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sven1421

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Samstag, 15. September 2012, 09:52

[F] Abschiedsvorstellung

Die Geschichte, die ich hier erzähle, ist reine Fiktion. Sie knüpft unmittelbar an die Geschichte "Der verschollene Schatz" und die Adventskalendergeschichte "Wannabe Svensson" an. Die Story hat an sich fast nichts mit 24 zu tun, und in welche Richtung sie genau geht, gehört zu den zahlreichen Überraschungseffekten, die Euch im Lauf der Geschichte begegnen werden. Seid gespannt und glaubt mir, wenn ich Euch verspreche: Nichts ist am Ende so, wie es am Anfang scheint! ... Aber lest selbst. Ich wünsche Euch fürs erste viel Vergnügen und spannende Unterhaltung.

Hinweis: Ich habe diese Geschichte aus eigenem Ermessen in ihrer Gesamtheit als FSK 16 eingestuft, da sie in den späteren Fortsetzungen einige etwas explizite Darstellungen beinhalten wird. Mehr möchte ich dazu noch nicht sagen, um nicht zuviel zu verraten. Aber ich bitte alle Leser den Hinweis ernstzunehmen, den wir alle von Baustellenschildern her kennen: "BETRETEN AUF EIGENE GEFAHR!"


Zitat von »Lukas Svensson in einem Brief an seinen Berliner Onkel Fritz Salomon«

"Mein lieber Onkel Fritz,

Hab vielen lieben Dank für Dein Weihnachtspäckchen! Den Marzipanstollen haben Yelena und ich, wie schon in den Vorjahren, binnen kürzester Zeit gemeinsam verschlungen - ebenso wie wir es nun zwischen den Jahren mit der von Dir beigefügten Lektüre tun. Auch dafür meinen wärmsten Dank! Die Sonderausgabe der Sherlock-Holmes-Geschichten kam dabei genau zur richtigen Zeit. Und das nicht nur, weil ich sie endlich zur Hand nehmen kann, ohne dabei jedesmal nur den schmerzlichen Verlust meiner Eltern zu spüren, welcher - wie Du wissen mußt - im Grunde genommen vor allem mit diesen 6 Bänden zu tun hat. Nein, auch deshalb, weil ich ja - dank Charles Wannabe Geschäftsidee - inzwischen praktisch selbst in die Fußstapfen des berühmten Detektivs treten durfte. Du kannst Dir übrigens gar nicht vorstellen, was wir Beide - Charles und ich - dabei schon am Tag unserer Geschäftseröffnung erlebt haben. Und so möchte ich Dir an dieser Stelle einmal in aller Kürze zu berichten versuchen,
WAS ZULETZT GESCHAH:
Es war in der Nacht vor dem Heiligen Abend, exakt um Mitternacht, als ich mich mit Charles Wannabe in unserem Büro in der Baker Street 221B traf. Der gute Charles hatte dabei alles ganz akribisch geplant, nur leider lief dann eben nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte. Die gut gesicherte Bürotür ließ weder sich noch ihn ihn eintreten, das noble Essen landete auf fremden Tellern und der neue Computer gab den vorweihnachtlichen Geist auf. Charles Wannabe war gerade so richtig schön am Verzweifeln, da schneite uns durch Pastor Shepherd - Du erinnerst Dich ja sicher noch an ihn, denn er war schließlich derjenige, der Yelena und mich getraut hat - unser erster Fall ins Haus. Die hölzerne Paulusfigur aus der St.Pauls Cathedral war verschwunden. Und so begaben Charles und ich uns auf die Suche. Das heißt, am Anfang eigentlich nur Charles. Mich schickte er mit dem - auf seine charmante Art vorgetragenen - Verweis auf mein Alter nach Hause ins Bett. Er hingegen ging auf Spurensuche, die ihn über die Kathedrale und den Pfarrer erst zum Schöpfer der Figur und dann direkt unter die London Bridge zu einer Gruppe Obdachloser führte. Und genau dort begann dann das, was ich jetzt im Nachheinein auch gern als die wundersame Verwandlung des Charles W. bezeichne. Mit einer zerissenen und dreckbesprenkelten Hose paßte sich der sonst stets in feisten Zwirn gehüllte Wannabe rasch seiner Umgebung an und fand so doch sehr schnell den Kontakt zu seinen Zielpersonen. Dabei begegneten ihm auch eine Lady namens Diane und ein gewisser Pauli, wobei letzterer offensichtlich von Anfang an einen gewaltigen Eindruck bei dem mürrischen Kauz hinterlassen haben muß. Keine Ahnung, wie dieser Pauli das geschafft hat?! Auf jeden Fall lernte Charles, da unten angekommen, eine Abart des Lebens kennen, die ihm bislang so gar nicht vertraut war, weil er sich darum bisher einen wahren Dreck geschert hatte - ein Leben in tiefster Armut und Ausgestoßenheit. Ein farbiger Junge namens Cedrick fand dabei ebenso Zugang zu seinem zuvor stets verstockten Herzen, ebenso wie ein gewisser Henry Fist, der als ehemaliger Forschungsassistent in einem Atomkraftwerk einen rasanten gesellschaftlichen Abstieg erlebt hatte. Eben dieser geriet dann, wenig später, beim Besuch des Sozialamts an einen mysteriösen Kerl namens Lou Cypher. Der nahm Henry Fist in einer abgedunkelten Limosine kurzerhand mit zu sich nach Hause in seine Kellerbehausung und machte ihm dort das verlockende Angebot, mit ihm und seiner Organisation "Final Countdown" die Welt und die gesamte Menschheit zu vernichten - mithilfe von mehreren nuklearen Erstschlägen überall auf der Erde. Fist bot sich Bedenkzeit aus, in welcher es Pauli gelang, ihn zu überzeugen, die Behörden über Cyphers terroristische Pläne in Kenntnis zu setzen. So brachte ihn Charles Wannabe schließlich zum Yard, wo er seine Aussage machte. Zu dumm nur, daß Fist wie auch das Yard den Aufenthaltsort Cyphers nicht kannten und daß der arme Henry an den machthungrigen kommissarischen Yardleiter Jeffrey Douglas geriet, der hierin seine Chance für einen weiteren gewaltigen Karrieresprung witterte. So übergab er den offensichtlichen Fall von internationalem Terrorismus auch keineswegs an meinen Freund Jack aus L.A. und dessen Antiterroreinheit CI7, sondern organisierte auf eigene Faust eine waghalsige Aktion mit Henry Fist als Lockvogel. Es kam, wie es kommen mußte: Die Aktion scheiterte, und Cypher war mit Fist spurlos verschwunden. Was dieser Teufel Lou Cypher dem armen Henry in seinem Kellerverlies alles angetan hat, läßt sich nur schwerlich erahnen, aber auf alle Fälle entlockte er ihm mittels Folter und Drohungen eine genaue Beschreibung, wie man aus Uran 235 einen Atomsprengkopf baut. Diese Beschreibung teilte er denn übers Internet mit seinen beiden Komplizen, die sich dort PreMeount und DCALive nannten. Fist selbst jedoch war nach dieser umfassenden Auskunft über sein Fachwissen für Cypher nunmehr ein unnötiges Sicherheitsrisiko geworden, und seine Beseitigung mittels einer gehörigen Ladung Sprengstoff - der auch alle anderen möglichen Spuren zu Cypher und Co zum Opfer fallen sollten - war längst beschlossene Sache. Nur gut, daß es beim Yard ein paar aufrechte und mutige Leute gab, allen voran mein Schützling Tim Hackerman und der neue Leiter der Mordkomission John Wayne Powerich, die den CI7 auch gegen Jeffrey Douglas' ausdrückliches Verbot über die gescheiterte Aktion des Yardchefs und die bestehende Bedrohung durch Cyphers Plan zur atomaren Vernichtung der Welt informierten. Mein guter Freund Jack setzte fortan alle Hebel in Bewegung, Cypher und Henry Fist zu finden, allerdings zunächst ohne Erfolg. Erst als Charles Wannabe, inzwischen