenktem Kopf schluchzend auf der Lehne der Wohnzimmercouch und streichelte ihrer herbeigeeilten Tochter immer wieder über das blondhaarige Kindsköpfchen.

Die Tage vergingen, ebenso das alte Jahr, aber Lauras Papa blieb verschwunden. Irgendwann kam dem kleinen Mädchen ein schrecklicher Verdacht. Vielleicht hatte Papa ja beim Nachhausekommen nicht aufgepaßt, und das böse Sch-Monster hatte ihn schon an der Wohnungstür verschluckt. Vorsichtig stiefelte Laura ins Zimmer ihres Bruders. Iwan war nicht zuhause, und so konnte sie sich weiter vorwagen. Sie lugte hinter den Schrank. Tatsächlich, da war das Monster. Unheimlich sah es aus, selbst wenn es nur einfach so ruhig da lag. Und sein häßlicher grüner Bauch schien dem kleinen Mädchen, dessen Herz wild zu schlagen begann, heute noch viel dicker. Bestimmt war da ihr Papa drin. Mutig und entschlossen wagte sich das kleine Mädchen noch ein paar Schritte weiter heran. Irgendwann berührte die Spitze ihres ausgestreckten Fingers sogar die gräßliche Monsterschnute. Die aber rutschte ihr im selben Moment auf dem Teppich entgegen, wobei das Untier ihr seinen Rohrhals laut zu Boden polternd entgegenschob. Da packte die erschrockene Laura panische Angst. Sie drehte um und rannte aus dem Zimmer zurück in die sicherere Wohnstube, wo sie sich sogleich hinter der Couch versteckte. Ganz mucksmäuschenstill wartete sie dort zusammengekauert und zitternd, bis ihre Mama aus der Küche kam, um nach ihr zu schauen. Lauras Mama nahm ihr Töchterchen liebevoll in den Arm und fragte es, warum es denn solche Angst habe. Laura aber zeigte ängstlich in Richtung der Zimmertür ihres Bruders. Die Mama folgte dem Fingerzeig und kehrte kurze Zeit später kopfschüttelnd zurück, wobei sie beruhigend sprach: "Aber mein Schatz, das ist doch nur der Staubsauger! Vor dem mußt Du doch keine Angst haben!". Laura aber bebte immer noch am ganzen Körper und schluchzte: "Und was ist mit Papa?". Da begann auch Lauras Mama am ganzen Körper zu zittern und wurde mit einem Mal sehr traurig. Das kleine Mädchen, das sogleich tröstend ihr Köpfchen an das der Mutter legte, aber flüsterte: "Nicht weinen, Mama! Der Papa kommt schon wieder! Ich hol ihn ja wieder zu uns zurück, ja?!". Lauras Mama nickte nur stumm. Dann aber schossen ihr nur noch mehr Tränen in die Augen, und sie weinte einmal mehr den ganzen Nachmittag und Abend.

Wieder vergingen die Tage, der Frühling kam und ging. Schließlich kündigten sich schon die ersten warmen Sommertage an. Viele Stunden hatten Laura und ihre Mama in der ganzen Zeit gemeinsam verbracht. Aus dem kleinen Mädchen wurde ein immer größeres. Hin und wieder traute sich ihre Mama jetzt sogar schon, das Kind für ein paar Minuten allein in der Wohnung zu lassen, wenn sie rasch den Müll herunterbringen mußte oder etwas aus dem Keller holte. So auch an diesem Juniabend. Laura aber nutzte die kurze Abwesenheit ihrer Mama diesmal nicht zum Weiterspielen mit ihren Puppen, wie sie es sonst meist tat. Nein, heute hatte sie sich etwas ganz anderes vorgenommen. Seit dem unheimlichen Zusammenstoß mit dem Sch-Monster hatte es sich Laura schon einige Male vorgenommen, dem Untier wieder zu Leibe zu rücken und ihren geliebten Papa aus dem dicken Bauch zu befreien. Aber am Ende hatte sie jedesmal einfach zuviel Angst gehabt, um sich näher an das schlafende Monster heranzuwagen. Diesmal sollte das anders sein, denn heute war sie bewaffnet. Sie hielt in ihrer kleinen Hand eine hölzerne Flöte, die ihr ihre Mama vor ein paar Wochen geschenkt hatte. Und so wagte sie sich noch einmal in das leere Zimmer ihres Bruders, wo sie für einen Augenblick hinter dem Schrank in Deckung ging. Dann tat sie einen kühnen Sprung, und landete breitbeinig vor dem Ungeheuer. Die Flöte aber erhob sie drohend in Richtung Zimmerdecke und brüllte das Monster an: "Gib sofort meinen Papa wieder her! Oder ich hau Dir solang mit der Tut-Tut auf Deinen ollen dicken Bauch, bis Du ihn wieder ausspuckst!". Dabei kniff sie die Augen zu und schlug mit der Flöte in der Hand wieder und wieder in Richtung des dicken grünen Monsterbauchs. Erst als ihr ihre inzwischen zurückgekehrte Mama die Flöte aus der Hand nahm, öffnete das kleine Mädchen seine Äuglein wieder, die sich sogleich mit dicken Kullertränchen füllten. Laura begann, sich die Augen zu reiben und schluchzte: "Aber Mama, was tust Du denn da?! Ich wollte doch nur den Papa wieder zurückholen!". Auch Lauras Mama lief nun eine einsame Träne die Wange herab. Sie half ihrer Tochter auf und faßte sie am Händchen. Und leise flüsternd sprach sie zu dem weinenden Kind: "Ach Laura, da hab ich aber jetzt vielleicht eine ganz große, tolle Überraschung für Dich. Die hab ich nämlich gerade eben unten vor der Haustür entdeckt. Und jetzt wartet sie schon vor der Wohnungstür auf Dich!". Laura hörte schlagartig zu weinen auf und schaute ihre Mama mit weit aufgerissenen, fragenden Augen an. Sie lief aufgeregt zur nur angelehnten Wohnungstür und riß sie weit auf. Da stand ein großer Mann mit einem kleinen Schnurrbärtchen und einem großen Koffer in der Hand. Und wie sie ihn sich ganz genau von oben bis unten betrachtete, erkannte sie ihn plötzlich. Ihre Mama aber beugte sich zu ihr herab und fragte lächelnd: "Na Laura, weißt Du noch, wer das ist?". Laura nickte eifrig und erwiderte überglücklich: "Ja, das ist mein Papi!". Und der große Mann, dessen Augen in diesem Augenblick zu strahlen begannen, schloß das kleine Mädchen ganz fest in seine Arme. Mein Gott, wie groß sie doch inzwischen geworden war und wie sehr sie ihm doch gefehlt hatte. Während er sie so minutenlang - erfüllt von unendlicher Wiedersehensfreude - umarmt hielt, gab er sich und ihr im Stillen das feste Versprechen, sein kleines Mädchen nie wieder in seinem Leben so lange allein zu lassen, wie er es in den vergangenen 6 Monaten getan hatte ...
Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:49

VORWORT: Die Handlung und die Hauptperson in meiner Kurzgeschichte sind frei erfunden. Und dennoch könnte sich alles genau so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen haben.

SCHULDFRAGE

Mein Name ist Robbes, Pierre Robbes. Und ich bin Franzose. Bonjour mes amis! Allerdings bin ich mir gar nicht sicher, ob Sie mich überhaupt noch zum Freund haben wollen, wenn ich Ihnen erst einmal meine Geschichte erzählt habe. Ich bin nämlich in gewisser Weise nicht ganz unschuldig am Tod von Menschen, am gewaltsamen Tod von mehr als 50 Millionen Menschen. Wie ich auf diese ungeheurliche Zahl komme? Nun, es ist die Zahl derjenigen, die im zweiten Weltkrieg zu Tode gekommen sind. Im Grunde genommen muß ich an sich sogar noch die etwa 13 Millionen Opfer des nationalsozialistischen Regimes in den sogenannten Friedenszeiten des Dritten Reiches dazurechnen. 63 Millionen Menschenleben habe ich demzufolge also mit auf dem Gewissen. Und alles nur, weil ich einst im entscheidenden Moment eine Sekunde zu lang gezögert habe. Aber vielleicht sollte ich zum besseren Verständnis meine ganze schicksalhafte Geschichte von Anfang an erzählen ...

Es war am 3. Oktober anno 1916. Ich lag als gerade erst fertig ausgebildeter 18jähriger Scharfschütze in meinem Schützengraben am Ufer des französischen Flusses Somme mittags gegen 12 Uhr in Stellung und beobachtete die Front. Nur hin und wieder ragte eine vereinzelte wilhelminische Pickelhaube über den Rand der deutschen Stellungen hinaus, ansonsten herrschte schon seit Stunden eine geradezu gespenstische Stille. Die vielbeschworene Ruhe vor dem Sturm sozusagen. Die linke Hand hatte ich die ganze Zeit am Abzug meines französischen Präzisionsgewehrs, während ich mit der rechten die Hühnerbullion aus meinem Feldgeschirr verspeiste. Da bemerkte ich beim flüchtigen Blick durch das Visier meines Gewehrs einen jungen deutschen Gefreiten, allem Anschein nach ein Meldegänger des Gegners, der eiligen Schrittes von einem Schützengraben zum nächsten hechtete. Ich konnte in den kurzen Pausen, die er bei seinen Sprüngen einlegte, sein Gesicht recht genau erkennen. Es war ein schmales, ganz unauffälliges Gesicht, aus dem lediglich der akurat gestutzte Schnurrbart ein wenig hervorstieß. Ich legte meine blecherne Suppenterine eilig zur Seite und legte mit allen zehn Fingern Hand an mein Gewehr. Mein linkes Auge kniff ich zu, mit dem rechten aber holte ich mir durch das gefühlvolle Bewegen meiner mir anvertrauten Waffe den ungeschützten Kopf des sprunghaften Fritzen ins Fadenkreuz. Dann hatte ich ihn, konnte abdrücken und ihm - dem Feind - das Lebenslicht für immer ausblasen. Da kauerte er nun, einen Moment verschnaufend, auf dem vom Kampf vielfach zerpflügten Erdboden und verpustete. Nichts ahnte er von der Bedrohung seines Lebens, die ich mit meinem Schießprügel für ihn darstellte - nur gut 120 Meter von ihm entfernt. Irgendwie erinnerte er mich in diesem Moment an meinen älteren Bruder Francois, der kurz vor Kriegsausbruch in unserem Dorf einen Brunnen gestürzt und ertrunken war. Meine sonst so ruhigen Hände begannen zu zittern. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn und verschleierte im Herabrinnen meinen Blick. Ich mußte die rechte Hand kurz von der Waffe nehmen, um mir mit meinem schmutzigen Taschentuch über die feuchtgewordenen Augen zu wischen. Noch einmal gelang es mir, den Deutschen anzuvisieren, aber als ich gerade abdrücken wollte, da hopste er wie ein aufgescheuchter Feldhase ins nächstbeste Loch, wo er innerhalb von Sekundenbruchteilen abtauchte und verschwand.

Nach dem Krieg hatte ich die kurze Episode aus dem langen, leidvollen Krieg schon fast wieder vergessen. Mir selbst waren schließlich in den letzten Kriegstagen des ersten Weltkriegs noch im wahrsten Sinne des Wortes Hören und Sehen vergangen. Die Explosion einer feindlichen Granate ein paar Meter von mir entfernt hatte mir in beiden Ohren das Trommelfell platzen lassen. Bei einem Senfgaseinsatz zwei Tage später büßte ich kurzzeitig meine komplette Sehkraft ein. Das Augenlicht kam mit dem Kriegsende zurück, die Taubheit aber blieb. Nie hätte ich da auch nur im Traum daran gedacht, den hüpfenden Meldefritzen noch einmal im Leben wiederzusehen. Umso mehr erschrak ich, als ich ihn dann Anfang 1933 auf dem Titelblatt vom "Le Petit Parisien" an einem Zeitungskiosk wiederentdeckte. Dieser Mann, den ich vor mehr als 16 Jahren im Visier gehabt hatte, sollte als Führer der Nationalsozialisten nun der neue Reichskanzler des Deutschen Reiches sein.

Von da an hab ich sein Treiben aus sicherer Entfernung genaustens verfolgt. Wie er Bücher und den Reichtstag in Brand steckte, wie er die ersten Konzentrationslager errichtete, wie er mit seinen ewigen Friedensbekundungen und dem Olympischen Feuer die Nachbarvölker blendete und wie er gleichzeitig seine Finger längst gierig nach fremden Ländereien auszustrecken begann. Dann kam er mir mit seinem sich ausdehnenden Reich langsam näher und näher - über das Saarland und das Ruhrgebiet, Österreich und die Tschechoslowakei. Im September 1939 fingierte er einen polnischen Angriff auf einen seiner Reichssender und löste dann in einem Anflug von exellent gespielter Entrüstung den "Vergeltungsschlag" gegen Polen aus. Bevor er nach dem vernichtenden Blitzsieg über die - gegenüber der Wehrmacht - geradezu kläglich bewaffneten Polen seinen Ostfeldzug weiter fortsetzte, schlug Hitler jedoch erst noch die entgegengesetzte Richtung ein und steuerte damit in Form seiner neueröffneten Westfront zum zweiten Mal in seinem Leben im Eiltempo über die Beneluxstaaten auf meine Heimat zu. Was ihm beim ersten Mal nicht gelungen war, das schaffte er jetzt - als selbstgefälliger Sieger zog er ins besiegte Paris ein. Als eine schmachvolle Demütigung sondersgleichen empfanden wir Franzosen dabei besonders seine Siegesparade durch die Straßen unserer geliebten Hauptstadt.

Da ich aufgrund meiner Taubheit in diesem Krieg selbst nicht mehr hatte kämpfen können, hielt ich mich seit dem Überfall auf meine Heimat nahe Verdun in einem Unterschlupf bei Freunden der Resistance versteckt.

Der Krieg aber ging weiter. Hitlers Größenwahnsinn wurde dabei immer grenzenloser. Mit seinem russischen Spiegelbild Stalin hatte er zunächst insgeheim noch über den gegenseitigen Nichtangriff paktiert. Nun aber überfiel Hitler, für den so ein Pakt rein gar nichts bedeutete, auch das gigantisch anmutende, gleich in mehrfacher Hinsicht unberechenbare Sowjetrußland. Die schnellen Siege in ganz Europa hatten Hitler geblendet. Er glaubte, bei der Planung seines Rußlandfeldzugs alles mit einberechnet zu haben. Nur mit Väterchen Frost und dessen verfrühtem Eingreifen ins östliche Kriegsgeschehen hatte er ganz und gar nicht gerechnet. Ebensowenig wie die von ihm ausgeschickten Truppen. Der deutsche Vormarsch erstarrte in Schnee und Eis. Für die Soldaten des Führers hieß die neue Marschrichtung plötzlich wieder Westen. Dafür marschierten die Soldaten an der Westfront jetzt gen Osten - angetrieben durch den Vorstoß der jetzt endlich doch in den Krieg eingreifenden Briten und Amerikaner. Und der Krieg kehrte schlußendlich immer schneller wieder dahin zurück, woher er gekommen war - heim ins Reich. Erst als er schließlich vor den Toren Berlins angekommen war, befreite uns Hitler von seiner mehr als unerträglichen Gesellschaft - indem er sich höchstpersönlich eine Kugel durch den kranken Kopf jagte.

Der Mai war gekommen - und mit den ausschlagenden Bäumen auch der langsam erblühende Frieden. Ich kroch wieder aus meinem Versteck und wollte die wiedergekehrte Sonne und das neu gewonnene Leben in vollen Zügen genießen. Aber dann zogen plötzlich dunkle Wolken in mir auf. Düstere Gedanken schwirrten mir durch den Kopf, quälten und folterten mehr und mehr mein taubes Hirn. Immer wieder hämmerte es dumpf in meinem Schädel: Was wäre, wenn ...???

Und so frage ich mich seitdem jede Minute meines einfach nicht enden wollenden Lebens: Was wäre, wenn ich damals im Graben an der Somme, als ich diesen deutschen Meldegänger namens Adolf Hitler im Visier hatte, nicht gezögert, sondern einfach abgedrückt hätte?! Wäre uns ohne Hitler nicht vielleicht der ganze Nationalsozialismus mit all seinen Greultaten erspart geblieben?! Wäre es überhaupt zu einem zweiten Weltkrieg mit über 50 Millionen Toten gekommen?! Oder hätte es dann etwa eine kommunistisches deutsche Weltrepublik unter der sowjetrussischen Regie Stalins gegeben, von der womöglich ihrerseits Völkermord und ein neuer Weltkrieg ausgegangen wären?!

Die Frage aber, die mich bei all den Fragen in meinem Kopf am allermeisten quält, ist die der Schuld! Trage ich durch mein Handeln bzw. Nichthandeln Schuld oder Mitschuld an den Verbrechen des Hitler-Regimes? Hätte ich ganz allein all das Grauen verhindern können? Die Schuldfrage - sie ist es, die mich seitdem nicht mehr losläßt. Sie hat mir das ruhige In-Frieden-Sterben bisher unmöglich gemacht. Sie macht mir Tag für Tag das Leben zur Hölle.

Was ist denn Schuld? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Wer trägt sie, wer kann sich von ihr freisprechen? Genügt es, daß man nicht der Einzige war, der Hitler nach dem Leben getrachtet und dabei versagt hat? Reicht es, einfach schon vor Hitlers Geburt gestorben oder erst nach seinem Tod geboren zu sein? Ist man schon als Mitläufer schuldig oder erst als aktiver Nazi? Ist man gar automatisch schuldig, nur weil man Deutscher ist? Ist man dann automatisch unschuldig, wenn man Russe, Engländer, Amerikaner oder Franzose ist? Wiegen die Verbrechen Hitlers gegen die Menschlichkeit bei der Frage nach der Schuld schwerer als jene unter Stalin, Franco und Mussolini - oder die der Ulbrichts, Honeckers, Ceaucescus, Milosevics, Saddams und Bin Ladens und wie sie alle heißen, welche dem Beispiel von Stalin und Hitler nachfolgten?