in einem von mir gekauften Weihnachtsmannkostüm steckend und durch eine tierische Zufallsbekanntschaft auf den Hund gekommen, bei einem spontanen Candlelightdinner mit unserer Sekretärin Claudia Palmer, begann, all die Irrungen und Wirrungen seines bislang längsten Tages nocheinmal Revue passieren zu lassen, da stieß er mit einem Male auf eine Spur, die direkt zu der Adresse des Verstecks von Cypher führte. Gemeinsam mit Charles, Timmy, Powerich und mir machten sich Jack und der CI7 auf den Weg ins östliche London, um Henry Fist zu retten und Lou Cypher zu verhaften. Die Stürmung des ominösen Kellers hätte uns dabei beinahe das Leben gekostet, denn der Countdown für die Zündung der Sprengladungen war schon in vollem Gange. Nur dem beherzten und unerschrockenen Eingreifen von Jack ist es zu verdanken, daß auch die letzten Agents noch rechtzeitig aus dem Gebäude herauskamen und daß der Computer Cyphers mit all den verbliebenen Informationen des geplaten Atomanschlags sichergestellt werden konnte. Als geplanter Angriffstermin wurde bei dessen Auswertung durch meinen Freund Timmy der 01.01.2015 00:06 Uhr ermittelt. Und es kam noch zusätzlich heraus, daß Cyphers Komplizen offenbar noch eine alte Rechnung mit mir zu begleichen zu haben glauben, auch wenn ich mir einfach so gar keinen Reim darauf zu machen vermag, wer aus meiner kriminalistischen Vergangenheit wohl hinter den Pseudonymen PreMount und DCALive stecken könnte. Nun ja, wie dem auch sei: Der Einsatz von Jack und dem CI7 war jedenfalls in ganzer Linie ein Erfolg, zu dessen Krönung nur noch die Ergreifung Cyphers fehlte. Und da kam dann noch einmal ich ins Spiel. Ich stellte den Dreckskerl nämlich wenige Minuten nach der Detonation seiner Sprengladungen eher zufällig in der Nähe des Hauses und warf ihm bei einem Fluchtversuch mein Handy an den Kopf, welches ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen technischen K.O. bescherte und zu seiner Festnahme durch Jack führte. Und während man anschließend im Hochsicherheitstrakt des CI7 bislang erfolglos versuchte, dem Satansbraten weitere Informationen zu entlocken, löste sich an anderer Stelle unser eigentlicher Fall der verschwundenen Paulusstatue quasi wie von selbst. Die Mutter eines kleinen Mädchens namens Lilly hatte die Figur wieder zurückgebracht, wobei sie meinte, ihre Tochter hätte sie beim Spazierengehen im Hyde Park zufällig entdeckt. Sowohl der Pastor als auch wir ließen es bei dieser Erklärung bewenden, waren wir doch allesamt heilfroh, daß der "Holzkasper" - wie Charles die Figur anfangs abschätzig zu nennen pflegte - wieder da war. Und so feierten wir gemeinsam mit Pastor Shepherd, dem Paulus und allen mehr oder minder in die ganze Geschichte involvierten Personen einen wundervollen Heiligabend mit einem Krippenspiel, bei dem mein Freund Charlie aushilfsweise sogar noch den Engel des Herrn verkörpern durfte. Doch nicht nur das, der alte Haudegen ist auch sonst wie ausgewechselt. Er spielt mit einem Male Saxophon und unterhält sich angeregt mit Holzfiguren in Kirchen. Er tobt mit seinem Hundekamerad, den er übrigens Vierbein getauft hat, stundenlang im Schnee herum und sieht alte Polizeirufzellen und namenlose Doktoren, wo gar keine sind. Und er lädt ein ganzes Dutzend Obdachloser zum Weihnachtsessen zu sich nach Hause ein.
Mehr noch: Inzwischen bemüht sich Charles Wannabe bei den Behörden sogar um das Sorgerecht für seinen neuen Freund Cedrick, der übergangsweise bei ihm zuhause lebt. Und er plant für den Anfang kommenden Jahres, gemeinsam mit Cedrick mit Claudia Palmer zusammenzuziehen. Wäre da nicht die Tatsache, daß er auf dem Papier immer noch mit der im Londoner Pflegeheim "Heavensdoor" im Koma liegenden Freakadelly-Tochter Janet verheiratet, hätte er Claudia vermutlich sogar schon einen Heiratsantrag gemacht. Und es würde dann unter Umständen eine Doppelhochzeit geben, denn auch mein Schützling Timmy hat es noch am Heiligabend dazu fertiggebracht, seiner Freundin Sabrina Meltstone das Ja zu seinem Antrag zu entlocken. Und was das Personalkarrussell im Yard und beim CI7 angeht, so ist da zum Jahreswechsel mal wieder einiges in Bewegung. Die Yardleitung übernimmt nach der unehrenhaften Entlassung von Jeffrey Douglas wie schon geplant zunächst erst einmal wieder Ex-Yardchef Eddi Wallace. John Wayne Powerich ist weiterhin Leiter der Mordkommission, nachdem man seine zuvorige Suspendierung durch Douglas nachträglich für ungültig erklärte. Timmy hat ab März nächsten Jahres auf Empfehlung des Großen Bauer den Posten des stellvertretenden CI7-Leiters inne, dessen bisheriger Inhaber Youstan Texas nun selbst zum Chef aufsteigt. Mein Freund Jack kehrt unterdessen zurück nach L.A. in den Schoß seiner Familie. Wie lange er es allerdings mit dieser Form des Ruhestands auushält, ist in meinen Augen fraglich. Ja, wie ich Jack kenne, bin ich mir sogar 100%ig sicher, daß er schon bei der nächsten Bedrohung, von der er Kenntnis erhält, wieder in die aktive Terrorbekämpfung einsteigt. Die Welt braucht einfach Leute wie ihn. Und er?! Nun, er braucht eben Aufgaben, die ihn herausfordern und ihn wieder und wieder bis an seine Grenzen vorstoßen lassen und manchmal sogar weit darüber hinaus. Was mich angeht, so werde ich weiter fürs Erste mit Charles Wannabe gemeinsam privatermitteln und meine freien Stunden meiner Frau Yelena und meiner Familie widmen. Momentan haben wir zum Beispiel bis über den Jahreswechsel hinweg meine Tochter Lisa, Yelenas Tochter Jane und meinen Enkel Luke zu Besuch. Der Kleine sitzt abends immer auf unserer Couch im Wohnzimmer auf meinem Schoß und lauscht ganz begeistert, wenn ich ihm aus den Abenteuern von Holmes und Watson vorlese. Und meine Lisa erfreut uns nachmittags mit ihrem virtuosen Geigenspiel. Nur um die kleine Jane mach ich mir manchmal ein wenig Sorgen, zumal ich nicht genau weiß, was sie wohl am ersten Weihnachtstag so plötzlich bewogen haben könnte, ihre Freundin Cathrin zuhause allein zu lassen und stattdessen mit Luke zu uns zu kommen. Reden möchte sie darüber nicht, und wenn ich versuche, mit ihr ins Gespräch zu kommen, so blockt sie immer ab und vermeidet sogar den Augenkontakt zu mir. Nun ja, was es auch sei, ich denke, die Wogen zwischen Jane und Cathrin werden sich schon wieder glätten, bei allem, was sie gemeinsam schon durchgemacht haben.
So, und damit komme ich auch für heute erstmal zum Ende. Ich wollte Dir zwar noch irgendetwas Wichtiges erzählen, aber ich erinnere mich im Moment beim besten Willen nicht mehr daran, was es war. Naja, man wird eben alt! Aber wem erzähl ich das?! Apropos Alter! Anbei findest Du übrigens wieder einen jener alterlesenen Tropfen besten schottischen Whiskeys, die Du ja so schätzt. Ich hoffe, er mundet Dir, und Du erhebst ihn am Silvesterabend kurz vor Mitternacht gemeinsam mit ums, um auf ein Gesundes Neues Jahr 2010 anzustoßen! Möge es uns stets nur das Beste bringen! In diesem Sinne, liebe Grüße auch von Yelena und dem Rest meiner kleinen Familie.

Dein Neffe Lukas - London, den 27.12.2009"

INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 01: Bis ans Ende der Welt

Das Neue Jahr 2010 hatte sich im ewigen Lauf der Zeit längst schon in eines der alten verwandelt, ebenso wie die darauffolgenden drei. Ja, selbst das vierte Jahr im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends lag bereits in den letzten Zügen. Nur noch ein paar Minuten trennten die Menschheit vom Jahreswechsel 2014/2015. Lukas Svensson verbrachte diese Minuten in London, nahe der Tower-Bridge, zusammen mit Zehntausenden seiner Landsleute. Es herrschte ein wahres Getümmel und Gedrängel um ihn herum. Alles wartete auf den finalen Countdown, der die letzten Sekunden des alten, scheidenen Jahres begleiten sollte, und auf die Glocken Big Bens, die dann das neue einläuten würden. Der Ex-Inspektor aber war noch aus einem anderen Grunde in freudiger Erwartung. Seine Yelena war schließlich irgendwo im schienendurchzogenen Untergrund Londons auf dem Weg zu ihm. Und er hoffte inständig, daß sie es noch rechtzeitig schaffen würde bis Mitternacht. Schließlich wäre es sonst nach nunmehr 9 gemeinsamen Jahreswechseln das erste Neujahr, das sie getrennt voneinander begrüßen müßten.