Heute, im Jahre 2010, bin ich - Pierre Robbes - 112 Jahre alt. Meine Knochen sind morsch, meine Muskeln erschlafft, meine Haut ist faltig und ledern, meine zittrigen Hände und geschwollenen Füße schlafen mir immer wieder abwechselnd ein. Nur mein verwirrter Verstand ist stets hellwach und bombardiert mich unaufhörlich mit solchen Fragen, auf die ich selbst als weiser alter Mann keine erschöpfende, geschweige denn zufriedenstellende Antwort finde. Vielleicht stell ich mir aber auch einfach nur zuviele unnütze Fragen. Vielleicht genügt es, man selbst zu sein. Stolz auf das an sich und seiner Heimat zu sein, auf das man getrost stolz sein kann. Das aber, was man an Schuld als Mensch oder als Volk in seiner Vergangenheit auf sich geladen hat, sollte man in der Erinnerung verwahren, ohne sich selbst oder sein Leben von jener Last erdrücken zu lassen. Denn dann und nur dann kann man in Frieden leben und auch in Frieden sterben!

Pierre Robbes schlief noch am selben Tag, an dem er seine Geschichte zu Papier gebracht hatte, ganz friedlich ein. Ihm und uns allen ist diese, seine Geschichte gewidmet!

[ENDE]

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Angel (23. September 2012, 10:35)

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:52

Und hier kommt auch schon die nächste, eine Art traumhaft-tragische Liebesgeschichte, wie sie das Leben jeden Tag unzählige Male schreibt. Entstanden ist sie einmal mehr aus einem meiner Träume heraus, zu dem sich ein paar ganz eigene Gedanken zum Thema "Kopfkino" mischten. Ich wünsche, auch dieses Mal wieder, Gute Unterhaltung!

Hinweis: Die folgende Geschichte ist für Leser und Leserinnnen unter 16 Jahren möglicherweise nicht geeignet.

[FSK 16] FEURIGE LEIDENSCHAFT

EPILOG:

Ganz behutsam preßte er ihren schlanken, festen Körper auf seinen Ständer. Dabei stellte es sich als großer Vorteil heraus, daß er sie zuvor nach allen Regeln der Kunst heißgemacht und angespitzt hatte, denn so ging das Verschmelzen der zwei miteinander völlig problemlos vonstatten. Ganz deutlich spürte er, daß sie Wachs war in seinen Händen und alles an ihr nur noch darauf zu warten schien, daß er bei ihr endlich wieder einmal das Feuer entfachen würde - so, wie er es zuletzt am gestrigen Abend getan hatte ...

ERSTER UND LETZTER AKT:

"Also gut, dann spielen wir eben mal wieder ein wenig mit dem Feuer!", dachte Vincenzo, nahm ein neben dem Herd bereitliegendes Feuerzeug zur Hand und entzündete damit den Docht der - soeben auf dem Küchentisch aufgestellten - Kerze. In dem sich daraus ergebenden schummrigen Licht, welches den kleinen Raum der Küche erfüllte, konnte man den schmalen Tisch erkennen, an dem sich an zwei seiner vier Kanten zwei Stühle gegenüberstanden, von denen allerdings einer unbesetzt blieb. Seufzend starrte Vincenzo auf den leeren Platz. Dort hatte noch bis vor wenigen Wochen Abend für Abend bei Kerzenschein seine Lucia gesessen und ihm immer wieder verliebt zugezwinkert, während sie sich all die Köstlichkeiten auf ihrer Zunge zergehen ließ, die er in kochender Leidenschaft für sie zubereitete. Und er - er hatte dann einfach nur dagesessen und ihr verliebt ins engelsgleiche Antlitz geschaut, während sie ihm wortreich von ihrem anstrengenden Arbeitsalltag erzählte. Irgendwann hatte sie dabei den Kopf leicht zurückgelegt, während einer ihrer schlanken, von der drückenden Enge ihrer Pumps befreiten, zart seidenumhüllten, müdegelaufenen Füße auf sein Knie gewandert war und dort - ohne daß auch nur ein Wort von ihr nötig gewesen wäre - von seinen geschickten, warmen Händen sogleich eine herrlich entspannende Fußmassage empfing.

Nicht selten war dabei seine Hand im Verlauf der Massage ein wenig höhergewandert. Und irgendwann, während sich ihr ruhiges Atmen unter seinen sanften Berührungen schon ein wenig beschleunigte, beugte sich Lucia dann stets mit ihrem Oberkörper nach vorn über den Tisch und spitzte dabei ihre roten Lippen. Der tiefe Ausblick, den ihm dabei ihr weites Dekolte bot, ließ auch seinen Atem rasch schneller werden, während sie mit einem einzigen kräftigen Ausatmen der Kerze das Licht ausbließ. Im Dunkeln spürte er dann, wie ihre zitternde Hand sanft die seine, nicht minder bewegte umschloß und ihn schnellen Fußes ins nebenan gelegene kominierte Wohn-Schlaf-Zimmer seiner Ein-Zimmer-Behausung entführte, um dort unter der warmen Bettdecke den Rest des angebrochenen Abends und die darauffolgende Nacht miteinander, über- und untereinander und schließlich ganz dicht aneinander gekuschelt zu verbringen.

Ja, so war es gewesen - Tag für Tag und Nacht für Nacht. Bis zu jenem Abend, da ihr bezauberndes Gesicht beim späten Nachhausekommen von einem wichtigen Geschäftstermin das so geliebte Lächeln vermissen ließ und ihr süßer Mund seinem aufnahmebereiten Ohr schon im Flur zurief: "Du, ich glaube, wir müssen reden!". Der Klang, der dabei in ihrer Stimme mitschwang, verhieß nichts Gutes. Doch das, was sie ihm dann aus sicherer Distanz verkündete, übertraf selbst seine schlimmsten Befürchtungen noch um Längen. Den Blick starr an seinem, zur Salzsäule erstarrten Körper vorbei gerichtet, erklärte sie kühl: "Was soll ich sagen, es ist nunmal passiert. Lance, mein Chef, hat mich nach dem geglückten Vertragsabschluß noch auf einen Sekt in die Privatgemächer seiner Villa eingeladen, wo er von seiner Dienerschaft an der Tafel seines Salons ein umfangreiches Fünf-Gänge-Menü für uns zwei auffahren ließ. Dazu gab es einen ganz erlesenen Wein vom kalifornischen Gut seiner Großmutter Angela. Naja, und den Rest des Abends haben wir dann in seinem Kaminzimmer auf dem flauschigen Fell eines selbstgeschossenen Eisbären verbracht. Das prasselnde Feuer und der Schampus, den er uns immer wieder nachschenkte, sorgten dafür, daß uns immer heißer und heißer wurde. Und so ließen wir rasch alle Hemmungen fallen. Er berührte mich, erst scheinbar zufällig, dann gewollt. Und ich, ich ließ es zu - und neben den Hemmungen nach und nach auch alle Hüllen fallen ... Kurzum, ich hab mich in Lance verliebt und er sich in mich, und wir haben ganz spontan beschlossen, daß ich zu ihm ziehe, heute noch. Zu Dir bin ich eigentlich nur noch einmal gekommen, um Dir das zu sagen. Leb wohl!". Sprachs, drehte sich um und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen.

Vincenzo aber blieb noch eine kleine Ewigkeit wie angewurzelt im Flur stehen, dann senkte er traurig sein - unter der Last des Gehörten - schwergewordenes Haupt und schlurfte ins Wohnzimmer, wo er sich kraftlos rücklings auf sein Bett fallen ließ und losheulte wie ein Schloßhund. Wie um alles in der Welt konnte sie ihm das nur antun? Noch dazu mit einem Mann, der vom Alter her ihr Vater sein könnte? Er vermochte es einfach nicht zu glauben, und schon gar nicht zu verstehen. Für diesen Mann, der - nach allem, was er von ihm gehört hatte - schon zum sechsten Mal in Scheidung lebte, war sie doch nur ein Spielzeug, eine weitere Trophäe, deren Bild er sich - wenn er ihrer überdrüssig geworden war - in Öl gemalt in seinem Kaminzimmer an die Wand hängen ließ. Heiße Tränen schossen aus Vincenzos Augen heraus, rannen ihm die Wangen herunter und versickerten letztlich allesamt im Stoffbezug seines Kopfkissens, das ihn in dieser wie auch in den kommenden Nächten nicht eine einzige Sekunde schlafen sah ...

Der nächtliche Schlaf war trotz allem irgendwann zu Vincenzo zurückgekehrt, Lucia nicht. Er aber saß seitdem, als könne er sie mit jenem Ritual doch irgendwie zu sich zurückholen, Abend für Abend im Schein der Kerze einsam und verlassen vor seinem für zwei Personen gedeckten Tisch. Seine kochende Leidenschaft hatte er gänzlich verloren, und so gab es bei ihm nur noch billigen Rotwein aus dem Supermarkt und aufgewärmte Fertiggerichte aus der Tiefkühltruhe. Meist handelte es sich dabei um irgendeine Variation von Pasta mit Soße. Nur hin und wieder überkam ihn die fleischliche Lust, und er gönnte sich eine Dose Ravioli. So auch heute. Er hatte inzwischen einmal mehr zur aufgeschraubten Weinflasche gegriffen und einen weiteren Teil ihres süffigen Inhalts in sein Weinglas gegossen. Nun aber wiegte er es mit leichtem Griff langsam im Kerzenlicht hin und her und malte sich dabei aus, es sei ein äußerst exquisiter Chatteau, der auf diese Art und Weise rot und vollmundig sein herrliches Aroma verbreitete, so wie seine Lucia es mit ihren vollen, roten Lippen früher vor seiner sensiblen Nase ausgebreitet hatte, wenn sich der verführerische Duft ihres Parfüms mit der Erregtheit ihrer schweißbenetzten Haut unter seiner Bettdecke im ungezügelten Zusammenspiel ihrer beiden Körper vereinigt hatte.

Vincenzo schloß verzückt seine Augen, um die Erinnerung an diesen aufregenden Duft in vollen Zügen auskosten zu können. Vor seinem geistigen Auge erschien dabei zum Greifen nah ihre zauberhafte Gestalt, die ihm verführerisch lächelnd zuzwinkerte. Das Verlangen, das dabei tief in ihm aufkam, steigerte sich rasch ins Unermeßliche. Schließlich vergaß er die traurige Einsamkeit, die ihn umgab, und ließ es zu, daß die ihn bedrückende innerliche Leere mehr und mehr von den Bildern seines Kopfkinos ausgefüllt wurde. Er ließ die Augen fest geschlossen, während er entschlossen von seinem Platz hochschnellte. Dabei bemerkte er nicht einmal, daß er im Aufstehen mit dem Knie gegen den Küchentisch stieß, auf dem die Kerze samt Ständer ins Wanken geriet und schließlich umstürzte, wobei die nicht gleich verlöschende Flamme sogleich auf das Tischtuch übergriff. Vincenzo aber ergriff in Gedanken das zarte Händchen seines Lucia-Traumbilds und zog es mit sich ins Wohnzimmer. Dort angelangt schloß er, wie er es abends vorm Zubettgehen immer zu tun pflegte, die Tür zur Küche. Dann entledigte er sich mit immer noch eisern zusammengekniffenen Augen seiner Kleider und beobachte dabei gedanklich seine Lucia, die es ihm gleichtat. Er lockte ihre nackte Traumgestalt mit unter seine eilig aufgeschlagene Bettdecke, während in seinem CD-Spieler schon zum hundertsten Mal Richard Sanderson leise flüsternd sein "Dreams Are My Reality" anstimmte. Vincenzo aber erreichte der Hintergrundgesang gar nicht mehr, zu sehr war er schon im Schutze seines weichen, warmen Deckbetts mit dem phantasievollen Liebesspiel mit seiner Traumfrau beschäftigt.

Auch die recht überstürzt verlassene Küche war inzwischen von einer flammenden Leidenschaft erfaßt worden. Hungrig nach mehr breitete sich das Feuer rasch aus. Wild züngelnd eroberte es Quadratzentimeter um Quadratzentimeter des Objekts seiner heißen Begierde. Unter seinen feurigen Übergriffen knisterte es an allen Ecken und Enden. Schließlich brannte es lichterloh und strebte binnen weniger Minuten voller Inbrunst dem unvermeidlichen Höhepunkt entgegen, bei dessen Erreichen es sich ein letztes Mal verzweifelt aufbäumte und dann nach einer Art gewaltiger Explosion ganz ruhig ausbrannte. Die Puste ging dem feurigen Eindringling ganz langsam aus, sein Vorstoßgebiet aber war unter ihm komplett Asche. Es verschnaufte dabei von der brennenden Anstrengung auf seine ganz eigene Art, indem es zu rauchen begann.

Im Nebenraum aber kam nun auch der gedankenversunkene Vincenzo dem Höhepunkt des ersten Aktes seiner leidenschaftlichen Traumvision immer näher, wie man zweifelsfrei an seinem seligen Lächeln und den aufgeregter werdenden Bewegungen unter seiner Bettdecke erkennen konnte. Sein Kopf aber faßte in diesem Augenblick höchsten Glücks und tiefster Entspannung nur einen einzigen Gedanken: "Lucia! Wie wundervoll ist es doch, Dich wiederzuhaben. Hier, wo Dich mir niemand wegnehmen kann". Gänzlich erschöpft ließ er sich von diesem wunderbaren Gedanken nun - vom reichlichen Weinkonsum und dem Schlafentzug der vergangenen Wochen zusätzlich ermattet - unverzüglich und endgültig ins Traumreich hinüberbefördern. Süßer Schlummer umfing ihn, während er undeutlich zu murmeln begann: "Santa Lucia, Du raubst mir den Atem. Am liebsten möchte ich meine Augen gar nicht wieder aufschlagen! Diese Nacht ist einfach ein Traum und sollte niemals zuende gehen!". Dabei ahnte er gar nicht, daß das sich in der Küche bildende und sich unter dem Türspalt hindurch auch im Schlafzimmer schleichend ausbreitende, heimtückische Kohlenmonoxid ihm seinen letzten Wunsch noch in dieser Nacht erfüllen sollte ...

[ENDE]

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:53

Der Fall Jasmina

Das fahle Licht des Vollmonds schien durch das kleine Fenster einer Zweizimmerwohnung im vierten Obergeschoß eines alten Berliner Mietshauses. Mit seinem gräulichen Gelb verlieh es der kleinen, der Straßenseite abgewandte Wohnschlafstube eine geradezu gespenstische Atmosphäre. Inmitten des Zimmers zeichnete sich dabei auf einer breiten Liege die Silhouette einer jungen Frau ab, die halbentblößt und - bis auf ein schwaches, wiederkehrendes Zucken ihres Unterleibs - nahezu regungslos dalag. Neben ihr auf der Bettkante hockte in weißer Baumwollunterwäsche ein schnauzbärtiger Mann mittleren Alters, der sich just in diesem Moment erhob und sich anschließend den - zuvor auf einem nahestehenden Stuhl sorgsam zusammengelegten - braunen Anzug wieder anzog. Er strich dabei in aller Ruhe die Bügelfalten der Anzughose glatt und holte aus der Jackentasche ein sibernes Feuerzeug und eine Zigarettenpackung heraus, der er sogleich den letzten, noch in ihr verbliebenen Glimmstengel entnahm. Die leere Zigarettenhülle aber drückte er augenblicklich in seiner Faust zusammen und warf sie achtlos auf den teppichbedeckten Fußboden. Mit ruhiger Hand entlockte er schließlich seinem Feuerzeug eine recht beachtliche Flamme, mit der er die Spitze der in den Mund gesteckten Filterzigarette in Brand setzte. Ein paar tiefe Züge seiner zusammengepreßten Lippen am glimmenden Tabakerzeugnis folgten, die im Gegenzug zum Ausstoß kleinerer Rauchschwaden führten. Durch den Nebel aber, der dabei vor seinen Augen entwickelte, blickte jene zwielichtige Gestalt mit großen funkelnden Augen auf die Liege und die daraufbefindliche junge Frau in all ihrer entblößten Weiblichkeit. Ein eiskaltes Grinsen umspielte dabei seine Mundwinkel, während er leise raunte: "Das hätte sich die kleine Unschuld vom Lande sicher nicht träumen lassen, daß dieser Abend für sie so enden würde. Sicher spielte sie heute nachmittag, als sie mich im Hausflur auf der Treppe anquatschte, mit dem Gedanken mich bei einem kleinen lauschigen Abendessen und einem Fläschchen Rotwein besoffenzuquatschen, damit ich ihr und ihrem schwachsinnigen Bruder die säumige Miete ein weiteres Mal stunde. Zu dumm nur, daß sie nicht mitbekam, wie ich ihr - als sie mittendrin kurz aufs Klo verduftete - ein paar K.O.Tropfen ins Weinglas träufelte. Man, hat die mit einem Mal einen Stuß von sich gegeben, bevor sie wie ein nasser Sack vom Stuhl herab zu Boden fiel. Tja, und dann war das achso sittsame Fräulein Wachs in meinen Händen. Alles hat sie mit sich geschehen lassen, das Zubettbringen, das rasche Ausziehen und das ebenso rasche Eindringen in die tiefsten Tiefen ihrer wohlgehüteten Intimspäre. Und dabei verstand sie es dann, sogar mich noch zu überraschen, der ich in meiner ausschweifenden Lebensart doch glaubte, schon alles gesehen und erlebt zu haben. Aber mal ehrlich: Mit 22 Jahren immer noch Jungfrau, sowas findet man doch heutzutage eher selten. Vermutlich wollte sich die junge Dame für den Richtigen aufsparen. Schade, hat wohl nicht ganz geklappt! Ist halt zu früh an den Falschen geraten, und nun ist es zu spät! Cest la vie!". Verächtlich beugte er sich mit dem kläglichen Rest seiner fast zuende gequalmten Kippe in der Hand über sie und drückte den glimmenden Rest phne jeden Skrupel in ihren freiligenden Bauchnabel. Ein kurzes Zucken und Aufbäumen ihres Oberkörpers war die Reaktion auf diesen schmerzhaften Mißbrauch ihres frischgeschändeten Leibes als lebender Aschenbecher. Ihr Peniger unterdess ergötzte sich sichlich an diesem Anblick, worauf ereine größere Menge Spucke in seinem Mundraum ansammelte, die er dann durch seine gespitzten Lippen in aller Ruhe gezielt auf ihren aschebedeckten Nabel herabtropfen ließ. Zischend verendete die letzte Glut des Aschehäuleins, während sich das teuflische Grinsen im Gesicht des Mannes mehr und mehr auszubreiten begann.