Und während Lukas so wartete, ließ er gleichzeitig den zuendegehenden Silvestertag noch einmal vor seinem geistigen Auge Revue passieren. Wie immer war er um 6 Uhr aufgestanden, und wie immer hatte daraufhin ausgiebig geduscht und noch ausgiebiger gemeinsam mit seiner Frau gefrühstückt. Der Postbote hatte dann gegen 9 Uhr geklingelt und einen Brief gebracht, der Lukas wie auch Yelena in seiner Eröffnung sichtlich betrübte. Neben ein paar begleitenden und tröstenden Worten enthielt dieser Brief, der laut Poststempel direkt aus der deutschen Hauptstadt kam, vor allem ein Foto - ein Foto von einem Grab. Und wie der Grabinschrift unschwer zu entnehmen war, handelte es sich dabei um die letzten Ruhestätte von Lukas' Onkel Fritz Salomon. Hilde, die Currywurstverkäuferin vom Imbiß an der "Schönhauser Allee", hatte das Bild auf dem Friedhof aufgenommen und es den Svenssons - wie bei der Trauerfeier Mitte November 2014 vereinbart - zukommen lassen. Lukas waren beim Betrachten der schlichten Grabstelle sofort wieder die Tränen in die Augen geschossen, welche von seinen Wangen auf das Bildnis herabfielen - so wie seinerzeit die dicken Regentropfen auf das Grab vom alten Fritz herabgefallen waren, die der östliche Berliner Himmel bei dessen Beerdigung geweint hatte. Immer, wenn Lukas - wie auch heute - an das Begräbnis seines Onkels dachte, fielen ihm dabei unwillkürlich die Worte des deutschen Schriftstellers Heinrich Heine aus dem Beginn seiner Dichtung "Deutschland - Ein Wintermärchen" ein: "Im traurigen Monat November wars, die Tage wurden trüber. Der Herbst riß von den Bäumen das Laub, da reist' ich nach Deutschland hinüber". Ja, genau solch ein trauriger November war auch der des noch aktuellen Jahres 2014 gewesen, an dessen geschichtsträchtigem neunten Tag der liebenswerte Onkel für immer seine Augen schloß - und das noch dazu unter so tragischen Umständen. Die treue Seele Hilde, die dem Onkel inzwischen auch fünfmal die Woche den Haushalt besorgte, hatte ihn in seiner Badewanne gefunden, zusammen mit seinem Elektrorasierer, dessen Eintauchen ins Wasser ihm scheinbar einen tödlichen Schlag versetzt hatte. Und das wiederum nur, weil Onkel Fritz zuvor scheinbar MacGyver spielen mußte und seine alte defekte Sicherung im Flur mit Aluminiumfolie überbrückt hatte.

Den Rest des Vormittags hatte Lukas dann mit seinem Enkel Luke verbracht. Der Junge interessierte sich, seitdem er zur Schule ging, neben Detektivgeschichten vor allem für Briefmarken. Und so hatte ihm der Opa zu Weihnachten ein paar Eintrittskarten für eine Sonderausstellung im Britischen Museum besorgt, zu der er ihn nun auch begleiten durfte. Lukas selbst hatte mit Briefmarken nie viel am Hut. Er hatte nie wirklich verstanden, wie man als erwachsener Mensch soviel Gewese um ein paar gezackte Papierschnipsel machen konnte. Sein Onkel Fritz hingegen war ein echt begeisterter Sammler gewesen mit unzähligen Alben, die überall in seiner Wohnung und seinem Keller übereinandergestapelt lagen und in denen sich aus Sammlersicht sicher so manches Schätzchen verbarg. Nach Onkel Fritz' Tod hatte Lukas die Marken an Hilde verschenkt als kleines Dankeschön für ihre jahrelangen treuen Dienste. Nur ein Album mit alten deutschen Marken hatte er behalten und es bei sich im Wohnzimmerschrank verwahrt, um damit Luke zu seinem Geburtstag zu überraschen.

Mittags hatte sich der Ex-Inspektor dann mit seinem Freund Jack getroffen, der für ein paar Tage von L.A. nach London zurückgekehrt war. Sie waren gemeinsam ein Stündchen lang durch all die Geschäfte rund um dem Picadelly Circus gebummelt und hatten dann nach einem Restaurant Ausschau gehalten, wo sie zu Mittag essen konnten. Jack wirkte dabei die ganze Zeit irgendwie angespannt und auch ein wenig geistig abwesend. Als Lukas den Freund schließlich darauf ansprach, meinte der internationale Antiterrorexperte im Ruhestand schließlich: "Sag mal, Lukas, machst Du Dir denn gar keine Sorgen oder Gedanken?! Du weißt doch noch, was für ein Tag morgen ist?!". Lukas hatte genickt: "Ja, morgen ist der 1.Januar 2015, Neujahr!". Jack aber hatte nur den Kopf geschüttelt: "Nein, komm schon, Du weißt, was ich meine! Morgen ist der Tag, den Lou Cypher mit seinen Komplizen der Terrorzelle 'Final Countdown' für das Ende der Welt vorgesehen hat! Der Tag, an dem er einen weltweiten Atomkrieg auszulösen gedachte! Beunruhigt Dich der Gedanke nicht, daß wir seither weder seine Mitverschwörer noch die Stützpunkte seiner Atomrakatenbauteile ausmachen konnten?!". Nun hatte auch Lukas den Kopf hin und her geworfen: "Nein, ich denke, der Spuk ist vorbei! Ich laß mich davon nicht verrückt machen. Mir hat diese Weltuntergangsphobie anno 2012 gereicht, als alles - Hollywood sei Dank - glaubte, die Prophezeihung der Mayas würde sich erfüllen. Nein, mein Freund, ich halte es da lieber mit der guten alten englischen Losung: Abwarten und Tee trinken! Wie wärs in diesem Sinne mit einer schönen Tassen Grünen Tees zur Beruhigung und ein paar Happen zu essen. Der Chinese hier gleich um die Ecke ist einfach bombastisch, sag ich Dir!". Jack aber war bei deisem Angebot sofort einen Schritt zurückgetreten und hatte erwidert: "Nein danke, Lukas, aber ich bin noch immer satt von meinem letzten Besuch beim Chinesen. Geh Du nur allein in diesen asiatischen Foltertempel des guten Geschmacks. Ich mach derweil eine Stippvisite beim CI7 und hör mich mal um, ob mein Nachfolger Youstan Texas dem inhaftierten Cypher vor seiner anstehenden Verlegung nach Dartmoor irgendwelche neuen Erkenntnisse zu entlocken vermochte. Wir sehen uns dann morgen am Flughafen, ok?!". Damit hatte er Lukas die Hand gereicht. Der aber hatte sie augenzwinkert ergriffen und geantwortet: "Machs gut, mein Lieber! Wir sehen uns dann also im nächsten Jahr! Rutsch gut rein! Und wittere bitte nicht gleich hinter jedem Feuerwerkskörper heute nacht den nuklearen Räumungsverkauf für Mutter Erde, ok?!". Jack hatte seine Hand geschüttelt und sich dabei auch sichtlich um ein Lächeln bemüht, aber die tiefsitzende Sorge konnte ihm auch so ein kleiner Scherz einfach nicht nehmen.