Seelenruhig trat der elende Schandtäter ein paar Schritte von der Liege und seinem daraufbefindlichen Opfer zurück und ließ sich nun auf jenem Stuhl nieder, auf welchem er zuvor seinen Anzug zu liegen gehabt hatte. Hier weidete er sich leise pfeifend weiter an dem Anblick der von ihm betäubten und grausam geqälten Frau. Eine Viertelstunde mochte wohl vergangen sein, als vor der geschlossenen Zimmertür auf dem Flur ein leises Knarren der Dielen zu vernehmen war. Ihm folgte ein scheues Herunterdrücken der Türklinke, das die Zimmerür eine Sekunde später aufspringen ließ. Der grelle Lichtschein der angeknipsten Flurdeckenlampe flutete damit einhergehend Schlafzimmer und Liege. Und mitten in diesem hellen Schein tauchte die rieisge Gestalt eines breitschultrigen Jungen auf, der einen Augenblick wie angewurzelt dastand und dann - während er unbeholfen auf die junge, regungslose Frau zustolperte - ängstlich wimmernd ausstieß: "Jasmina, geht es Dir nicht gut?! Schläfst Du schon?! Warum sagst Du denn nichts?!". Der Junge erreichte inzwischen die Liege, ging davor - recht hilflos wirkend - in die Knie und begann dabei unverzüglich, wie wild an der Schulter der jungen Frau zu rütteln. Erst als dieses Rütteln auch nach mehreren Minuten immer noch keine Wirkung zeigte, ließ der großgewachsene Knabe von seinem Unterfangen ab und drehte seinen Kopf nun dem Mann zu, der in seinem Rücken seinem verzweifelten Tun die ganze Zeit über grinsend zugeschaut hatte. Aufgeregt mit den Schultern zuckend und mit Tränen in den Augen sprach der Junge den Mann hilfesuchend an: "Herr Gräßlich, Herr Gräßlich, was hat denn die Jassi?! Warum wacht sie denn gar nicht auf?!". Voller Verachtung schaute der Angesprochene auf den verzweifelten Knaben herab: "Ach, Du kleiner dummer Einfaltspinsel! Daß Dein Schwesterchen nicht aufwacht, ist ganz allein Deine Schuld! Sie hat sich vorhin beim Abendessen in der Küche so aufgeregt, weil Du ihr immer nur auf der Tasche liegst und Kummer machst, daß sie ohnmächtig geworden ist und in einen tiefen Schlaf gefallen!". Der Junge weinte nur noch bitterlicher und fragte dabei schluchzend: "Ist das so ein Schlaf wie im Märchen, beim Dornröschen? Kann ich sie mit einem Kuß wieder wecken?". Der Mann im Stuhl aber beugte sich etwas nach vorn. Und seine kalten Augen blitzten dabei giftgrün auf, während er zischte: "Nein, Du Dummerle, dafür ist ihr Schlaf viel zu tief! Das Einzige, was sie jetzt noch aufwecken kann, ist frische Luft und ein ganz tiefer, tiefer Fall". Der knochige linke Zeigefinger des Mannes wies dabei über den lockigen Kopf des Knaben hinweg in Richtung der Balkontür, wozu seine tiefe Stimme ruhig verkündete: "Tja, ich hab schon versucht, ihr zu helfen, aber für mich mit meinem kranken Rücken ist Deine Schwester einfach zu schwer. Aber Du, Du bist doch ein kräftiger Kerl. Wenn Du sie also nimmst und auf die Balkonbrüstung legst, dann brauchst Du nur noch loszulassen - und Du wirst sehen, schon ist Deine Schwester wieder wach!". Skeptisch schaute der verunsicherte Junge dem Mann tief in die Augen: "Aber, geht die Jassi dann nicht tot, wenn sie so weit runterfällt?". Ärgerlich schnellte der Befragte von seinem Sitzplatz hoch und fauchte: "Du meinst wohl, Du Kindskopf weißt alles besser als ich! Na gut, dann laß Deine Schwester doch da liegen und pennen, bis sie grau und alt ist! Aber dann brauchst Du hier auch nicht rumjammern, wenn sie nie wieder aufwacht!". Die herzlose Ansprache verfehlte ihre Wirkung bei dem kindlich-naiven Gemüt des Jungen nicht. Er sprang auf, packte sich den regungslosen Körper seiner Schwester ohne weiteres Zögern behutsam auf seine Arme und trug ihn zum Balkon, dessen Klinke er daraufhin eilends herunterdrückte und die Tür mit dem Fuß aufstieß. Seitlich schleppte er den Frauenkörper bis zur Brüstung und legte ihn dort behutsam auf den angebrachten Blumenkästen ab. Noch einmal zögerte der Knabe, doch aus dem Halbdunkel der Schlafzimmerecke mit dem vereinsamten Stuhl zischte es leise: "Na los doch, tu's endlich!". Sachte tippte der Junge daraufhin die Schilter seiner geliebten Schwester an, so daß ihr abgelegter Körper sein Gleichgewicht verlor und fünf Stockwerke in die Tiefe sauste. Unter angekommen schlug er Sekundenbruchteile später mit dumpfem Knall auf dem Gehweg auf, worauf sich unter dem Kopf der leblos daliegenden Frauengestalt rasch eine riesige Blutlache anzusammeln begann. Erschrocken beäugte der - über die Balkonbrüstung lehnende - Junge das Ganze, dann sah er durch die geöffnete Balkontür ins Schlafzimmerinnere und schrie: "Sie wacht nicht auf! Jassi wacht doch gar nicht auf!".

Aus der dunklen Zimmerecke aber zischte es leise: "Kleiner, ahnungsloser Idiot, Du!". Dann waren schnelle Schritte zu vernehmen, die sich aus dem Zimmer heraus in Richtung Flur entfernten. Die Wohnungstür wurde erst aufgerissen, dann wieder zugeschlagen. Und nur eine Minute später öffnete sich unten vorm Haus laut polternd die hintere Haustür. Das Hoflicht wurde angeknipst, und in seinem Schein zeigte sich der Vermieter, der mit gespieltem Entsetzen die leblose junge Frau in ihrem Blut anstarrte und losschrie: "Zu Hilfe! Polizei! Fräulein Innozent ist vom Balkon gestoßen worden von ihrem schwachsinnigen Bruder Frank! Kann denn nicht jemand endlich einen Krankenwagen rufen und die Polizei!". Innerlich aber grinste der skrupellose Kerl und dachte selbstzufrieden: 'Was für ein rundum gelungener Abend! Die Schwester geschändet und mundtot gemacht, den Bruder als Mörder in den Knast oder die Klapse gebracht und wieder eine bislang preisgebundene, leerstehende Mietwohnung mehr, um sie teuer neuzuvermieten!'. Und die Rechnung ging auf. Die Polizei nahm den Jungen mit, der sich aufgrund seiner geistigen Behinderung und eines Schocks schuldig am Tod seiner Schwester fühlte und dies auch immer wieder so artikulierte. Man nahm daraufhin an, daß sich der Knabe selbst an seiner Schwester vergangen habe und sie dann aus reiner Panik zur Verschleierung seiner Tat in den Tod gestürzt habe, und steckte Frank infolge eines Gerichtsbeschlusses zeitlebens in eine geschlossene Anstalt. Der eigentlich Verantwortliche aber blieb völlig unbehelligt. Er vermietete die Wohnung für mehr als das doppelte an eine wohlbetuchte, kinderlose Witwe, die sich ein Jahr später mit ihm verheiratete und wenige Monate später auf einer gemeinsamen Kreuzfahrt unter recht mysteriösen Umständen ertrank ...

[ENDE]

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:55

Momentaufnahme - 60 Minuten aus dem Alltag einer stationären Pflegeeinrichtung

Es ist Samstag vier Uhr nachmittags in Deutschland, irgendwo auf einer kleinen Wohnetage in einem großen Pflegeheim. Pfleger S. ist gerade mit dem Fahrstuhl vom Wegbringen des Kaffeegeschirrwagens zurückgekehrt und läßt sich nun in der kleinen Teeküche neben dem Gemeinschaftsraum der Bewohner auf einem der Holzstühle nieder, um dort die bislang von ihm in der Nachmittagsschicht durchgeführten Pflegemaßnahmen in seinem mitgeführten Pocket PC zu dokumentieren. Zunächst aber wirft er einen kurzen Blick in den von seinem gewählten Sitzplatz gut einsehbaren Gemeinschaftsraum. Im Fernseher läuft gerade eine Reportage des Bayrischen Fernsehens über Stammtischmusikanten. Am Tisch, der dem recht laut eingestellten TV-Gerät am nächsten liegt, sitzt Fr.H. Sie registriert, daß der Pfleger just in diesem Moment Blickkontakt zu ihr pflegt und winkt ihm lächelnd zu. Der Pfleger winkt kurz zurück und läßt dann seinen Blick weiter schweifen. Direkt neben Frau H. sitzt der fast blinde Herr U. in seinem Rollstuhl, die Hände ineinander gefaltet, den ins Leere starrenden Blick leicht gen Decke erhoben, mit weit geöffnetem Mund. Hin und wieder senkt er seinen Kopf in Richtung des leeren Stuhls auf seiner linken Seite und beginnt, eifrig mit dem Möbelstück zu erzählen. Zwischen seinen wortreichen Ausführungen macht er dabei immer wieder mal eine kleine Pause, während der er alle paar Sekunden leicht nickt, um dann unvermindert mit dem aus Sicht des Pflegers doch recht einseitigen Zwiegespräch fortzufahren. Nur wenn in der Fernsehreportage immer mal wieder für einen Moment die "Musi spült", fährt sein Kopf - wie auch der von Fr.H. neben ihm in die entgegengesetzte Richtung und lauscht andächtig den Klängen der nun von Beiden mit großen Augen angestarrten Mattscheibe.

Pfleger S. widmet sich wieder seiner computergestützten Dokumentation. Allerdings nur für einen Moment, dann registriert er aus einer Ecke hinter der vor ihm liegenden Trennwand zum Gemeinschaftsraum an einem anderen Tisch ein leises Stöhnen. Es entspringt dem Munde von Fr.N., die dort ebenfalls der Reportage im Bayernsender folgt und bei den süddialektischen Äußerungen im Beitrag auftretender Personen bislang immer wieder anmerkte: "Ich versteh ja kein Wort!". Nun aber stöhnt sie mal leise, mal lauter vor sich hin und streichelt dabei sanft über ihren Arm und die kleine kugelförmige Wölbung ihres unter ihrem Jogginganzug leicht nach vorn heraustretenden Bauchs. Pfleger S. kann sich schon denken, was dieses leichte Stöhnen bedeutet. Das Schmerzpflaster auf ihrem Rücken, welches alle drei Tage erneuert wird, dürfte wohl am nächsten Tag wieder fällig sein. Und Fr.N. bekommt nun - im wahrsten Sinne des Wortes hinterrücks - die langsam nachlassende Wirkung seines unter das Betäubungsmittelgesetz fallenden Vorgängers zu spüren. Irgendwann erhebt sich die alte Dame mühsam von ihrem Stuhl und schlurft betreten am Pfleger - für den sie trotz allem noch ein kleines Lächeln übrig hat - vorbei in Richtung Flur, wo sie sich nun immer wieder unschlüssig in beide Richtungen umschaut. Auch hier ahnt der ihr nachschauende Pfleger schon, was ihre Gedanken in diesem Moment umtreibt. Und so ruft er ihr nach: "Fr.N., suchen Sie Ihre Toilette?". Die Angesprochene dreht sich um und nickt. Der Pfleger aber zeigt mit seinem rechten Zeigefinger nach links und verkündet: "Jetzt nach links und dann die vorletzte Tür auf der linken Seite". Fr.N. bedankt sich durch ein Kopfnicken und geht dann gemächlich der erfolgten Wegbeschreibung nach. Pfleger S. aber dokumentiert noch rasch ein paar weitere Maßnahmen, dann folgt er der alten Dame - wohlwissend, daß der in bei ihr in die Bauchdecke verlegte Blaseneingang nebst dem dort angebrachten Stomabeutel ihr oftmals zusätzliche Schwierigkeiten beim selsbtändigen Wasser(ab)lassen über dem Toilettenbecken bereitet. Als er eine Minute später nach kurzem Klopfen das Bewohnerzimmer von Fr.N. betritt, trifft er sie - wie erwartet im halbdunklen Bad an. Er spricht die Frau, die dort - was er zugegebenermaßen immer wieder recht amüsant findet - im Stehen Urin läßt, vorsichtig mit ihrem Namen an, damit sie sich nicht erschreckt, was in dieser heiklen Situation leicht zu einer unangenehm riechenden Flutung des Badezimmerfußbodens ausraten könnte. Dann knipst er das Badlicht an, streift sich zwei in der Hosentasche mitgeführte Gummihandschuhe über, stellt sich neben die Bewohnerin und hilft ihr beim Wiederverschließen des Urinbeutelausgangs. Gemeinsam mit ihren zittrigen Händen richten die seinen ihre Kleidung, wobei er bemerkt, daß die Hose an einer Stelle beim eigenständig durchgeführten Ablaßvorgang etwas feucht geworden ist. Er erklärt der Bewohnerin beim anschließenden Händewaschen am Waschbecken diesem Umstand und beruhigt sie gleichzeitig, daß ihr das nicht peinlich sein brauche und daß soetwas schließlich jedem mal passieren könnte. Sichtlich beruhigt von dieser verständnisvollen Zusprache läßt sich Fr.N. von ihm ins Zimmer führen, wo sie mit wieder bis in die Kniekehlen heruntergestreifter Hose sogleich auf ihrem Sessel platznimmt und geduldig wartet, bis der Pfleger ihr aus ihrem Kleiderschrank eine neue Jogginghose geholt hat. Pfleger S. kniet sich milde lächelnd vor die alte Frau, zieht ihr die Schuhe und die feuchte Hose aus und tauscht letztere nun gegen die frische Hose aus, worauf er ihr beide Schuhe wieder anzieht. Dann erhebt er sich wieder. Überglücklich bedankt sich die alte Dame erneut, und ihr Helfer fragt sie im Gegenzug, ob sie ihn wieder in den Gemeinschaftsraum begleiten oder lieber in ihrem Zimmer bleiben wolle. Nach kurzem Überlegen entscheidet sich Fr.N. für die erste Variante, worauf Pfleger S. ihr seinen Arm anbietet, unter den sie sich freudestrahlend unterhakt. Auf dem Weg über den langen Flur zurück in den Aufenthaltsraum meint sie schmunzelnd: "Ick altet Weib laß mir noch von so een jungschen Herrn begleiten!".

Zurück im Gemeinschaftsraum nehmen sowohl Fr.N. als auch Pfleger S. ihre zuvor verlassenen Plätze wieder ein. Und während die ältere Dame in ihrer Ecke weiterhin gespannt und hin und wieder leise stöhnend das Fernsehprogramm verfolgt, nimmt der Pfleger seine Dokumentationstätigkeit erneut auf. Das ungestörte Bestätigen der Pflegemaßnahmen hält allerdings - wie von ihm auch nicht anders erwartet - nur eine kurze Minute an. Was dann folgt, könnte man gut und gern auch als Rollator-Sprechstunde bezeichnen. Die erste, die mit so einem vierrädrigen Gehwagen vom Flur her schnurstracks auf den Pfleger zugesteuert kommt, ist Frau L. Sie parkt recht bedrohlich für seine Kniescheiben nur einen Zentimeter von diesen entfernt ihr Gehmobil. Dann beginnt sie aufgeregt, in dem auf dessen Tischplatte liegenden Abreißkalender zu blättern. Irgendwann erreicht sie dabei den noch drei Wochen entfernt liegenden Termin für die Pediküre, der dort von der zuständigen Fußpflegerin vor einigen Tagen mittels Kugelschreiber blau auf weiß hinterlegt wurde. Fr.L. preßt ihren Zeigefinger auf den blauen Schriftzug und stammelt: "Herr, Herr Schiller (Name zum Schutze der Persönlichkeit leicht geändert)! Kommt denn die Fußpflege heute!". Bedauernd schüttelt der Pfleger den Kopf und erwidert: "Fr.L., der Termin ist erst in drei Wochen. Heute kommt keine Fußpflege zu Ihnen. Heute ist Samstag, da ist die Fußpflegerin nicht mal im Haus. Und außerdem war doch die Fußpflege erst vor fünf Tagen bei Ihnen". Hier winkt die alte Frau ganz empört ab: "Das ist ja gar nicht wahr. Dieses Jahr war die Fußpflege noch gar nicht bei mir". Der ungläubige Blick der hibbeligen alten Frau wandert nun mehrere Male immer wieder zwischen ihrem aufgeschlagenen Kalenderblatt und den Augen des Pflegers hin und her. Dann macht Fr.L. kopfschüttelnd mitsamt Rollator kehrt und fährt in den Flur, wo sie sich noch einmal selbst am großen hölzernen Wandkalender von der Unterschiedlichkeit der Datumsangabe zu der von ihrem bevorstehenden Fußpflegetermin überzeugt. Pfleger S. schaut ihrem kurzzeitigen Abgang nach, wohl wissend, daß sich die Aufregung der Dame in den kommenden drei Wochen stetig steigern wird und daß er sie mit ihrem Anliegen auch am heutigen Tag noch einige Male in ähnlicher Form beschwichtigen werden darf.

Aus dem Hintergrund nähert sich inzwischen die nächste ältere Dame mit fahrbarer Gehhilfe seinem Sitzplatz. Im rosa Wollpulli kommt sie mit nichtssagendem Gesichtsausdruck daher. Erst als sie ganz nahe vor ihm steht, kann er die gut versteckte Unsicherheit in ihren Augen erkennen. Leise flüsternd bittet sie dazu: "Ach, nun sag mir doch mal, wie komm ich denn nach Hause!". Der Pfleger beugt sich ein wenig zu ihr vor und erwidert ebenfalls in gedämpftem Ton: "Fr.G., Sie sind hier zuhause. Sie wohnen doch hier bei uns im Pflegeheim!". Sein Gegenüber schüttelt eifrig den Kopf: "Mensch, mach doch keinen Quatsch! Ich wohn doch nicht hier! Ich hab ja nicht mal Sachen hier!". Der Pfleger aber antwortet: "Doch, gleich nebenan ist ihr Zimmer. Und da ist auch ein Schrank mit all ihren Sachen". Ungläubig macht die alte Frau kehrt und schaut im Nebenzimmer nach. Nach einer Minute ist sie zurück und schimpft: "Dann haben Sie die hier her gebracht! Und mich haben Sie auch verschleppt! Sie wollen nur an mein Geld! Lassen Sie mich sofort raus hier! Ich bin doch keine Nutte!". Der Pfleger steht langsam auf und macht einen Schritt auf sie zu, wobei er meint: "Das hat doch auch keiner behauptet, Fr.G. Aber Sie wohnen nun einmal jetzt hier, weil Sie zuhause alleine nicht mehr zurechtgekommen sind! Ihre Tochter hat Sie deshalb doch hierher gebracht, weil hier rund um die Uhr jemand da ist, der sich um sie kümmern kann". Fr.G. aber läßt sich nicht gut zureden. Wütend dreht sie ihren Gehwagen und sich selbst um und schreit, während sie über den Flur ihr Zimmer ansteuert: "Meine Tochter?! Ja Scheiße! Ihr könnt mich alle mal am Arsch lecken!". Mit lautem Knall schließt sich damit die Zimmertür hinter ihr. Pfleger S. aber begibt sich wieder auf seinen Platz zurück. Er kennt diese Situation. So ist das nunmal mit der Demenz. Da kippt Unverständnis und Furcht ganz schnell in verbale Agrression. Zum Glück sorgt die selbe schlimme Erkrankung des Vergessens bei ihr auch immer wieder dafür, daß sie jedes Mal nach so einem Ausraster wenig später völlig umgewandelt zurückkehrt und sich ganz lieb und freundlich lächelnd auf ihren Platz im Gemeinschaftsraum setzt, wo sie dann auf die nächste Mahlzeit wartet, allenfalls noch vorsichtig nachfragend, ob sie denn hier auch essen und trinken dürfe, da sie doch gar kein Geld dabeihabe.

Pfleger S. hängt diesem Gedanken noch ein wenig nach, als sich ihm mit forschem Schritt in Form des schwergewichtigen Frl.Q. schon die nächste Dame nähert. Auch sie kommt ihm dabei in ihrem breiten grünen Strickkleid recht nahe und fragt dann: "Du. S! Kommste mir heute abend wieder duschen?". Pfleger S. nickt und ergänzt: "Ja, Frl.Q., wir duschen heute abend wieder!". Dabei zuckt er innerlich kurz zusammen und denkt: 'Mist! Da ist es schon wieder! Das im Alltag der Pflegekräfte so übliche WIR!'. Doch dann denkt er ein wenig genauer nach und findet im Nachhinein, daß das "Wir" in diesem speziellen Fall eigentlich recht passend ist, wenn er so an die immense Seitenstrahlkraft des Duschkopfes im Zimmer der hier vor ihm stehenden Bewohnerin denkt, sowie an die Tatsache, daß aufgrund eines baulichen Mängels das Duschwasser in ihrer Naßzelle nie von allein den Weg in den Abfluß findet, sondern von ihm mittels eines Schrubbers erst dorthin begleitet werden muß. Eigentlich könnte man also im Fall von Frl.Q. nicht nur von einer gemeinsamen Dusche, sondern auch von einem gemeinschaftlichen Fußbad sprechen. Das ältere Fräulein hingegen ahnt nichts von diesen Gedanken ihres Duschbeauftragten. Sie beginnt stattdessen, mit ihm um die zugehörige Duschzeit zu failschen. Wie auf dem orientilischen Basar nähern sich die Vorstellungen beider Beteiligten dabei immer mehr an. Sie würde gern schon um 18 Uhr duschen, er kann eigentlich erst um 20 Uhr. In Halbstundenabständen aufeinanderzugehend einigt man sich in mehreren Etappen auf 19 Uhr. Der Pfleger beschließt dabei innerlich, die anderen Bewohner noch schneller als sonst nach dem Abendessen ins Bett zu befördern, um sich dann jenem dreiviertelstündigen Duschakt in aller Ruhe widmen zu können. Frl.Q. hingegen überlegt, wie lange sie anschließend wohl noch mit dem Zubettgehen warten müsse, bis ihr recht umfangreiches, schulterlanges Haar vollständig luftgetrocknet sei. Diese Gedanken weiterbewegend trennt man sich in stillem Einverständnis, indem Frl.Q. gemächlich von dannen schreitet. Pfleger S. aber bestätigt in aller Eile noch einige der offenen Maßnahmen im vernachlässigten Pocket PC und bemerkt dann entsetzt, daß der kleine Zeiger der Wanduhr schon bei der Fünf angelangt ist, während sein großer Bruder ganz oben auf die Zwölf weist. Höchste Zeit also, die Essenwagen aus der hauseigenen Küche im Erdgeschoß zu holen. Denn in einer halben Stunde beginnt das Abendbrotverteilen auf der Etage. Und bis dahin will am Wagen noch so Einiges von ihm vorbereitet werden ...

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:55

Begrabenes Glück

Einsam und merkwürdig erstarrt hockte Werner Niederschlag in sich zusammengekauert im rechten Eck der u-förmig um den Küchentisch aufgestellten Sitzbank. Dabei wirkte es im schummrigen Flackerlicht der auf dem Tisch stehenden Gaslaterne so, als würde sein stämmiger Körper, dessen gesenktes Haupt sich in den Handflächen seiner auf der hölzernen Tischfläche aufgestützten Arme verbarg, zittern. Seine rotumrandeten, stark aufgequollenen Augen hatte der greise Mann längst vor der ihn umgebenden düsteren Wirklichkeit verschlossen. Vor seinem geistigen Auge aber begann die Erinnerung, ihm in unso helleren, bunten Farben Bilder in seinen Kopf zu zeichnen. Bilder, die sich in ihrer schnellen Abfolge rasch wie zu einem kleinen Film zu verdichten begannen. Auch in diesem Filmstreifen hockte er im Eck der Küchensitzbank, jedoch diesmal im linken - und noch dazu keineswegs allein. Dicht an ihn gepreßt ruhte in seinen starken, jungen Armen ein wunderschönes Fräulein, dessen entzückendes Antlitz auf faszinierende Art und Weise von einer goldigen Lockenpracht umwachsen war. Durch sein frisch gestärktes Oberhemd hindurch konnte Werner direkt unter ihrer dünnen Bluse den schnellen Takt des Herzschlages dieses bezaubernden Geschöpfes spüren. Ihre kirschroten Lippen aber preßten sich immer wieder auf die seinen. Ja, damals an ihrem ersten gemeinsamen Abend hatte er es bereits ganz deutlich gespürt, daß er und seine Else füreinader bestimmt waren. Und ihr ging es da wohl nicht anders. Rasch war man verlobt, noch rascher schloß man vor Gott und dem Standesamt den Bund der Ehe. Sie zog zu ihm, und die Jahre zogen dahin. Im immerwährenden Wechselspiel der Jahreszeiten aber veränderte die Routine des Alltags etwas zwischen den Eheleuten Else und Werner Niederschlag - erst langsam und kaum erkennbar, dann immer deutlicher. Die anfänglich noch so überschwenglich vorhandene Verliebtheit war schnell verflogen. Die unterschiedlichen Meinungen der Ehepartner ließen sich immer seltener unter einen Hut bringen, und im daraus ständig hervorgehenden Streit vergrößerte sich dabei der Abstand zwischen den einstigen Turteltäubchen. Und das keineswegs nur im übertragenen Sinne - nein, auch auf der Küchensitzbank lebte man sich Tag um Tag Zentimeter um Zentimeter auseinander. An Else lag es dabei ihrer Meinung nach nicht, denn sie beanspruchte all die Jahre über unverrückbar das gewohnte linke Eck für sich. Es war in ihren Augen vielmehr Ehemann Werner, der sich - ganz gewiß mit voller Absicht - zunehmend von ihr entfernte. Bei jeder Meinungsverschiedenheit schmierte sie ihm das aufs Brot und sorgte mit dieser einseitigen Schuldzuweisung am Ende doch nur dafür, daß er sich immer nur noch weniger zu ihr hingezogen fühlte. Und er erklärte ihr dann im Gegenzug lautstark immer wieder, wie grausam kühl es in ihrer Beziehung zuginge. Von den heißen Küssen am Beginn sei zwischenzeitlich zumindest noch ein lauwarmes Essen übriggeblieben. Und nach sieben langen Ehejahren schließlich nicht einmal mehr das. Er spüre stattdessen nur noch die Kälte ihres Herzens, und sie ganz allein hätte ihn mit ihrer anhaltenden Nörgelei so weit von sich weg getrieben, daß er nun im äußeren rechten Eck der Sitzbank gelandet war. Am Ende einer solch alltäglichen Debatte saßen sich beide letztlich - die zwischenmenschliche Kommunikation inzwischen nur noch aufs Allernötigste beschränkend - grimmig dreinschauend mit zu Fäusten geballten Händen auf ihren entgegengesetzten Eckplätzen gegenüber - fast wie zwei Boxkontrahenten, die sich im Ring in einer kurzen Kampfpause auf den nächsten Schlagabtausch vorbereiteten. Und jede noch so klitzekleine Kleinigkeit hatte dabei dann stets genügt, um die Beiden - der Ringglocke gleich - voller Angriffslust wieder aufeinander zu zu treiben.

Bis genau vor einer Woche war das so zugegangen, wie sich Werner Niederschlag jetzt in seiner schummrigen Einsamkeit erinnerte. Dann kam jener Montagabend, an dem sich schlagartig alles veränderte und die nun schon seit sieben Tagen anhaltende Stille ins Haus einkehrte. Der Punkt, der an jenem Abend zum Streit geführt hatte, war eine ganz beifällige Äußerung Werner Niederschlags am Abendbrotstisch gewesen. Bei widerwilligen Auslöffeln seiner viel zu kalten und noch dazu völlig nüchternen Nudelsuppe war sein Blick an einem Zeitungsartikel hängen geblieben, der eine neue Palmenart anprieß, welche auch im kühlen Klima Mitteleuropas gedeihen würde. Er erinnerte sich dabei schwach daran, wie seine Else in früheren glücklicheren Tagen immer wieder mit einem Leuchten in den Augen geäußert hatte, sie würde ihren Lebensabend gern unter Palmen beschließen. Für einen kurzen Augenblick schöpfte er im Angesicht jener Anzeige die Hoffnung, die Wogen zwischen Else und ihm doch endlich wieder ein wenig glätten zu können. Und so nahm er allen Mut zusammen, räusperte sich und rief seiner Frau begeistert zu: "Elsekind, wär das nich schön, wenn ich mitten auf unserm Hof so eine Palme für Dich anpflanzen würde?! Da könntest Du dann im Sommer im Schaukelstuhl druntersitzen und mit mir zusammen den Sonnenuntergang genießen". Einen Moment lang herrschte die längst gewohnte Grabesstille im Raum, dann aber keifte es aus dem linken Eck des Küchensitzmöbels: "Ja! Das könnt Dir so passen, Saukerl! Damit mir in der Abenddämmerung eine Kokusnuß auf die Rübe fällt und mir den Schädel spaltet! Ne, mein Lieber, so leicht wirst Du mich nicht los! Eine Palme auf meinem Hof, nur über meine Leiche!". Wieder war es einen Moment lang ganz ruhig gewesen im Raum. Nur tief im Innern Werner Niederschlags, da hatte es gebrodelt, da hatte es gedroht überzukochen. Was um alles in der Welt nahm sich dieses Weib auch heraus, ihm so eine Gemeinheit zu unterstellen. Nein, so nicht, nicht mit ihm! Allein die Erinnerung an diese Situation ließ Werner Niederschlag wieder mit der Faust auf den Tisch schlagen, so wie er es auch an jenem Abend getan hatte. Doch auch der Erfolg dieser Aktion blieb freilich wieder der gleiche wie vor einer Woche. Er blieb am Ende allein zurück. Else hatte ihn für immer verlassen. Langsam erhob sich Werner Niederschlag von seinem angestammten Sitzplatz und schlurfte zum Küchenfenster. Er blickte dabei traurig mitten in die rasch voranschreitende Abendämmerung, in der sich vor ihm inmitten des Hofes auf einem noch recht frisch aufgeschütteten Erdhügel eine kleine Palmenpflanze mit ihren wenigen Blättern der untergehenden Sonne entgegenreckte. Ja, er hatte sie gekauft und gepflanzt - schon am nächsten Tag. Noch vor Sonnenaufgang hatte er mit einem Spaten ein großes Erdloch ausgehoben und das entnommene Erdreich sorgsam aufgelockert schließlich wieder darin verteilt. Mittags hatte er dann die Palmenpflanze in einem Baumarkt der nächstgelegenen Großstadt erstanden und am späten Nachmittag direkt nach seiner Heimkehr sofort eingegraben und angegossen. Er erinnerte sich noch, wie ein Nachbar dabei an seinem Gartenzaun erschienen war und sich mit ihm unterhalten hatte. Irgendwann war dabei das Gespräch auch auf seine Frau Elsa gekommen. Und Werner Niederschlag hatte den neugierigen Nachbarn berichtet, daß sie nach einem Streit am Vorabend eilends ihre Sachen gepackt habe und noch mit dem letzten Nachtzug auf und davon sei. Sollte man sich doch im Dorf ruhig das Maul über ihn zerreißen. Man tat es ja so oder so. Der Nachbar hatte ihn freilich noch weiter gelöchert und gefragt, wohin sie denn wohl so Hals über Kopf gewollt habe. Er aber hatte sich bei dieser Frage schulterzuckend und mit einer Träne im Auge abgewandt und in Schweigen gehüllt. Nicht, daß er nicht genau wußte, wohin sie entschwunden war - aber alles mußten dieser neugierige Fatzke und mit ihm das ganze Dorf ja auch nicht wissen.

Jawohl, er wußte ganz genau, wohin seine Else quasi bei Nacht und Nebel entschwunden war. Niederschlag stützte seine Hände auf dem Fenstersims ab und schaute betreten nach unten. Vor sich auf den Dielen erspähte er die Scherben seiner Lieblingskaffeetasse, zu Bruch gegangen noch an jenem unheilvollen Abend vor einer Woche. Er entdeckte auf einem der größeren Bruchstücke den aufgedruckten Spruch: "Bis das der Tod ...". Direkt daneben vollendete eine kleinere Scherbe den Satz: "... uns scheidet!". Jene mit unzähligen kleinen Herzen verzierte Tasse hatte ihm einst seine Else zum ersten Hochzeitstag geschenkt. Nun war sie zerbrochen, wie das Eheglück der Beiden. Und der aufgedruckte Sinnspruch hatte sich in gewisser Weise an ihrem letzten gemeinsamen Abend erfüllt. Nun waren sie geschieden - getrennt auf Lebenszeit und wohl auch darüber hinaus. Denn auch wenn er genau wußte, wo sie jetzt war, so vermochte er dennoch nicht, ihr dorthin zu folgen. Und das, obwohl er in den letzten Tagen in all den einsamen Stunden immer wieder darüber nachgedacht hatte. Letztendlich aber konnte er es nicht, es fehlte ihm einfach der Mut zu jenem letzten und entscheidenden Schritt. Wieder erhob sich Werner Niederschlags Blick und enteilte durchs staubige Küchenfensterglas in Richtung Palmensilhouette. Dabei klangen ihm die letzten Worte seiner verschollenen Else laustark in den Ohren: "Eine Palme auf meinem Hof, nur über meine Leiche!". Er bückte sich und hob eine der unzähligen kleinen Kaffeetassenscherben auf, an der ein großer klebrig-roter Fleck mit ein paar darin eingeschlossenen blonden Haaren haftete. Und während er sich damit langsam wieder erhob, murmelte er leise vor sich her, recht finster nach draußen auf den die Palme umgebenden Erdhügel blickend: "Zuletzt haben wir dann doch noch alle Beide unseren Willen bekommen, ich meine Palme ... und Du das Nur-über-Deine-Leiche. Und schuld an all dem bist Du ganz allein selbst! Denn schließlich hast Du mich mit Deinen Worten ja erst auf die Palme gebracht" ...

[ENDE]

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Donnerstag, 19. Januar 2012, 20:56

HENNIGSDORF (2011)

Sei mir gegrüßt, Du kleine Stadt am Rande der großen Hauptstadt,
die Du Dich bescheiden Dorf zu nennen pflegst -
Dorf eines Hennigs, den ich noch nicht einmal persönlich kenne.

Inmitten der vier Ecken Deines Kreißsaals
war es mir einst vergönnt, das Licht der Welt zu erblicken.
Im selben Raum, in dem auch meine Tochter Jahre später
ihre Äuglein zum ersten Male aufschlug.

Aus Dir entsprang mein Leben, und so Gott will,
soll einst es auch in Dir sein Ende finden.

Du gibst mir Wohnraum und Arbeit,
bist die Mitte meines Lebens, das Zentrum meiner Welt.

Du, in der schon mein Vater einst zusammenschweißte,
was Dich fortan mit der ganzen Welt verband -
in Form von Schienensträngen und Eisenbahnen.

Von Dir aus ging im Juni '53 der Ruf des Arbeiters nach Freiheit,
vor Deinen über Nacht errichteten Mauern endete er jahrelang.
Man wollte Deinen Menschen weißmachen, daß es mit einem Male
kein Westen für sie mehr gab - nur noch Norden, Süden und Osten.

Doch die Freiheit ließ sich nicht ewig bannen,
bahnte sich bald wieder in vollen Zügen auf Deinen Schienen
den Weg in jede himmlische Richtung.

Und auch ich bahne mir staunend meinen Weg -
jeden Tag aufs Neue durch Deine weitverzweigten Straßen.