Lukas Svensson hingegen war ganz unbesorgt in das Chinarestaurant "Chop Suey" gegangen und hatte sich einen Tee, eine Sauer-Scharf-Suppe, drei Frühlingsrollen und einen Teller Ente kross mit Reis bestellt. Im Anschluß an dieses erlesene Mahl aber hatte er ganz in Ruhe seinen beiliegenden Glückskeks geöffnet, welcher ihm schwarz auf weiß verkündete: "Geschriebenes Wort ist stärker als gesprochenes!". In Gedanken ersetzte er, wie er es beim Chinesen stets tat, die R's in dem Sinnspruch durch L's, und murmelte dann auf dem Heimweg die ganze Zeit leise vor sich her: "Konfuzius sagt: Geschliebenes Wolt ist stälkel als gesplochenes!". Auch Yelena hatte er den so verfälschten Spruch kundgetan, worüber sie sich köstlich amüsierte. Gemeinsam mit seiner Frau hatte er dann den Nachmittag und Abend verbracht. Erst gegen 22 Uhr waren die zwei Eheleute dann in Richtung Tower Bridge aufgebrochen, wobei Yelena noch eine SMS von ihrer Tochter Jane bekommen hatte mit der Bitte, sie von zuhause abzuholen, da Cathrin unpäßlich wäre und sie somit nicht zum Flughafen bringen könne, von wo aus sie gemeinsam mit Klein-Luke für ein paar Tage auf Kurzurlaub nach Mauritius zu fliegen gedachten. Yelena war der Bitte nachgekommen. Ihren Lukas aber hatte sie ihrerseits gebeten, schon vorauszufahren - es sei ja noch reichlich Zeit bis Mitternacht. Und Lukas hatte sich mit einem langen Kuß von ihr verabschiedet und sich dann auf den Weg in die City gemacht. Gegen 23 Uhr hatte er dort einen Anruf von Yelena bekommen, die meinte, irgendwer habe ihr scheinbar einen Streich spielen wollen. Laut Aussage einer Nachbarin wären Jane und Cathrin samt Luke allesamt wohlauf und längst unterwegs. Sie befänden sich vermutlich sogar schon im Flieger. Auch sie würde sich nun wieder auf den Weg in die City machen, so daß sie - wenn alles gut ginge - kurz vor Mitternacht am U-Bahnhof "Tower Bridge" einträfe.