Meine Schritte verlaufen sich oft in die Tiefe Deiner Wälder -
jener märkischen Heide, die von sandigen Wegen durchzogen wird.
Hier kann mein streßgeplagtes Ich in schlendernden Müßiggang
die Seele richtig baumeln lassen.

Und die Gedanken fliegen dabei hinauf in luftige Höhen,
wo sie - gleich dem roten Adler unseres Landeswappens -
stundenlang frei und schwerelos ihre Kreise ziehen.

Erst wo die grüne Oase endet und zurückführt ins Getümmel,
da landen auch jene Gedanken wieder - bei mir und bei Dir.

So sei mir erneut gegrüßt, Du laute Stadt am Rand der Stille,
die Du Dich leise Dorf zu nennen pflegst -
Dorf eines Hennigs, dessen Untermieter ich die Ehre hab zu sein.


- Sven Schindler -

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Samstag, 21. Januar 2012, 00:50

Nach dem Besuch in einem ehemaligen deutschen KZ

VORWORT: Tief beeindruckt kehrte ich am späten Nachmittag des 5. August 2010 von einer mehrstündigen Bahnfahrt zum ehemaligen Konzentrationslager Ravensbrück (bei Fürstenberg an der Havel) zurück. Ich konnte nicht umhin, das von mir Gesehene und Empfundene unmittelbar in Worte zu kleiden. ;( Es ist neben einer Eindrucksschilderung auch ein Aufruf wider das Vergessen. Nur wer sich an jene düstere Zeit zu erinnern vermag, wird auch in Zukunft wachsam genug sein können, damit sich dieses zweifellos grausamste Kapitel deutscher Geschichte nie wiederholt :sad:

EIN SCHWERER GANG

Ich steige aus dem Zug. Um mich wimmelt es von Menschen. Reisende, die freiwillig hier in Füstenberg an der Havel ankommen, wie ich. Ich schließe die Augen und denke, Ihr könntet es sein. Ihr, die Ihr in längst vergangener Zeit zu Tausenden hier angekommen seid, unfreiwillig - gezwungen durch Urteile, die Verbrecher in Namen meines Volkes über Euch verhängten und die für die meisten von Euch über kurz oder lang zu Todesurteilen wurden.

Dieser Gang, den ich jetzt Schritt für Schritt hinter mich bringe, ist ein schwerer Gang für mich. Und das nicht nur, weil er mich - wie Euch einst - kilometerweit über holpriges Kopfsteinpflaster hinweg führt. Nein, er ist darum so beschwerlich, weil ich das Gefühl habe, jeden einzelnen meiner Schritte mit Euch zusammen zu gehen, streng bewacht von Menschen in Uniform - Menschen, die theoretisch meine Großeltern gewesen sein könnten. Grausame Menschen, die Euch antrieben und quälten, die Euch schlugen, anspuckten und verhöhnten, die Euch frieren und hungern ließen. Unmenschen in Menschengestalt, die Euch erschossen, erhängten, vergasten und Eure noch warmen Leiber mit unmenschlicher Eiseskälte in ihren Öfen verbrannten.

Dieses schwere, belastende Erbe trage ich auf meinen Schultern, während ich den Weg gehe. Den Weg in jene Mordfabrik und jenes Todeslager, welches sich hinter dem harmlos klingenden Begriff eines Konzentrations- und Arbeitslagers verbarg. Ich komme an, wie Ihr einst ankamt, nicht genau wissend, was mich erwartet. Nicht ahnend, wie ich diese Mauern danach wieder verlassen werde. Doch eines ist schon jetzt sicher: Wie auch jene von Euch, die all die Qualen überlebten, werde ich beim Verlassen von Ravensbrück nicht mehr derselbe sein, nie wieder!

Hinter dem Tor, durch welches Ihr einst in die Hölle schrittet, um alle Hoffnung fallen zu lassen, erwartet Ihr mich schon. Im ehemaligen Wachhaus, wo damals die Posten auf und ab gingen, warten tausendfach Eure Namen und die Fotos Eurer Gesichter auf mich. Es fällt mir unheimlich schwer, Euch in die Augen zu schauen - in die weit aufgerissenen Augen, die die berechtigte Angst vor dem vermitteln, was Euch hier bevorstand. Und doch, ich stelle mich Euren verzweifelten Blicken. Jeder und jedem Einzelnen schaue ich tief in die Augen. Meine Augen füllen sich mit einem wäßrigen Schleier, einem Schleier, den ich während meines ganzen Besuchs nicht mehr loswerde. Im Stillen bitte ich Eure gefolterten und ermordeten Seelen um Vergebung, um Vergebung für das, was mir und dem Rest meiner Generation Eure deutschsprechenden Peiniger als düsteres Erbe hinterlassen haben.

Über feinkörnige Schotterwege lenke ich behutsam meine Schritte. Jedes Knirschen der kleinen Steine ist wie ein leises Wimmern, ein verzweifeltes Aufstöhnen Eurer geschändeten Leiber. Hier, wo einst Eure Baracken standen, in denen Ihr zu Hunderten auf engsten Raum zusammengefercht wart. Hier, wo man Euch stundenlang auf dem Appellplatz strammstehen und zittern ließ. Hier, wo Ihr im Angesicht Eurer Leidensgenossen angeschien und geschlagen wurdet, ist es, als würde Euer unschuldig vergossenes Blut aus jedem Quadratzentimeter Boden zu mir heraufschreien. Ja, es ist, als würde ich hier an diesem Platz auf Schritt und Tritt über Leichen gehen. Und doch bin nicht ich es, der über Leichen geht - es waren die Aufseherinnen und die Männer in den schwarzen Uniformen. Im amtlichen Sprachgebrauch der damaligen Zeit wart Ihr Ihre "Schutzhäftlinge". Doch sie schützten Euch nicht, im Gegenteil: Ihr wart ihnen völlig schutzlos ausgeliefert.

Sie nahmen Euch das Einzigartige, das jeder Mensch als Gottesgeschenk erhalten hat. Aus Euren Namen wurden Nummern. Ihr wurdet in häßliche Uniformen gesteckt, Eure Haare und Eure ohnehin spärliche Habe wurden Euch genommen. Euren Willen wollten sie brechen und Eure Menschlichkeit. Doch so sehr sie sich auch anstrengten, es gelang ihnen nicht. Eure Briefe und Eure Gedichte, Eure Bilder und Eure Handarbeiten zeigen mir, daß selbst in diesem finsteren Höllental die Hoffnung, der Glaube, der Mut und die aufopferungsvolle Hingabe füreinander immer wieder wie Phoenix aus der Asche emporstiegen. Und das bewahrt auch mir die Hoffnung und den Glauben.

Ich verlasse den eigentlichen Lagerbereich. Ein Privileg, das von Euch nur wenigen vergönnt war. Mehr als 13000 von Euch muß ich zurücklassen. Viele davon an jenem Ort, zu dem ich mich jetzt schweren Herzens begebe. Hier an der ehemaligen meterhohen, mit Stachaldraht dornenreich gekrönten Lagermauer liegen unter einem Meer von roten Rosen die sterblichen Überreste vieler von Euch. All jener, die in der einst hier befindlichen Gaskammer röchelnd gegen den grausamen Erstickungstod ankämpften und dann doch unvermeidlich ihren letzten Atemzug taten, während ihre entblößten Körper leblos übereinander zusammenfielen. Auf Bahren trugt Ihr selbst Eure Toten in das Nebengebäude mit den Öfen, wo Ihr ihnen - von ihren Mördern zur Eile angetrieben - stumm das letzte Geleit gabt. Auch ich gebe ihnen heute und hier in stummem Gedanken das letzte Geleit - ihnen, deren endlich von der Pein befreiten Seelen gemeinsam mit dem feinen Ascheregen ihrer verbrannten Leichname das Mordlager nur noch über den Schornstein des Krematoriums verließen.

Doch ich gebe Euch noch mehr: Ich gebe Euch das heiße und glühende Versprechen, daß ich Euch nie vergessen werde - Euch, in deren leidgeprüften Gesichter ich geschaut habe. Jeden Einzelnen von Euch trage ich in meinem Herzen und in meinem Geist bei mir. Nein, für mich seid Ihr keine Zahlen, für mich ist jeder von Euch ein liebenswerter und geliebter Mensch, genau wie ich - einer der leben wollte, der Kinder haben wollte und Enkelkinder. Einer, der lachen wollte. Einer, der lieben wollte. Einer, der sein Leben in vollen Zügen genießen wollte - statt es nach seinem Ausstieg aus einem überfüllten Zug unwiederbringlich zu verlieren. Ich verspreche Euch bei meinem Leben, daß ich heute und in Zukunft alles in meiner Macht Stehende tun werde, damit sich Euer Schicksal nie wiederholt - nicht auf deutschen Boden und auch sonst nirgendwo auf der Welt. In Eurem Namen, die Ihr viel zu früh verstummt seid, werde ich es jedem Auschwitzleugner und Volksverhetzer, jedem neuen Herrenrasse-Prediger und unverbesserlichen "Deutschland-den-Deutschen"-Gröler ins Gesicht schreien: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord!

Mit diesem Entschluß im Gepäck mache ich mich auf den Weg zurück ins Leben. Ich verlasse die Folterstätte, und kehre zurück zu Euch, den anderen. Zu Euch, die Ihr lebt, hier und heute mit mir zusammen. Am Fuße des weithin sichtbaren Denkmals eines Häftlings, der einen geschwächten Leidensgenossen in seinen Armen trägt, werfe ich einen Blick über den See hinweg auf die nahegelegene Stadt. Ja, Deutschland war und ist schön, sogar hier - in unmittelbarer Nähe des schrecklichsten Terrors und des tausendfachen grausamen Todes. Es ist meine Heimat, die ich liebe. Ich will ihr dienen. Dienen, indem ich aus den Fehlern all jener meiner Landsleute lerne, die heute noch behaupten, von den Schrecken faschistischer Todeslager damals nichts gewußt zu haben und die einst dort am anderen Ufer des Sees die Augen vor dem doch Unübersehbaren verschlossen - vor den Häftlingskolonnen, die man durch die Straßen ihrer Städte dem Lager zutrieb und vor den dicken, übelriechenden Rauchschwaden, als die viele der hier Gequälten durch die Schlote der Verbrennungsöfen ihre letzte Reise gen Himmel antraten.

Die Toten mahnen uns - uns, die Lebenden: Halten gerade wir als Deutsche gemeinsam mit allen friedliebenden Völkern die Augen jederzeit weit offen und begegnen wir allem Menschenfeindlichen in unserer Gegenwart bereits im Ansatz mit unserem unbeugsamen Widerstand! Dann erst erfüllen wir das Vermächtnis der Toten. Dann und nur dann war das Sterben in Ravensbrück und all den anderen Todeslagern nicht vergebens ...

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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Angel (23. September 2012, 10:34)

sven1421

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Samstag, 21. Januar 2012, 00:55


Dem Gedenken an die Opfer der Norwegen-Attentate im Juli 2011 gewidmet

SYNNES WANDEL

Es war einer jener dunklen Momente des Lebens, der mich in den frühen Abendstunden des 22. Juli 2011 an die beeindruckende Küste des norwegischen Geirangerfjords geführt hatte. Meine Existenz war meines Erachtens am Ende einer Sackgasse angelangt - so daß ich sie mit jedem weiteren Schritt nach vorn unweigerlich gegen die Wand setzen würde. Seit mehr als 7 Jahren fristete ich irgendwo im Norden Berlins eingefercht zwischen den vier Wänden meiner kleinen Einraumwohnung, wo mir oftmals die Decke auf den Kopf zu fallen drohte, mein einsames Singledasein. Meine inzwischen fast zehnjährige Tochter, die mit ihrer Mutter und derem neuen Lebensgefährten scheinbar recht glücklich gleich nebenan im Nachbarhaus wohnte, bekam ich nur einmal im Monat zu Gesicht. Die Arbeit in der Altenpflege, die mich einst so sehr ausgefüllt hatte, diente inzwischen fast nur noch dazu, mir mein ohnehin kärgliches Leben zu finanzieren. Und auch das mir so liebgewordene Geschichtenschreiben, mit dem ich schon so manche Stunde meinem grauen Alltag für ein kleines Weilchen zu entfliehen vermocht hatte, war an einen toten Punkt gekommen. Kurzum: Ich hatte das Leben einfach satt. Eine Bekannte hatte mir dann irgendwann von ihrem Norwegenurlaub und der atemberaubenden Schönheit eines Sonnenaufgangs am Geirangerfjord mit den Worten vorgeschwärmt: "Es gibt wohl keinen schöneren Moment und kein schöneres Bild, um seine Augen für immer zu schließen!". Seitdem ließ mich jener Gedanke einfach nicht mehr los: An den steilen Abhängen des Geirangerfjords jenen einmaligen Sonnenaufgang erleben, ihn festhalten und dann einfach alles loslassen, die Augen zumachen und den einen kleinen Schritt zu weit gehen. Und so hatte ich mir am Morgen jenes sonnigen Junitags kurzentschlossen meine abgewetzte schwarze Lederjacke übergeworfen und mit einer Digitalkamera und einer alten Ausgabe der Heiligen Schrift im spärlichen Gepäck eine einfache Hinfahrt ins Norwegische gebucht und auch sofort angetreten. Und am Ende stand ich dann nach einer recht imposanten Reise mit Bus, Bahn und Schiff in schwindelerregender Höhe am Rande des Fjords und schaute lang und tief in den Abgrund, der - ganz den Worten Nietzsches folgend - dabei auch mehr und mehr in mich hineinschaute. Es reizte mich in diesem Moment, wie schon sooft in meinem Leben, die furchterregende Höhe einfach durch einen raschen Sprung in die Tiefe zu überwinden. Dennoch trat ich zunächst von jenem Abgrund wie auch von meinem Vorhaben zurück, hatte ich doch noch nicht jenen ultimativ letzten Sonnenaufgang genossen.

Langsam brach inzwischen die Nacht über mir und damit auch über dem Fjord herein. Es wurde mit einem Male spürbar kälter. Und so entschloß ich mich, mich für die verbleibenden Stunden bis zum Tagesanbruch in wärmere Gefilde zu begeben. Ein Hotel oder eine Pension kamen dabei für mich angesichts meines spärlich gefüllten Geldbeutels von vornherein gar nicht erst infrage, aber um die Zeit mit einer Tasse Milchkaffee und einem Whiskey in einer nahegelegenen Gaststätte mit dem verheißungsvollen Namen "Last Stop B4 Heaven" zu überbrücken, sollte es doch wohl reichen. Und so hielt ich Einkehr in jene kleine Lokalität, die mit ihren roten Polstersitzbänken und den dazwischen angebrachten Sprelakat-Tischplatten wie eine Mischung aus zeitloser US-Gemütlichkeit und längst vergangenem DDR-Schick anmutete. Gedankenversunken schlurfte ich über den weißgekachelten Boden hinweg, wobei ich mich schon einmal meiner Lederjacke entledigte und zwängte mich schließlich an einer jener Tischplatten auf ein Sitzbankpolster. Von meinem gewählten Platz am Fenster hatte ich freie Sicht auf das Fjord wie auch auf die drei Zapfsäulen der Tanke, die zu dem Lokal zu gehören schien. Dabei staunte ich nicht schlecht, als ich an einer jener Säulen sogar die Aufschrift "Cerosin" entdeckte. Viel Zeit zum Staunen blieb mir freilich nicht, denn noch während ich meine Jacke neben mir auf die Bank fallen ließ und meine Kamera wie auch die mitgeführte Bibel auf der Tischplatte ablegte, trat von seinem Platz hinter der Theke ein Mann an mich heran, der mich sogleich auf Norwegisch ansprach. Ich antwortete ihm mit ein paar hingeworfenen und sicher keineswegs akzentfreien Brocken meines Schulenglisch, daß ich seine Sprache nicht verstünde und vorerst gern einen schönen warmen Milchkaffee trinken würde. Der Mann nickte kurz und erwiderte in ebenfalls gebrochenem Englisch: "Allrite, Sir! One Coffee 4 you with some milk and no sugar! Makes 2 point 40 Euros @ all!". Ich kramte kurz in der Hosentasche meiner Jeans und zog schließlich ein wenig Klimpergeld hervor, alles in allem zwei 1-Euro-Münzen und drei 50-Cent-Stücke, die ich vor mir auf den Tisch legte. Der Mann griff sich in Windeseile die beide Euromünzen und zwei der anderen Geldstücke, wobei er sogleich auf dem Hacken kehrt machte und im Gehen noch rasch verkündete: "God bless you, Sir!".

Ich schüttelte nur ungläubig den Kopf, dann nahm ich meine Bibel zur Hand und schlug sie an jener Stelle auf, wo zwischen zwei Seiten als Lesezeichen ein Brief mit der handgeschriebenen Widmung "Für meine Tochter" eingeschoben war. In jenem kurzen Schreiben hatte ich versucht, ihr die Beweggründe meines unmittelbar bevorstehenden Handelns verständlich zu machen. Mehr als einmal war bei diesem schwierigen Unterfangen die eine oder andere Träne auf das frischbeschriebene Papier herabgefallen, was die Zeilen letztlich an mehreren Stellen doch recht unleserlich werden ließ. Und dennoch hoffte ich, wenigstens sie würde mich verstehen, wenn es dafür auch sicher einiges an Zeit bräuchte. Sanft, ja fast zärtlich, strich ich bei dem Gedanken an sie über den fest verschlossenen Briefumschlag, dann widmete ich mich den dick angestrichenen Versen des Bibeltextes unmittelbar daneben. Dort sprach Hiob einst im gleichnamigen Buch am Ende des 17. Kapitels: "Vorbei sind meine Tage. Meine Pläne, die Wünsche meines Herzens, sind zunichte. Die Freunde sagen mir, die Nacht sei Tag. Das Licht sei mir ganz nah, behaupten sie, obwohl die Finsternis mich überfällt. Mir bleibt als Wohnstatt nur die Totenwelt, im Dunkel dort kann ich mich niederlegen. Das kalte Grab - ich nenn es meinen Vater, die Maden meine Mutter, meine Schwestern. Da sollte es für mich noch Hoffnung geben? Kann jemand nur ein Fünkchen davon sehen? Sie steigt mit mir hinunter zu den Toten und wird dort mit mir in den Staub gelegt". Mein Kaffee kam - schwarz wie die Nacht, die mich umgab. Ich schlug die Bibel zu und legte sie beiseite. Stattdessen ergriff meine rechte Hand nun das meiner Kaffeetasse nahestehende Porzellankännchen mit der Milch, von der ich dem bitteren Heißgetränk einen kleinen Schluck zufügte. Sofort verteilte sich die Milch im Kaffee und erhellte ihn damit zusehends. War die Nacht am Ende vielleicht doch Tag? Und reichte so ein kleines Fünkchen milchigweißer Hoffnung, um auch in meinem verfahrenen Leben noch eine ähnliche Wandlung zu bewirken? Ich war bereit, es darauf ankommen zu lassen in den verbleibenden Stunden bis Sonnenaufgang. Und so faltete ich unter der Tischplatte die Hände ineinander, schloß meine Augen und betete innerlich: "Herr, ich bin müde! Wenn Du mein Leben retten willst, dann schick mir doch ein solches Fünkchen Hoffnung - etwas, das meinem Leben wieder neuen Sinn gibt!". Ein leises Gähnen aus meinem Innern heraus verlieh dem Unausgesprochenen noch zusätzlich Nachdruck, während sich mein Kopf dabei - von mir unbemerkt - langsam immer weiter der Tischplatte näherte und letztlich auf ihr gänzlich zum Erliegen kam. Sanfter Schlummer umfaßte mich umgehend und hielt mich wohl mehrere Stunden gefangen, denn als ich durch ein brummendes Geräusch wieder hochschreckte, zeigte die Uhr an der Wand neben der Theke bereits 3:42 Uhr.

Ich reckte und streckte mich kurz, dann rieb ich mir mit beiden Handrücken über die verschlafenen Augen und blinzelte mit ihnen zum Fenster hinaus. Draußen goß es inzwischen in Strömen. Ein großer sonnengelber Reisebus, in dem schätzungsweise an die 90 junge Leute in strahlendweißen Kleidern und Anzügen saßen, sowie ein Meer von großflächig aufgezogenen dichten Nebelwolken versperrten mir dabei komplett die Sicht auf das Fjord. Der rauschebärtige Busfahrer öffnete unter lauten Zischen die Tür seines fahrbaren Untersatzes, wozu er - an seine Fahrgäste gewandt - lauthals verkündete: "Letzter Zwischenstop auf unserem langen Weg, Kinder! Eine Dreiviertelstunde bis zur Weiterfahrt!". Keiner der Reisenden machte jedoch verständlicherweise bei dem anhaltend starken Regenschauer Anstalten, sein trockenes Pätzchen im Bus zu verlassen. Lediglich ein einzelnes Mädchen mit roten Haaren, einer Stupsnase und unzähligen Sommersprossen, dessen Alter ich auf etwa 16 bis 18 Jahre schätzte, entstieg gleich nach dem Fahrer dem Bus. Und während der bärtige Mann unter dem Schutz einer himmelblauen Regenkutte zu meinem Erstaunen schnurstracks zur Zapfsäule mit dem Kerosin stiefelte, lief die junge Dame - der unfreundlichen Witterung um sie herum völlig schutzlos ausgeliefert - ganz gemütlichen Schrittes und erhobenen Hauptes in meine Richtung. Fast sah es so aus, als genieße sie das Herabprasseln des Regens auf ihr Gesicht und ihren Körper. Einen Moment lang blieb sie sogar mit weit ausgestreckten Armen und ebenso weit herausgestreckter Zunge stehen. Dann aber lief sie umso schneller weiter und betrat schließlich in ihrem langen, dünnen, blütenweißen Kleidchen das Lokal. Sie schaute sich dabei in alle Richtungen ganz genau um. Scheinbar suchte sie nach einem freien Sitzplatz. Und auch wenn es davon hier um diese Zeit bei nur einem knappen Dutzend Gästen jede Menge gab, steuerte sie letztendlich ganz zielgerichtet auf meine Sitzbank zu. Direkt neben mir blieb sie unvermittelt stehen, streckte mir ihre rechte Hand entgegen und verlautbarte: "Hallo Fremder! Ich heiße Synne! Du siehst mir so aus, als quälten Dich gerade eine Menge trüber Gedanken, und Du könntest ein bißchen Aufmunterung gebrauchen?!". Sichtlich perplex darüber, daß jene schöne Unbekannte mit dem roten Haar scheinbar in mir wie in einem offenen Buch zu lesen vermochte, brachte ich zunächst kein einziges Wort heraus. Und so fügte sie schließlich mit einem entzückenden Augenzwinkern und einem strahlenden Lächeln, welches sämtliche Sommersprossen auf ihren blaßrosanen Wangen zum Tanzen brachte, hinzu: "Na, hab ich nun recht?! Oder hab ich recht?!". Das Eis zwischen uns hatte sie damit gebrochen, und so erwiderte ich: "Hast schon völlig recht, irgendwie! Und vielleicht ist so eine kleine Unterhaltung mit Dir ja auch genau das Richtige, um mir meine noch verbleibende Zeit sinnvoll zu vertreiben". Das Mädchen Synne tat ein wenig überrascht: "Ach, dann bist Du also auch in einer Art Aufbruchstimmung?! Willst Du etwa auch verreisen? Wohin solls denn gehen? Weiter weg? Für längere Zeit?". Schwermütig schüttelte ich vor ihren erwartungsvoll leuchtenden Augen mein sich langsam senkendes Haupt hin und her: "Ach, laß uns doch nicht von mir reden. Sprechen wir lieber von Dir! Woher kommst Du? Und wohin führt Dich Dein Weg schon zu so früher Stunde?". Synne zuckte mit ihren breiten Schultern und erwiderte schließlich: "Nun, ich komme von einer Freiluft-Party auf einem Eiland, die für mich und all die anderen dort im Shuttlebus ganz plötzlich und unerwartet endete ...".

Hier unterbrach ich sie in ihrem herrlich ungestümen Redefluß, indem ich mit ausgesteckter Hand auf den anhaltenden Regen vor dem Fenster deutete und dazu raunte: "Verstehe! Ihr seid da draußen wohl ganz böse überrascht worden, wie?!". Wie von Geisterhand bewegt, senkte sich in diesem Moment ihr Haupt mit dem triefendnassen Haar. Unzählige der bis dato darin gefangengenommen erscheinenden Himmelstränen lösten sich schlagartig und rannen in Dutzenden von kleinen Bächen an ihrer Stirn und ihren Wangen herab, wobei es mir beim Passieren der niedergeschlagenen Wimpern so vorkam, als gesellte sich von dort zugleich auch noch ein wenig eigenes salziges Augenwasser hinzu. Wie ein kleines Häufchen Elend stand das zitternde Geschöpf mit schlaff herabhängenden Schultern so nun eine kleine Ewigkeit vor mir, und es herrschte ein geradezu bedrückendes Schweigen zwischen uns. Ein Zustand, dem ich schließlich ein Ende zu setzen versuchte, indem ich ihr meine abgelegte Lederjacke über die hauchdünn verschleierten Schulterblätter warf ein und ihr aus meiner Hosentasche hervorgeholtes und rasch entfaltetes Papiertaschentuch entgegenstreckte mit einem dazu gehauchten: "Bitteschön! Für Dich!". Eine ihrer schmalen Hände ergriff zögernd das dargebotene Tuch und leise schluchzend verkündeten ihre blaßroten Lippen: "Danke, mein Herr!". Ich hatte nicht die geringste Ahnung warum, aber während sich das junge Mädchen verstohlen mit dem weißen Papiertuch übers Gesicht und die Haare fuhr, schoßen mir jene Worte aus der biblischen Offenbarung des Johannes in den Kopf, die da lauten: "Und Gott wird alle ihre Tränen abwischen Es wird keinen Tod mehr geben und keine Traurigkeit, keine Klage und keine Quälerei mehr. Was einmal war, ist für immer vorbei". Kaum hatte ich dies zuende gedacht, da legte sie auch schon das feuchte Tuch aus ihrer Hand zusammengeknüllt vor mir auf den Tisch, wobei sie gleichzeitig ihren Kopf ruckartig hochriß, ihre feucht glitzernden Augen weit aufschlug und mit nun langsam zurückkehrendem Lächeln gen Lokaldecke und darüber verborgenem Himmelszelt erhobenem Blick verkündete: "Aber nun sind wir allesamt bereits unterwegs zu einer anderen, unendlich schöneren himmlischen Open-Air-Feierlichkeit, welche von niemandem anders als von einem meiner Väter höchstpersönlich ausgerichtet wird".

Auf den letzten Teil ihrer Ausführungen reagierte ich doch sehr erstaunt: "Einem Deiner Väter?! Hast Du denn mehrere?!". Synne sah mich entgeistert an und nickte dann lächelnd: "Ja, zwei! Einen, der in Oslo wohnt, und einen weiter oben". Während sie diese Worte sprach, betrachtete ich ihr dünnes weißes Kleidchen von oben bis unten, und meinte verblüfft: "Weiter oben als hier?! Aber ist es denn da nicht bitterkalt um diese Jahreszeit?". Synne schüttelte ihren Kopf wild hin und her, wobei ihr langes Haar die noch in ihm verbliebene Feuchtigkeit nun in Form eines feinen wäßrigen Nebels in alle Richtungen des Raumes versprühte. Und auch ihr ansteckender Charme begann zu sprühen, als sie mir augenzwinkernd entgegenhielt: "Nein, ganz im Gegenteil! Soweit ich den unzähligen Schreiben meines Vaters entnehmen durfte, erwarten mich dort sogar ganzjährig wahrhaft paradiesische Zustände und ein warmer, lauschiger Platz an einem stets überreich gedeckten Tisch". Ich nutzte jene Äußerung umgehend, um die junge Dame nunmehr endlich mit einer ausladenden Bewegung meiner ausgesteckten Hand einzuladen, mir visavis am Tisch Platz zu nehmen. Eine Sekunde lang zögerte sie noch, dann entdeckte sie vor mir auf der Tischplatte die dort abgelegte Digitalkamera und das in Leder eingebundene Büchlein mit dem goldfarbenen Kreuz und ließ sich sichtlich erschöpft auf den Sitzplatz mir gegenüber sinken. Das leise Seufzen, das sich - wohl ihrem tiefsten Innern entspringend - dabei durch ihre trockenen Lippen hindurch Bahn brach, nahm ich sogleich zum Anlaß unsere kurzzeitig unterbrochene Unterhaltung wieder aufzunehmen, indem ich fragte: "Möchtest Du vielleicht etwas trinken?! Eine Coke oder eine Selters?!". Synne überlegte kurz, dann erwiderte sie: "Durst hätte ich schon, war nämlich ein langer und anstrengender Tag für mich, aber ...". Bedrückt deutete sie auf den unteren Teil ihres dünnen Kleidchens, wobei sie nun zugleich ihre beiden Arme in die Ärmel meiner übergeworfenen Lederjacke eintauchen ließ. Ich schmunzelte: "Versteh schon, was Du meinst! Das letzte Hemd hat keine Taschen, wie?! Weißt Du was?! Ich lad Dich ein! Also, was darfs denn sein? Cola, Wasser oder Wein?!". Synnes Augen schauten fragend: "Ginge auch ein Bier aus der Dose?". Sichtlich beeindruckt antwortete ich: "Tja, warum denn nicht! Da nehm ich auch eins". Synne reckte daraufhin prompt den Arm in die Luft und rief aus voller Kehle in feinstem Norwegisch: "Herr Ober, zwei Dosen von Ihrem besten Hopfentrank bitte!". Der Mann hinter der Theke nickte und rückte daraufhin prompt mit zwei Literdosen Markenbier und zwei Gläsern an. Wieder kassierte er sofort ab, und wieder rundete er den Betrag zugunsten seines Trinkgeldes von sich aus nach oben auf - ein Umstand, der bei Synne wie auch bei mir nur für ein weiteres schmunzelndes Kopfschütteln sorgte. Im nächsten Moment schob mein Gegenüber zu meiner Verwunderung ihr Glas achtlos beiseite, öffnete mit geübtem Griff den Verschluß an der Oberseite ihrer Bierdose und prostete mir breit grinsend zu. Ich tat es ihr gleich, während sie ihre Dose bereits an ihrem Mund angesetzt hatte und in einem einzigen Zug leerte. Ein unterdrücktes Aufstoßen folgte, dann wischte sie sich mit dem Rücken ihrer rechten Hand über die noch schaumbedeckten Lippen und raunte: "Ah, das hat aber gut getan! So schnell wird es für mich wohl jetzt kein gutes norwegisches Bier mehr geben".

In diesem Moment entdeckte ich das Tatoo mit einem Schriftzug auf Norwegisch an ihrem rechten Unterarm, und fragte neugierig: "Was bedeutet das da auf Deinem Arm?". Synne schaute mir ganz tief in die Augen und antwortete: "Liebe. Das ist, ganz gleich in welcher Sprache auch immer, nämlich ein wahrhaft allmächtiges Wort, weißt Du?! Hat es doch die Macht, alles Böse auf dieser Welt mit Gutem zu überwinden - selbst den Haß wie er einer solch grauenvollen Tat entspringt, wie jener!". Damit schnellte ihr linker Zeigefinger in die Höhe und deutete auf den Fernseher über der Theke, über dessen Bildschirm einmal mehr in dieser Nacht all die schrecklichen Bilder vom blutigen Massaker auf der norwegischen Insel Utoya flimmerten. Ein als Polizist verkleideter Täter hatte bei einem Fest mit Zeltlager ohne jeden Grund mit einer Automatikwaffe das Feuer auf die dort friedlich versammelten Jugendlichen eröffnet und nach ersten Zeugenaussagen von Überlebenden einen nach dem anderen förmlich hingerichtet. Dem Nachrichtensprecher zufolge bezeichnete sich der brutale Mörder nach seiner Festnahme vor Ort durch ein Sondereinsatzkommando der norwegischen Polizei selbst als christlicher Fundamentalist. Meine bis dahin reglos auf der Spelakattischplatte vor mir ruhenden Hände ballten sich in diesem Augenblick wutentbrannt zu Fäusten. Erst Synnes sanfte Berührung meines Handrückens durch ihren zitternden Finger und das Erschrecken, das ihr Gesicht - wohl ausgelöst durch den Anblick meiner so plötzlich veränderten Gemütslage - befallen hatte, lösten jene zornige Verkrampfung in meinen Händen wieder. Und um eine Erklärung bemüht, stotterte ich: "Ich ... ich werde eben ... naja immer wütend, wenn ... wenn eine solche Bestie wie dieser Typ da ... wenn so jemend versucht, sich einen christichen Deckmantel überzuhelfen". Und meine Fassung langsam wiederfindend, ergänzte ich: "Das, was da auf Utoya geschah, hat ganz und gar nichts mit dem Wesen eines Christenmenschen zu tun. Nein, das Töten von Menschen ist und bleibt, mit welcher Begründung man es auch im Nachhinein zu rechtfertigen versucht, ganz und gar antichristlich!". Synne nickte traurig: "Ganz recht! Du sollst nicht töten! Niemand hat das Recht, ein gottgewolltes Leben gewaltsam auszulöschen - kein fremdes und auch nicht sein eigenes!". Bei ihrem letzten Satz mußte mächtig schlucken. Daß sie das jetzt gerade in diesem Moment ansprach, fast so als würde sie wissen, daß ich ... Ich verdrängte jenen, mir äußerst unangenehmen Gedanken sogleich wieder und kehrte stattdessen zu dem zurück, was ich eigentlich noch hatte anmerken wollen: "Wie dem auch sei: Ich möchte jedenfalls mal wissen, was in so jemandem vorgeht, wenn er in ein liebenswertes Gesicht wie das Deine schaut und dennoch eiskalt den Abzug durchdrückt". Synne schüttelte sichtlich betroffen ihren Kopf: "Ich hab da nicht die geringste Ahnung. Und ich weiß auch gar nicht, ob man das als normal denkendes menschliches Wesen überhaupt nachvollziehen kann oder auch will. Aber ich kann dafür umso besser nachempfinden, was in einem der Opfer in diesem Moment vor sich geht. Man bekommt mit einem Male so schreckliche Angst, wenn man direkt in die kalte, lebensbedrohliche Mündung einer Waffe hineinschaut. Und man denkt nur noch eins: 'Nein, bitte tun Sie das nicht! Tun Sie mir das nicht an! Ich habe doch noch mein ganzes Leben vor mir. Ich will doch noch lieben. Ich will einmal einem Kind das Leben schenken und es in meinen Armen halten. Ich will es heranwachsen sehen und neben ihm an der Seite eines liebevollen Partners älter werden. Ich will lachen, weinen, träumen, arbeiten - Liebe geben und empfangen. Leben will ich, einfach nur leben!' Dann aber hört man diesen entsetzlich dumpfen, ohrenbetäubenden Knall und weiß, das all das mit einem Mal vorbei ist. Und während einem langsam die Sinne schwinden, versteht man, wie wertvoll das Geschenk des Lebens ist, das man bei seiner Geburt erhalten hat und das einem nun auf gewaltsame Weise wieder entrissen wird, ohne daß man es auch nur annähernd in vollem Umfang nutzen konnte. Nicht einmal Zeit zum Tschüßsagen hat man mehr!".

Noch einmal griff ihre Hand nach der meinen. Und während ihre Augäpfel ein merkwürdiges feuchtes Glitzern umspielte, flehten ihre bebenden Lippen leise: "Würdest Du mir bitte einen großen Gefallen tun?". Mein nickender Kopf bewegte sich langsam auf den ihren zu, wozu ich mich flüstern hörte: "Alles, was Du willst!". Synne schluchzte kurz auf, dann sprach sie mit umso festerer Stimme: "Leider konnte ich mich vor meinem Aufbruch gestern nachmittag nicht mehr von meinen Eltern und meinen Freunden in Oslo verabschieden. Richte ihnen allen doch bitte etwas von mir aus! Sag ihnen, daß all das Schreckliche, das einem Menschen zustoßen kann, nur von kurzer Dauer ist, im Vergleich zu dem, was einen danach noch an unendlich Schönem erwartet! Sag Ihnen, daß es keinen Grund gibt, sich für irgendetwas auf dieser Welt zu fürchten, nicht einmal vor dem Tod! Erkläre Ihnen, daß sie nicht so unendlich traurig darüber sein sollen, daß ich so plötzlich fort mußte von ihnen, sondern daß sie sich vielmehr auf unser Wiedersehen einst an einem anderen Ort freuen sollen - jenem Ort, an den ich heute nur schon einmal vorausgehe! Tust Du das für mich?!". Kurz entzog sich meine rechte Hand ihrem Zugriff. Wie zum Schwur legte sie sich stattdessen auf die Bibel vor mir, während meine linke Hand sanft Synnes Schulter berührte, wozu ich aus tiefster Seele erwiderte: "Ja, mein Kind, mit Gottes Hilfe!". Voll Dankbarkeit drückten mir Synnes Lippen in dieser Sekunde einen gehauchten Kuß auf die kahle Stirn. Ihre betörende Stimme aber raunte: "Du bist ein guter Mensch, das spürt man! Gott segne Dich!"