Lukas warf einen Blick auf seine Taschenuhr, die 23 Uhr 48 anzeigte, und beschloß kurzerhand, Yelena entgegenzulaufen und sie vom U-Bahnsteig abzuholen. Er stieg über die leichtvereiste Treppe in den völlig menschenleeren Bahnhof hinab und betrat den Bahnsteig. Weit und breit war kein Zug zu sehen. Dafür lief an einer der Wände auf einem Monitor der beliebte 24-Stunden-Video-Nachrichten-Service "U-TUBE". Die Hinweistafel über den beiden Bahnsteigen aber erklärte plötzlich gelblich blinkend: "Betriebsstörung! Ansage beachten!". Und die Stimme eines Bahnbeamten verkündete dazu auch prompt in diesntlichem Tonfall: "Achtung, Achtung! Werte Reisende! Ladies und Gentlemen! Aufgrund eines Feuerwehreinsatzes ist der Zugverkehr auf ungewisse Zeit leider eingestellt! Bitte beachten Sie die weiteren Ansagen!". Wieder schaute Lukas auf seine Uhr, die nun bereits 23 Uhr 55 zeigte, als er plötzlich aus Richtung der Videowand eine krächzende Männerstimme vernahm, die ihn persönlich ansprach: "Hallo Mister Svensson! Schön, Sie wiederzusehen! Wie ich feststelle, warten Sie mal wieder auf Ihre Braut! Lassen Sie uns doch gemeinsam warten, ja?! Und zwar auf die 6.Minute des Neuen Jahres, zu der alles Warten ein Ende haben wird! Ja, Sir, ich verspreche es Ihnen hoch und heilig, es endet heute Nacht, Mister Svensson! Oh pardon, wir waren ja schon bei Lukas und beim Du! Oder weißt Du etwa nicht mehr, wer ich bin?! Oh je, wir werden wohl vergeßlich, Sir?! Naja, vielleicht hab ich meine Frage ja auch nur ein wenig unglücklich formuliert. Laß es mich mal so ausdrücken: Weißt Du etwa nicht mehr, wer ich war?! Womöglich hilft es Dir auch auf die Sprünge, wenn ich feststelle, daß mir das hier wie eine Art Dejavu vorkommt, was unseren letzten gemeinsamen Ausflug angeht. Die Ubahn. Der Feuerwehreinsatz. Meine Güte, wir hatten soviel Spaß zusammen. Und ich erst danach alleine, ganz alleine. Wie man am Explosionsort meine abgerissene linke Hand fand und sie zusammen mit ein paar versprengten Körperteilen des bedauernswerten Ubahnfahrers auf jenem Londoner Friedhof begrub, wo auch der liebe gute Harold Freakadelly wenig später seine letzte Ruhe fand. Und beinahe auch sein Töchterchen, wenn nur mein neuer Geschäftsfreund PreMount alias Paul Vorberg ein wenig genauer gezielt hätte. Nun ja, Nobody is perfect! Nicht mal Du, Lukas! Du dachtest ja schließlich auch, wie all die anderen Dummköpfe, ich wäre tot. Aber D.C. ist am Leben! Na dämmert's endlich, alter Knabe! DCALive. Alive wie am Leben und D.C. wie ...". Lukas Svenssons Fäuste ballten sich, wozu er wutschnaubend hervorstieß: "Derrik Crawler, Sie elender Mistkerl!". Dabei fiel sein Blick auf den Bildschirm, von wo ihm aus einer Art Abwasserkanal mit häßlichen Graffitis an den Wänden eine Schattengestalt überheblich entgegenstarrte, die krächzte: "Aber, aber, wer wird denn! Hab ich nicht schon genug gelitten nach diesem blöden Unfall mit der Handgranate. Was mußte dieser Idiot Timmy damals im Ubahnschacht auch den Held spielen und mir nachrennen. Durch die Explosion hatte ich zeitweise sogar mein Augenlicht sowie mein Gehör verloren. Und meine linke Hand eben. Zum Glück aber hatte ich mich vorsorglich abgesichert. Ein paar alte Kumpels aus den Reihen von 'Nowoij Djehn' standen die ganze Zeit über parat, um mir beim geplanten Abtransport der Bernsteinzimmerkisten zu helfen. Stattdessen brachten sie nun mich nach der Explosion über einen Nebentunnel in ein sicheres Versteck und später über die Grenze nach Polen und Rußland, wo ich unter Teilnarkose mehrere stundenlange Operationen über mich ergehen lassen mußte. Aber dafür funktionieren nun meine Sinne alle auch wieder, mein altes Gesicht ist nahezu komplett wiederhergestellt, und meine Hand ersetzt eine sehr effektive Hartgummiprothese mit Aluminiumgelenken. Damit kann man nicht nur ein kleines Stück Alufolie um die Sicherung eines alten Mannes in seiner Berliner Wohnung legen und ihm dann als letzten Gruß den eingeschalteten Rasierapparat in der Badewanne zuwerfen, weil er einem in seiner senilen Sturheit einfach ums Verrecken nicht geben will, was man so dringend von ihm haben möchte. Nein, mit dem kleinen Finger kann man sogar einen großen Knopf drücken - so einen roten, wie ich ihn momentan vor mir habe zum Beispiel!". Auf dem Bildschirm wechselte die Kameraeinstellung von Crawlers Schatten auf ein kleines Schaltpult, das im Abwasserkanal auf einem Campingtisch neben einem Laptop lag, wobei es mit letzterem scheinbar verkabelt war. Auf dem heruntergeklappten Display des Laptops aber lief eine Digitale Uhr, deren Anzeige momentan bei 23:59:49 stand. Dazu begann Crawlers düstere, Krächzstimme geradezu gespenstisch zu zählen: "10 - 9 - 8 - 7 - 6 - 5 - 4 - 3 - 2 - 1 ... Prosit Neujahr!". Lukas Svensson aber schwieg nur bedrückt. Und während vor seinen Augen die Digitalanzeige des Laptop von 00:00:00 auf X-06:00 umsprang, kommentierte die dunkle Stimme der noch dunkleren Schattengestalt geradezu triumphierend: "So, Lukas! Noch 6 Minuten! Ganze 360 Sekunden verbleiben, dann ist alles vorbei! Wie wärs mit ein paar letzten Worten? Oder vielleicht ein letztes Telefonat mit der Frau Gemahlin, die Du vor fünf Jahren noch so verzweifelt gesucht hast, um sie nun doch wieder für immer zu verlieren?". Lukas Lippen murmelten als Antwort nur ein leises: "Der Teufel soll Dich holen, mieser Verräter!". Crawlers Stimme aber entgegnete gönnerhaft: "Also gut, wenn Du mich so lieb drum bittest, dann gönn ich Dir um unserer mehrtägigen Freundschaft willen halt die letzte kleine Freude. Hier kommt der finale Anruf für Lukas Svensson! Und Action!".