Wie aus heiterem Himmel sprang sie mit einem Male auf und fragte: "Hättest Du vielleicht mal ein 50 Cent-Stück für mich?". Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was sie damit vorhatte, aber ich fing sofort an, voll Feuereifer mit den Fingern meine Jeanshosentaschen zu durchforsten, woraufhin ich binnen weniger Sekunden eine Handvoll Münzen hervorholte, die ich dann vor ihren erwartungsvollen Augen auf der Sprelacarttischplatte vor mir ablegte. Zielgerichtet entzogen Synnes schlanke Finger dem großen Kleingeldhaufen eine einzelne 50-Cent-Münze, mit der sie dann pfeilschnell die Jukebox in einer der düsteren Ecken des Lokals ansteuerte. Das Mädchen versenkte die das Geldstück im dafür vorgesehenen Schlitz, dann drückte sie einen der vielen Knöpfe an der Frontseite des nostalgisch angehauchten Musikgeräts. Und binnen weniger Sekunden fluteten die Schallwellen von Mindy Smiths "One Moment More" den Raum. Synne aber nahm inmitten des kleinen Lokals Aufstellung und begann, sich vor den Augen aller Anwesenden lächelnd wie in Trance im Kreis zu drehen. Ihre Füße vermochte man dabei unter dem Saum ihres hochgewirbelten langen weißen Kleides gar nicht zu erkennen, so daß es anmutete, als schwebe jenes reizende Geschöpf über den himmelblau gekachelten Fußboden. Wie grazil sie sich zu den gefühlvoll Klängen der Musik bewegte, verschlug einem dabei fast den Atem. Und das ging scheinbar nicht nur mir allein so, denn längst waren die Blicke aller Anwesenden, deren Münder weit offenstanden, nur noch auf sie und ihre unbeschwerte Tanzdarbietung gerichtet. Das strahlende Lächeln des Mädchens wirkte zudem scheinbar ansteckend, denn es zog innerhalb kürzester Zeit auch in den bis dahin wie versteinert wirkenden Minen sämtlicher Zuschauer ein. Irgendwann hielt Synne für einen Moment inne, streckte ihre Hand nach mir aus und winkte mich mit deren Zeigefinger zu sich heran. Was dann geschah, war einfach unglaublich. Denn war es bis dato nur einer Handvoll Damen gelungen, mich unter Anwendung aufwändiger Überredungskünste und all ihres weiblichen Charmes auf die mir stehts so fremde Tanzfläche zu locken, so zögerte ich in dieser einmaligen Situation auch nicht nur einen einzigen Moment. Ich stand auf und ging auf sie zu. Und während sie ihr schwereloses Schweben wieder aufnahm, begann ich sie mit den recht unbeholfenen und kantigen Bewegungen meines Körpers zu umrunden - wie ein grauer Planet, der auf fester elliptischer Bahn die strahlende Sonne umkreist ... wieder und wieder. Meine Augen nahmen dabei nur noch sie wahr. Und es war mir völlig gleichgültig, daß ich mich wohl wie der von einem Erdbeben der Stärke 10 durchgeschüttelte rostige Blechmann aus dem "Zauberer von Oz" bewegte uns etwa ein Dutzend Augenpaare anstarrten. Und in dieser - für Außenstehende sicher ohnehin schon recht bizarr anmutenden Situation - ergriff sie mit einem Male meine umhergeworfenen Hände, und wir drehten uns fortan im Kreis umeinander. Unsere Blicke versanken dabei immer tiefer ineinander. Und während ich so allein durch den intensiven Augenkontakt mehr und mehr den Eindruck gewann, die geheimsten Gedanken jener schönen Unbekannten enträtseln zu können, erschien es mir, als würde sie mit der Umklammeung meiner Hände gleichsam den Versuch unternehmen, diesen einzigartigen Moment für die Ewigkeit festzuhalten. Diesen Moment, der für uns beide von so kurzer Dauer und dennoch so unglaublich voller Leben war, wie kein anderer je zuvor. Ein dumpfer, lauter Klang beendete den kostbaren Augenblick jäh. Er ließ uns aufschrecken und erzittern. Er trennte uns wieder voneinander. Jenes brutale Geräusch riß uns brutal heraus aus dem eben noch so intensiv empfundenen Gefühl des Einander-Gegenseitig-Haltgebens, und damit gleichsam auch aus dem Leben. Still standen wir sekundenlang da, und mit uns scheinbar auch unsere Herzen und die ganze Welt um uns herum. Dann blinzelte mir Synne mit einer kleinen Träne im Auge ein letztes Mal zu und lief ohne ein weiteres Wort nach draußen, wo der Busfahrer - dessen Hupen unsere gemeinsame Tanzdarbietung zuvor so jäh beendet hatte - nun bereits den Motor startete.

Leicht wie eine Feder entschwebte Synnes engelhafte Erscheinung vor meinen Augen über das Trittbrett ins Innere des Busses. Ich aber lief zurück an unseren Tisch, um meine Kamera zu ergreifen und ihr dann nach draußen nachzueilen. Als ich dort völlig außer Atem anlangte, hatte der Busfahrer mit dem ringförmigen Oberlicht über seinem Sitzplatz längst die Tür geschlossen und war losgefahren. Und so entfernte sich nun sein Gefährt und mit ihm auch die bezaubernde Synne, welche mir noch minutenlang durch das hintere Busfenster zulächelte und zuwinkte, im uns allesamt umgebenden dichten Wolkenmeer mehr und mehr meinem tränenverschleierten Blick. Ich aber stand die ganze Zeit nur wie erstarrt da, mit meinem kurzen Shirt und meiner Jeans inmitten der morgendlichen Kälte. Erst als das süße Antlitz Synnes in der Ferne am Horizont zwischen all der nebligen Wolken und vor der blendenden Silhouette der darin langsam aufgehenden Sonne komplett zu entschwinden drohte, löste sich meine Bewegungsunfähigkeit wieder. Mit wenigen Handgriffen machte ich meine Digicam betriebsbereit, richtete sie zwischen mir und dem wegfahrenden Bus aus und drückte auf den Auslöser. Ein kurzes Klicken signalisierte mir den Erfolg meiner Aufnahmebemühungen. Und als ich die Kamera wieder sinken ließ, waren Synne, all die anderen Fahrgäste und auch der Bus verschwunden - wie es mir schien, inmitten jenes strahlendblauen Himmels, an dem nun das helle Licht der sich Bahn brechenden Sonne das Leuchten in Synnes Augen zu ersetzen versuchte. Ein neuer Tag hatte begonnen, der erste ohne Synne.

Das unsinnige Vorhaben, meinem Leben ein Ende zu setzen, hatte ich längst begraben. Die Begegnung mit Synne und ihre zu Herzen gehenden Worte hatten mich letztlich davon abgebracht. Ihre unbändige Lebensfreude hatte mich ergriffen und mitgerissen. Ja, ich wollte wieder leben - leben und jeden neuen Tag in vollen Zügen genießen. Und das tat ich auch, zuallererst schon wenige Stunden später bei meiner Heimreise nach Deutschland in den vollen Zug nach Berlin und dann weiter nach Hennigsdorf. Ich glaubte ehrlichgesagt nicht, das Mädchen Synne noch jemals im Leben wiederzusehen. Und doch begegnete mir ihr strahlendes Gesicht schon wenige Tage später. Es lächelte mich von einem kleinen unscheinbaren Bild auf dem Cover einer gleichnamigen deutschen Tageszeitung her an - schwarzumrahmt eingebettet in die Fotos von 43 anderen jungen Menschen. Jenes Blatt gedachte damit, so verriet es der Schriftzug in der Mitte der Titelseite, der Opfer von Norwegen - unter denen sich auch Synne befand. Synne Royneland - geboren am 18. Januar 1993 in Oslo, gestorben im Kugelhagel eines skrupellosen, geistesgestörten Attentäters am 22. Juli 2011 auf der Insel Utoya. Unter Tränen wurde mir dabei bewußt, daß ich wohl der Letzte und gleichzeitig der Erste nach ihrem gewaltsamen Ableben war, der hier auf Erden noch das Glück hatte, sie und ihre unwiederbringliche Art kennenzulernen. Sie, die am Vortag ihr eigenes Leben auf so tragische Weise verloren hatte, rettete auf ihrer Himmelfahrt das meine. Synne Royneland war für mich das Fünkchen Hoffnung, um das ich Gott in meiner dunkelsten Stunde gebeten und das den fast schon erloschen geglaubten Lebenswillen in mir neu entfacht hatte. Bei dieser Gelegenheit sollte ich vielleicht auch gleich noch erwähnen, daß aus meinem Foto von der samt Bus inmitten der Wolken in Richtung Himmel entschwindenen Synne nichts geworden ist. Entweder war die Aufnahme völlig überbelichtet, oder ich in meiner Kunst zu fotografieren, an jenem frühen Morgen einfach etwas zu unterbelichtet. Denn anstelle des herrlichen Panormas des Geirangerfjords, der darüber aufgehenden Sonne, des schleierhaften Nebelwolkenmeers und eines Busses mit einem lächelnden Engel offenbart der entsprechende Schnappschuß nur eine große weiße Leere. Eine große Leere, wie der Verlust eines liebenswerten Menschen sie wohl in jedem Zurückgebliebenen hinterläßt und wie sie erst im Laufe der Zeit nach und nach von all den verbleibenden, schönen Erinnerungen an den teuren Verblichenen auszufüllen vermögen. Bilder mit solch einem Erinnerungswert gibt es von Synne übrigens jede Menge zu entdecken, stößt man im Internet erst auf die Webseite mit ihrem Blog, wo sie all ihre Gedanken und Empfindungen sowie ihre herrlichen, von unbändiger Lebensfreude nur so strotzenden Fotos mit dem Rest der Welt geteilt hatte. In diesem Online-Fotoalbum-Tagebuch aber lebt Synne Royneland damit für alle Zeit weiter, ebenso wie in den Herzen ihrer Familie sowie all ihrer Freunde und Bekannten. Und auch in meinem Herzen hat sie längst ihren festen Platz - jenes junge Gotteskind, das die unbezahlbare Gabe besaß, die schönen Dinge dieser Welt fotografisch einzufangen und mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit all der irdischen Trübsal wie auch der meinen das scheinbar verlorengegangene Lächeln zurückzugeben ...

[ENDE]

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Freitag, 6. April 2012, 13:35

Was nun folgt, ist weniger eine Kurzgeschichte im eigentlichen Sinne und eben doch viel mehr als ein einfacher Ostergruß ... vielleicht ja soetwas wie ein mehrteiliger (vor-)österlicher Glaubensanstoß von mir, der ich die Tage zwischen Karfreitag und Ostermontag immer wieder ganz persönlich als die Zeit erlebe, in der mir Gott in Form des gekreuzigten Christus besonders nahe erscheint. Mit ihm sterben in diesen Tagen auch in diesem Jahr einmal mehr all meine Trübsal und Qual und mein Glaube wird mit ihm aufs Neue lebendig ...



"Um letzten Endes nicht auf ewig dran glauben zu müssen, muß man zuerst einmal nur endlich anfangen, dran zu glauben, daß der, der sich einst am Kreuz hängen ließ, uns niemals hängen läßt! Wer diese Einsicht noch zu Lebzeiten gewinnt, der verliert damit die Angst vorm Sterben und erfreut sich bereits auf Erden himmlischer Aussichten". (Sven Schindler)



KARFREITAG ... Genau der richtige Zeitpunkt, um mal wieder sein altes Leben mit der eigenen Selbstverliebtheit sowie den Verletzungen und der Boshaftigkeit gegenüber seinen Mitmenschen an den Nagel zu hängen. Oder aber auch, um sich die eigenen eitlen Lebenspläne von einer höheren schöpferischen Instanz durchkreuzen zu lassen ...



KARSAMSTAG ... Genau der richtige Moment, um seine streßgeplagte Seele in Frieden ruhen zu lassen, indem man vom alltäglichen Gehetztsein aus der Furcht heraus, man könne im Leben etwas verpassen, Abschied nimmt und zudem all seine Sorgen und Ängste sowie sämtliche übertriebenen Wunschvorstellungen gleich ein für alle Mal begräbt ...



OSTERSONNTAG ... Genau der richtige Augenblick, all das Dunkel des am eigenen Leibe erfahrenen irdischen Leids hinter sich zurückzulassen und die Wahrheit einer unauslöschlichen himmlischen Liebe ans Licht zu befördern, um so seinen Glauben und seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft einmal mehr mit aller Kraft zu neuem Leben zu erwecken ... Eben die Zeit für ...

EIN FROHES UND REICH GESEGNETES OSTERFEST !!!

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17

Dienstag, 24. April 2012, 18:56

Die nachfolgende Kurzgeschichte aus meiner Feder ist an einen kurzen und mich dennoch unwahrscheinlich berührenden Tagtraum angelehnt. Ich wünsche Euch Gute Unterhaltung! :wolke7:

Gesammelte Augenblicke

Wie rasch es um einen herum doch manchmal dunkel werden konnte, dachte ich noch so bei mir, da ich mit den zwei eisgekühlten Flaschen Bier in Händen aus der kleinen Küchennische des irgendwie fremden und doch einst so vertrauten Appartements zurückkehrte und mich nunmehr anschickte, durch die weit offenstehende Balkontür auf die breite Dachterasse hinauszutreten. Draußen war es tatsächlich mit einem Schlag nahezu stockdunkel geworden. Lediglich das fahle Licht des Mondscheins am sternenklaren, dunkelblauen Himmelszelt ließ mich in einigen Metern Entfernung am Rande der Terassenfläche zwei nahezu unscheinbare Silhouetten erkennen. Diese zeichneten sich dort einzig und allein dank der immer wieder rosafarben aufflackernden und in Form eines Wölkchens daherkommenden Leuchtreklame des auf der gegenüberliegenden Straßenseite angesiedelten Brautmodegeschäfts mit dem vielversprechenden Namen "Wolke 7" ab. Obwohl, von zwei Silhouetten konnte man da eigentlich gar nicht mehr reden. Denn die beiden von ihnen verkörperten Gestalten erschienen mir so eng miteinander, daß sich ihre Umrisse längst völlig vereint hatten. Ja, die Zwei - sie und er - waren inzwischen sichtlich eins geworden, untrennbar miteinander verbunden. Für einen kurzen Augenblick erinnerte ich mich bei diesem Anblick daran, daß auch ich mit ihr in früheren Zeiten das eine oder andere Mal so dagestanden hatte, eng aneinander geschmiegt, ihren aufgeregten Herzschlag deutlich an meiner Brust verspürend, meine Lippen sanft auf die ihren gelegt. Es war keineswegs Neid, was dabei nun in mir aufkam, sondern vielmehr das Gefühl, über jene zärtliche Erinnerung teilhaben zu dürfen an dem, was die beiden Frischverliebten vor meinen Augen gerade hautnah miteinander erlebten. Wie himmlisch schön war es doch, dieses unheimlich starke Kribbeln im Bauch, das man verspürte, wenn der andere einem langsam immer näher kam, wenn er einen mit den Händen überall sanft berührte, einen schließlich erst mit den Armen fest umschlang und ihn dann im wild einsetzenden Spiel der Zungen scheinbar ganz zu verschlingen suchte.

Ein paar Tränchen der Rührung schossen bei diesem Gedanken unvermittelt in meine Augen und verschleierten mir dabei zugleich ein wenig den sonst oftmals allzu klaren Blick. Im dabei langsam verschwimmenden Sternenmeer des Abendhimmels erschien es mir schließlich sogar, als ob die beiden innig Liebenden mit ihren sich gegenseitig fest aneinanderklammernden schmalen Hüften, den etwas breiter angelegten Schultern und ihren sanft aneinandergepreßten Köpfen die perfekte Form eines Herzes bildeten. Ja, kein Zweifel, die Zwei waren ein Herz - ein Herz und eine Seele. Sie, aus einer inneren Berufung heraus von Beruf Pflegerin, pflegte nun am liebsten den Kontakt zu ihm. Und er, mit Leib und Seele Fahrer und Lenker von schweren Lastern, hatte seit neustem nur noch ein wirkliches Laster - nämlich sie. Die Beiden schienen einfach von der ersten Sekunde an wie füreinander geschaffen. Und so standen sie in meinen Augen in diesem bewegenden Moment auch nicht mehr einfach so auf einer schlichten dunklen Dachterasse. Nein, sie schwebten - allem Weltlichen entrissen in überirdischen, himmlischen Sphären, die Sterne zum Greifen nahe - über den Dingen auf einer rosa Wolke, welche im unregelmäßigen Takt zweier wild pochender Herzen aufblitzte. Einen Augenblick lang wohnte ich noch jenem, für mich wie für die Beiden wohl auf ganz unterschiedliche Weise gleichermaßen atemberaubenden Schauspiel bei, dann stellte ich vorsichtig die sich in meinen berührten Händen langsam erwärmenden Bierflaschen auf einem nahegelegenen Fenstersims ab. Unter gar keinen Umständen wollte ich jenes so zauberhafte Paar und den von ihm sichtlich genossenen kostbaren Moment intimer Zweisamkeit länger stören. Der Rest des Abends und die Nacht gehörten schließlich nur ihnen Beiden ganz allein. Und so kehrte ich ihnen den Rücken zu und verließ auf leisen Sohlen die Wohnung über das dunkle Treppenhaus.

Unten auf dem kleinen Platz angekommen, welcher die Verbindung zum benachbarten Hochhaus darstellte, vernahm ich wenige Augenblicke später die erst ganz leisen, dann aber langsam immer lauter werdenden Stimmen von Leuten. Ich glaubte schließlich, darunter auch die mir wohlvertraute Stimme einer guten alten Bekannten zu erkennen. Ich sollte mich nicht geirrt haben, denn nur wenige Sekunden später stand eben jene keineswegs so alte und dennoch bekannte Frau vor mir, umringt von einer Traube etwa gleichaltriger Männer und Frauen, und gab mir unmißverständlich zu verstehen, daß sie allesamt gerade von einer Feier bei meiner früheren, mittlerweile im Nachbarhaus lebenden Lebensabschnittsgefährtin kämen, die sich mit einem Male wie aus heiterem Himmel ein wenig unwohl gefühlt und sie aus diesem Grunde nach Hause geschickt hätte. Jene Nachricht versetzte mir einen spürbaren Stich ins Herz, und so verabschiedete ich mich in aller Eile von meiner Bekannten und lief dann raschen Schrittes dann über den frisch asphaltierten Platz hinweg die Treppen des Nachbarhauses hinauf, bis ich völlig außer Puste vor ihrer Wohnungstür zum Stehen kam. Fest entschlossen drückte ich zweimal kurz hintereinander auf den daneben befindlichen Klingelknopf. Es dauerte einige Sekunden, dann vernahm ich von drinnen her ganz deutlich Schritte, die sich mir näherten. Schließlich sprang die Tür vor meinen Augen auf, und da stand sie. Sie - das war einmal meine große Liebe gewesen - und im Grunde genommen würde sie wohl auch nie ganz aufhören, es zu sein. Mit leicht zerzausten Haaren erschien sie mir hier nun im langen Bärchennachthemd und blinzelte mich überrascht an, wozu sie leise fragte: "Was machst Du denn hier?". Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen uns. Und dennoch war es keinesfalls jenes bedrückende, eisige Schweigen, das während unserer gemeinsamen Jahre oftmals Tage lang zwischen uns geherrscht und uns dabei einander wohl letztlich auch mehr und mehr entfremdet hatte. Nein, sie wartete eben nur auf eine Antwort von mir, und ich war zunächst einmal viel zu sehr beschäftigt, sie ganz genau von oben bis unten zu betrachten, um ihr diese sofort geben zu können. Selbst jetzt, da ich ihr sofort anzumerken vermochte, daß es ihr körperlich nicht besonders gut ging, sah sie unglaublich gut aus. Natürlich war das Älterwerden auch an ihr in den Jahren seit unserer Trennung nicht ganz spurlos vorbeigegangen, zudem wirkte ihr blasses Gesicht irgendwie ein wenig gräulich. Und dennoch strahlte es von innen heraus ein leises Glück aus, wie ich es an ihr nur in den ersten Jahren unseres Zusammenseins bemerkt hatte.

Ich blinzelte ihr kurz zu, dann holte einmal ganz tief Luft und erklärte mich ihr: "Ich wollte einfach mal nach Dir sehen, weil ich mir ein wenig Sorgen machte, als ich hörte, daß es Dir nicht gut geht". Zu meiner Überraschung schickte sie sich gar nicht an, meine kurze und knappe Erklärung irgendwie zu hinterfragen, wie es früher doch sonst stets ihre Art gewesen war, sondern bat mich ein wenig zurücktretend mit einer weit einladenden Geste ihres linken Armes zu sich hinein. Sie war mir dabei stets einen Schritt voraus und führte mich über den langen Flur direkt in ihr Schlafzimmer, dessen Doppelbett sie anscheinend gerade frisch beziehen wollte, als mein plötzliches Erscheinen sie dabei unterbrochen hatte. Ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, drückte sie mir das Kopfkissen und den zugehörigen Bezug mit dem mir schon vertrauten Rote-Rosen-Muster in die Hände. Und ich ergriff Beides ebenso wortlos und begann, das Kissen zu beziehen. Sie hingegen ließ sich langsam auf dem Bettlaken nieder und schaute mir schweigend zu. Als ich mein Werk vollendet hatte, deutete mir ein kurzer Fingerzeig ihres linken Zeigefingers an, es ihr doch bitte gleich zu tun, und so kam es, daß ich nur eine Sekunde später neben ihr saß. Die Blicke unserer sich langsam einander zuwendenden Augenpaare begegneten sich dabei - erst schüchtern und kurz, dann schon mutiger und etwas länger. Ich hatte sogar das Gefühl, für den Bruchteil einer Sekunde jenes von mir früher so sehr geliebte Lächeln über ihr Gesicht huschen zu sehen. Ein faszinierendes Lächeln, das einem offenen liebevollen Herzen entsprang und sich nach einem gleichermaßen herzlichen Zurückgeliebtwerden zu sehnen schien. Da! Da war es schon wieder, doch diesmal verweilte es. Da saß sie nun also wieder neben mir mit funkelnden Augen, so bezaubernd schön lächelnd wie eh und je und ihr ein wenig zitterndes Händchen war mir zu Greifen nah. Und was tat ich?! Nun, ich genoß einfach diesen Moment. Ich schloß für einen Augenblick meine Augen, und versuchte, mir im Geiste ein unvergängliches Abbild davon zu schaffen.

Als ich die Augen wieder aufschlug, saß sie tatsächlich immer noch ganz dicht neben mir. Dann war es also kein Traum gewesen?! Wie nach einer Bestätigung suchend, beugte sich mein Kopf zu ihr herüber und gleichzeitig herunter, bis meine Lippen sanft küssend ihr linkes Knie berührten. Mmh, ja sie duftete und schmeckte tatsächlich noch immer genauso verführerisch, wie ich es in Erinnerung hatte. Erst als ich meinen Kopf wieder langsam erhob, bemerkte ich, daß wir gar nicht mehr auf einem Bett saßen, sondern auf einer blaugrauen Couch - unserer Couch, dem Sitzmöbel aus unserer gemeinsamen Zeit in unserer gemeinsamen Wohnung. Mein Blick schweifte ein wenig, denn er suchte nach dem dazugehörigen blaugrauen Sessel. Er fand ihn auch - allerdings zu meinen Entsetzen besetzt von einem fremden Mann. Der wiederum schaute mit versteinerter Miene herüber, wobei ich nicht genau erkennen konnte, wem sein schauriger Gesichtsausdruck nun mehr galt - mir, der mit dem Rücken zu ihm neben mir Sitzenden oder aber einfach der ungewöhnlichen Situation an sich. Mittlerweile schien auch die Frau an meiner Seite erkannt zu haben, daß hier irgendetwas nicht stimmte. Dabei folgte sie wie in Zeitlupe meinem starr an ihrem, nur teilweise vom Nachtkleid verhüllten Oberschenkel vorbeigerichteten Blick und entdeckte schlußendlich ebenfalls unseren mir unheimlichen, heimlichen Beisitzer.

Wortlos sprang sie mit einem einzigen Satz auf, lief freudestrahlend zu dem Fremden herüber und hüpfte kurzerhand ohne Umschweife auf seinen Schoß. Die Beiden schlangen unvermittelt die Arme umeinander und begannen dabei, sich voller Leidenschaft zu küssen. Seine ungestümen Hände durchwühlten ihr zerzaustes Haar, und ich konnte das stürmische Zusammentreffen ihrer Lippen erkennen, während mein Ohr bereits das leicht schmatzende Geräusch ihrer sich nacheinander verzehrenden Münder vernahm. Wie von selbst senkte sich dabei mein Blick. Wie nah war ich doch vor wenigen Sekunden noch daran gewesen, den längst verlorengeglaubten siebenten Himmel an ihrer Seite auf ebensolche Art und Weise noch einmal für mich zurückzuerobern?! Und nun schien jener Himmel mit der rosa Wolke und den so greifbaren Sternen von einer Sekunde auf die andere wieder schlagartig unerreichbar. In mir aber kam aus dem Grunde tiefster Enttäuschtheit heraus der unerfüllbare Wunsch auf, die Augen, da ich sie noch vor ein paar Minuten im Zuge höchster Glückseligkeit geschlossen hatte, doch im Leben überhaupt nie wieder geöffnet haben zu wollen. Mit diesem unguten Gefühl im Bauch und der von irgendwo aus der Nähe meines Nachbarblocks durchs weitgeöffnete Fenster zu meinen Gehörgängen vordringenden Melodie von Connie Francis' Oldie-Schlager-Ohrwurm "Die Liebe ist ein seltsames Spiel, sie kommt und geht von einem zum andern" erwachte ich aus meinem Traum, der sich am Ende doch mehr zu einer Art Trauma entwickelte.

Dennoch oder vielleicht auch gerade deshalb gibt das Ganze - so nah am wahren, sich doch eher selten traumhaft gestaltenden Leben angesiedelt - mehr als genug Stoff für eine kleine leidenschaftlich vorgetragene Kurzgeschichte her, deren musikalischer Ausklang in mir zudem die leise Hoffnung aufrechterhält, daß Fräulein Francis unter Umständen letztlich doch Recht behält und daß eines Tages auch ich wieder einmal derjenige sein werde, bei dem jenes seltsame, oftmals so flüchtige und trotzdem so ungemein sinnliche Spiel der Liebe in seiner weiblichsten Form anzukommen und dann auf längere Zeit zu verweilen gedenkt ...

[ENDE]

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Montag, 20. August 2012, 07:49

Da es mal wieder Zeit für etwas Neues in diesem Thema wird, hier zur Abwechslung jetzt mal eine Mischung aus Geschichtchen und Gedichtchen. ;)

Meiner großen Liebe

Das mit Dir, das war Liebe auf den ersten Blick. Es zog mich gleich zu Dir hin.
Und seitdem habe ich, wannimmer ich Dir wiederbegegne, nur einen Wunsch:
Ich möchte auf der Stelle ganz tief in Dich eindringen und
mich dann unaufhörlich ganz langsam immer wieder in Dir hin und her bewegen.

Verlassen will ich Dich nie,
und doch kommt am Ende jeder unserer Begegnungen einmal der Moment,
an dem ich mich wundervoll entspannt aus Dir zurückziehe
und mich schon im Gehen aufs Immer-Wieder-Kommen freue.

Ich bin so unendlich dankbar, daß es Dich gibt …
Dich und all Deine Schwestern,
deren einladende Öffnungen mir inzwischen
genauso vertraut sind wie die Deinen.

Und wenn ich in einer einsamen Stunde
ganz tief in mir Sehnsucht nach Dir verspüre,
dann nehme ich rasch Dein Foto zur Hand
und träume von unseren gemeinsamen Stunden …


Na, hast Du Lust bekommen, auch mal einen Blick auf meine große Liebe zu werfen?! Dann kannst Du sie HIER jederzeit in voller unverhüllter Schönheit bewundern!

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Mittwoch, 21. November 2012, 17:28

Und hier nu jleich noch 'n Jedicht nach eener Anrejung vom Drei Jroschen Opa! :thumbsup:

"Ich benötige keinen Grabstein"
(frei nach Bert Brecht)

Ich benötige keinen Grabstein.
Aber wenn ihr einen für mich benötigt,
wünschte ich, es stünde darauf:
Er hat Geschichte(n) geschrieben.
Wir haben sie gelesen, verstanden
und daraus gelernt.
Durch eine solche Inschrift
wären wir alle geehrt.

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20

Mittwoch, 26. Dezember 2012, 13:17

Meine heutige Kurzgeschichte mag einem auf den ersten Blick vielleicht gar nicht wie eine Weihnachtsgeschichte erscheinen. Sie entstammt im Grunde genommen von ihrer Idee her nicht einmal meiner Feder, sondern ist dem Liedtext eines Songs des amerikanschen Coutrysängers Randy Travis entlehnt. Und dennoch paßt ihr Inhalt irgendwie zu diesen feierlichen Tagen, sofern man sie mit einem himmlischen Geschenk in Verbindung bringt und ihren Zusammenhang mit dem österlichen Geschehen recht zu verstehen mag ... ist es doch auch die Geschichte eines einfachen Dran-Glauben-Dürfens im Angesicht eines dreifachen Dran-Glauben-Müssens ... Genug der Vorrede: Einen besinnlichen zweiten Weihnachtsfeiertag Euch allen!

Drei Holzkreuze am Straßenrand

"Es saßen einst vier unterschiedliche Menschen zusammen im Mitternachtsbus nach Mexiko - ein Farmer, ein Lehrer, eine Prostituierte und ein Prediger. Und auch die Beweggründe, aus denen sie die lange Reise in das benachbarte Land antraten, waren dabei ganz verschieden. Einer von ihnen wollte sich einfach einmal so richtig erholen, für den nächsten sollte es eine Bildungsreise werden, die zwei anderen aber waren - auf gänzlich unterschiedliche Art und Weise - auf der Suche nach verlorenen Seelen.

Sie waren schon ein paar Stunden auf den sonst nahezu menschenleeren Straßen der Vereinigten Staaten unterwegs, als der nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag leicht übermüdete Busfahrer auf halbem Wege zwischen Alphaville und Omegatown an einer Kreuzung ein Stopschild übersah. Dem Fahrer eines Achtzigtonners, der dort gerade von rechts nach links seinen Weg passieren wollte, war es beim besten Willen nicht mehr möglich, rechtzeitig zu bremsen. Ein verzweifeltes dreifaches Hupen, ein gewaltiges Krachen und Scheppern - dann herrschte mit einem Male wieder völlige Stille ... Totenstille.

Der Trucker kam mit dem Schrecken davon. Der Busfahrer wurde von den kurze Zeit später eintreffenden Hilfskräften aus dem vorderen Teil des Wracks seines komplett schrottreifen Autobusses herausgeschnitten und überlebte schwerverletzt. Im künstlichen Koma fristet er den erbarmungswürdigen Rest seines Daseins auf der Intensivstation eines nahegelegenen Krankenhauses. Von den vier nächtlichen Fahrgästen aber haben den schrecklichen Unfall drei nicht überlebt.

Bis heute erinnern an jener Kreuzung unmittelbar vor dem Ortseingang nach Sincity drei kleine unscheinbare Holzkreuze an jene Tragödie. Warum es nicht vier sind, das weiß allein der Himmel. Was aber ist uns nun eigentlich von jenen drei verschiedenen Menschenseelen geblieben?! Der Farmer ließ ein im Schweiße seines Angesichts selbsterrichtetes Haus und eine reiche Ernte auf einem großen fruchtbaren Stück Land zurück sowie den in das Herz seines Sohnes gepflanzten festen Glauben, daß selbst aus dem kleinsten Samenkorn mit liebevoller Pflege einmal etwas ganz Großes und Wunderbares erwachsen kann. Der Lehrer hat uns all das Wissen, daß er über die vielen Jahre im Dienste der Schule vermitteln durfte, in den Köpfen seiner unzähligen Schüler hinterlassen und damit dafür gesorgt, daß sie allesamt geistig wie auch menschlich gut gerüstet ins Leben starten konnten.
Der Prediger, der in seinem Leben wohl mit seinen Andachten schon so Manchem zum Glauben zu verhelfen vermochte, aber flüsterte damals im Moment jenes Aupralls, während er seine blutverschmierte Bibel in die Hände der am ganzen Leibe zitternden Prostituierten und dann noch seine feste Hand beruhigend darauf legte, ganz sanft und ohne jedes Anzeichen von Furcht: 'Wollen wir jetzt nicht wenigstens noch einmal gemeinsam das gelobte Land schauen?!'".

Mit diesen Worten schloß der Prediger im kleinen hölzernen Kirchhaus von Sincity seine sonntägliche Andacht und hielt dabei das schwarze Büchlein mit dem goldenen Kreuzsymbol darauf, welches er bislang fest mit beiden Händen umklammert vor sich auf dem Pult liegen gehabt hatte, vor den Augen seiner versammelten zwölfköpfigen Gemeinde für alle deutlich sichtbar in die Höhe. Ein häßlicher angetrockneter dunkelroter Blutfleck überzog den kompletten schwarzen Einband jener Heiligen Schrift, auf den sich in diesem Moment zudem eine einsame Träne verirrte - von den meisten Anwesenden ganz und gar unbemerkt dem voller Dankbarkeit nach oben ausgerichteten Predigerauge entströmend.

Mehrfach nickend kehrte der Blick des Gottesdieners schließlich wieder zu seiner regungslos gespannt dasitzenden Gemeinde zurück. Und seine in Ehrfurcht erzitternde Stimme verkündete: "Ganz recht, liebe Gemeinde! Die Story von den drei Holzkreuzen am Straßenrand, das ist für mich nicht nur einfach irgendeine rührselige, sondern eben auch eine ganz persönliche Geschichte. Jene blutverschmierte Bibel, die ich nunmehr seit vielen Jahren stets bei mir trage, erinnert mich Tag für Tag daran". Abermals streckte der Prediger seine Hände mit der Bibel gen Himmel aus und ließ ihnen alsdann auch seinen Blick folgen, wozu er leise wisperte: "Unser himmlischer Vater segne die drei bei dem Unfall Dahingeschiedenen. Den Farmer Matthew, den Lehrer Mark und ...". Seine Stimme geriet für einen Moment ins Stocken, meldete sich dann allerdings nur umso fester zurück: "... und den Prediger John, der das Wort Gottes damals liebevoll in die Hände meiner bislang noch ungläubigen Mutter legte, die mir später als Kind Abend für Abend daraus vorlas. Ihr und meinem Vater verdanke ich nicht nur mein Erdendasein überhaupt, sondern auch die Tatsache, daß ich eine glückliche unbeschwerte Kindheit haben und im Geiste eines glaubhaft vorgelebten, liebevollen Glaubens aufwachsen durfte. Die Geschichte von den drei Kreuzen aber lehrt, daß es letztendlich nicht allein darauf ankommt, was man von dieser Welt mitzunehmen vermag, bevor man sie verlassen muß, sondern vor allem auf das, was man zurückläßt, wenn man geht! AMEN!".

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Claudia (30. Dezember 2012, 18:59), Angel (26. Dezember 2012, 13:52)

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