Tatsächlich begann Lukas' Handy in der Brustinnentasche seines Regenmantels nahe seinem Herzen noch im gleichen Moment, wild zu vibrieren. Mit zitternden Händen befreite Svensson es aus seiner Ummantelung, drückte die grüne Taste und führte es zum Ohr, wobei er augenblicklich Yelenas liebliche Stimme vernahm: "Luki, liebes Luki, ein glücklich neues Jahr für mein Schatz! Metro haben gehabt Defekt, aber nun gleich wieder fahren werden. Ich sein in knapp 7 Minuten bei Dir, also genau um 0:07, mein geliebtes Geheimagent in Angelegenheit von Herzen in Namen von Ihres Majestät. Ich Dich küssen und drücken tausendmal, und ich Dich lieben wie verrückt! Gleich ich sein da! Gleich, Du hören mich?!". Lukas aber schrie ihr durch das eingebaute Mikrofon seines Mobiltelefons verzweifelt entgegen: "Yelena, Liebes, bring Dich rasch in Sicherheit! Such nach einem der alten Luftschutzkeller, hörst Du! Dieser Lump Crawler lebt und wird gleich eine Atombombe zünden!". Crawlers Schatten aber schüttelte in seinem Abwassertunnel nur sachte den Kopf: "Aber, aber! Wer wird denn den lieben Derrik so beleidigen, wo er Dir doch erst ermöglicht hat, überhaupt die Stimme Deiner Frau noch ein letztes Mal zu hören. Und jagt man denn seiner Herzdame solch einen Schreck ein, wo doch eh nichts mehr zu retten ist - die Menschheit nicht, sie nicht und Du auch nicht?! Aber Du kannst mir dankbar sein, denn zum Glück hab ich ja die Telefonverbindung in weiser Voraussicht nur einseitig freigegeben, so daß Du Dir die Kehle nun ganz umsonst heiser geschrien hast! Und wieviel Zeit dabei draufgeht, wenn man sich so angeregt unterhält, was, Lukas?! Schau mal einer an, nur noch 90 Sekunden bis zum großen Knall und damit zur Endlösung der Menschheitsfrage, wie sie Mister Cypher und mir gemeinsam schon seit Jahren vorschweben!". Ein teuflisches Lachen ertönte von der Videowand, aber gleichzeitig auch ein zarter Glockenton, welcher von Lukas' Handy ausging. Der leichtirritierte Ex-Inspektor warf einen Blick das Display, wo ein auftauchender Schriftzug davon sprach, daß Lukas "1 neue Nachricht" empfangen habe. Ein kurzes Kratzen am Kopf, auf das ein weiterer mutiger Druck auf die grüne Telefontaste folgte, dann erschien vor Lukas' Augen der Text der empfangenen Meldung: "Du erhälst noch einen kleinen Aufschub, was Dein Ende angeht! Vertrau auf mich, wie Du es immer getan hast! JC@Paradies. PS: Denk auch an den chinesischen Sinnspruch!". Und während auf dem Videobildschirm an der Wand die letzten 24 Sekunden des Countdowns herunterliefen, versuchte sich Lukas' Hirn angestrengt einen Reim auf diese Nachricht zu machen ... "Geschliebenes Wolt ist stälkel als gesplochenes!" ... Das gesprochene Wort kam von Crawler, und verhieß seine augenblickliche Vernichtung einhergehend mit dem atomaren Untergang der Welt. Das geschriebene aber verkündete ihm einen Aufschub und sprach von Vertrauen. Der einzige J.C. aber, den Lukas kannte, das war derjenige, der einst vor rund 2000 Jahren auf Golgatha für ihn ans Kreuz ...

Weiter kamen Lukas' Gedanken nicht, denn im Angesicht des winkenden Crawlerschattens sprang der digitale Countdown auf X-00:00 um, wozu über ihm ein dumpfer Knall ertönte, der binnen Sekunden den ganzen Bahnhof erzittern und erbeben ließ und dem eine derart starke Druckwelle folgte, daß sie Lukas zu Boden schleuderte. Dort liegend spürte er plötzlich eine ungeheure Hitze am ganzen Leib, die alles um ihn herum in Flammen aufgehen und schmelzen ließ. Nur mühsam gelang es dem am Boden Liegenden, seinen Kopf ein kleinwenig zu heben, wobei er neben sich auf Unmengen von Schutt und Geröll blickte, sowie auf ein paar offenbar mit der Druckwelle und dem Schutt durch den Bahnhofstreppenzugang bis auf den Bahnsteig geschleuderte Menschen. Deren sich überall festkrallende Körper aber wurden von lodernden Flammen innerhalb weniger Sekunden verzehrt, während sie in ihrem kurzen Todeskampf erbärmlich und herzzerreißend schrien und jaulten, bevor auch sie nur noch ein kleines Häufchen Asche auf dem staubigen Bahnsteigboden bildeten. So erwartete auch Lukas zitternd den nahen Feuertod, wobei seine Gedanken immer wieder zu ihm wisperten: "Yelena, leb wohl! Ich liebe Dich! Hörst Du, vergiß es nie, daß ich meine wundervolle Yelena über alles liebe!". Zu seinem Erstaunen aber stellte er dabei fest, daß er - wenn auch aufgrund des ihn umgebenden Drucks momentan zu keiner großartigen Bewegung fähig - völlig unversehrt blieb. Auch als sich nach einer gefühlten Ewigkeit das belastende Druckgefühl langsam legte, war an ihm - soweit er es dem ersten Anschein nach beurteilen konnte - bis auf ein paar leichten Kratzern alles heil. Daß seine Kleidung an seinem lebendigen Leib vollständig verbrannt war und er nun komplett nackt dastand, störte ihn dabei am allerwenigsten. Denn weit und breit gab es eh keine Menschenseele mehr, die an diesem Anblick Anstoß nehmen konnte. Lukas sah sich um, dann nieste er einige Male und machte sich schließlich auf wackligen Beinen auf den beschwerlichen Weg über Asche, Schutt und Geröll hinweg in Richtung Bahnhofsausgang. Es dauerte wohl eine Viertelstunde, bis er oben ankam, aber Zeit zählte für ihn in diesem Moment ja eh längst nichts mehr. Stattdessen verschleierten Tränen bei seiner Ankunft oberhalb der Erdoberfläche seinen Blick, der nun über die achso wüste Trümmerlandschaft der ehemalig so lebhaften Metropole London schweifte. Einzig und allein Big Bens Glockenturm ragte relativ unbeschadet aus all den Trümmern hervor. Und mit ihm eine vom Stadtteil Whitechapel ausgehende große gelbrote Flammenfaust, die mit ihren gräulich verräucherten Knöcheln zusehends gen Himmel strebte und in ihrer unheimlich gräßlichen Gestalt wohl das darstellte, was man schlechthin harmlos als Atompilz zu bezeichnen pflegte. Dort hingegen, wo eben noch in seinem Schatten Zehntausende Briten gemeinsam auf das Neue Jahr angestoßen hatten, da lagen nun ebensoviele kleine Aschehaufen, die allesamt einen übelriechenden Rauch absonderten.

Hier wie auch in der gesamten Umgegend waren sämtliche Anzeichen menschlichen Lebens auf einen Schlag verstummt - kein Lachen mehr, kein Weinen und kein einziges gesprochenes Wort. Nur ein leiser Wind wehte. Er wehte die Aschehaufen und den Staub gleichermaßen auseinander und durcheinander, wobei der klägliche Menschenrest und sein ehemaliger Lebensraum langsam miteinander verschmolzen, um sich dann gemeinsam endgültig und unwiderbringlich quasi im Nichts gähnender Leere aufzulösen. Vieles ging Lukas bei diesem grausigen Anblick durch den Kopf, vor allem die Gesichter lieber Menschen ... Yelena, Lisa, Luke, Jane, Cathrin, Jack, Charles, Timmy, Nina ... Alle tot ... Tot, jeder einzelne von ihnen! Und während eine schwarze Wolke über seinem Kopf unter einem gewaltigen Donnerwetter mit grell zuckenden Blitzen mächtige Schauer sauren Regens auf die tote Erde niedergehen ließ, sank Lukas im ihn umgebenden feuchten Staube langsam auf die Knie und klagte: "Warum nur das alles hier?! Warum, mein Gott?! Warum um alles in der Welt hast Du mich verlassen? Wozu läßt Du mich hier allein?" ...

Anstelle einer Antwort auf seine Fragen bemerkte Lukas ein leichtes Zucken in seiner rechten Hand, das sich quasi von Sekunde zu Sekunde verstärkte. Nur langsam realisierte er, das es sich dabei einmal mehr um die Vibrationsfunktion seines Handys handelte, welches er seit dem letzten Telefonat mit Yelena festumklammert gehalten hatte. Svensson löste die Umklammerung ein wenig und führte das - zu seinem Erstaunen - völlig unbeschädigte Mobiltelefon nach einem kurzen Druck auf die grüne Hörertaste an sein Ohr. Augenblicklich schallte es ihm dabei aus dem eigebauten Lautsprecher entgegen: "Sie haben 2 neue Sprachnachrichten ... Erste neue Sprachnachricht, empfangen heute um 0 Uhr 23 ...". Einen Moment lang blieb es still, dann aber meldete sich eine vertraute Stimme, die Lukas Svensson noch in selber Sekunde ein Meer von Tränen in die Augen trieb: "Luki, Liebes! Ich nicht wissen, was sein schief gegangen bei Anruf eben. Und da ich nicht wissen, ob Du mich haben gehört, ich Dir noch einmal sagen, daß mit mir alles in Ordnung. Ich unterwegs gewesen mit Ubahn nach Tower Hill. Aber es wohl geben noch ein Problem mit Technik. Wir jetzt stehen auf Bahnsteig in Station St.Pauls. Ich glauben, wir hier noch etwas müssen warten auf anschließendes Zug. Mein Akku von Handy auch gleich sein leer. Ich müssen Schluß machen! Gutes Neues Jahr, liebes Schatz! Ich Dich 1000 Mal küssen! Bis gleich!". Damit endete die Sprachaufzeichnung, und nach einem Pfeifton meldete sich wieder die computergenerierte Stimme der Handymailbox: "Zweite neue Sprachnachricht, empfangen heute um 0 Uhr 24 ...". Und wieder trieb Lukas die sich anschließende Nachricht Tränen in die Augen, doch diesmal keine Tränen der Erleichterung, sondern Tränen der ohnmächtigen Wut: "Unhappy New Year, alter Knochen! Ich bin's wieder, Dein ganz spezieller Freund Derrik. Nur für den Fall, daß Dich die Bombenstimmung in London noch immer nicht dahingerafft haben sollte, füttere ich Dich ab sofort täglich um diese Zeit mit den neusten Nachrichten vom Untergang der Welt. Na, bereit für ein paar Horrormeldungen der Extraklasse?! Also dann ...". Lukas vernahm ein kurzes Räuspern, dann wieder das hinterhältige Krächzen von Crawlers Stimme, die nach jener verächtlichen Einleitung nun scheinbar versuchte, dem von ihr Verkündeten etwas streng Seriöses zu verleihen: "Tag 1: Um 0 Uhr 6 zerstören zeitgleich Tausende von Atomraketen alle größeren Städte auf der Welt. Die vier größten von ihnen, auch als die 'Apokalyptischen Reiter' bezeichnet, detonieren im norwegischen Spitzbergen, im us-amerkanischen Fargo, im russischen Wladiwostok und im südafrikanischen Kapstadt. Die Menschen in allen betroffenen Gebieten verbrennen in der unvorstellbaren Hitze, die freigesetzt wird, innerhalb von Sekunden. Alles, was von ihnen zurückbleibt, sind kleine Aschehaufen - inmitten einer gigantischen Trümmerlandschaft. Weitere Meldungen folgen am morgigen Tag! Bitte empfangsbereit bleiben! Life-Over and Fall-Out, Unlucky Luke!". Mit beiden Händen umfaßte Lukas die Rückseite des rasch vom Ohr weggerissenen Mobiltelefons in Höhe des Displays und drückte auf der Vorderseite mit beiden Daumen fest zu, so als wolle er das Handy und damit auch Crawler dadurch für immer zum Schweigen bringen. Nur langsam beruhigte sich Lukas wieder und entließ schließlich den unschuldigen elektronischen Nachrichtenübermittler aus seinem Würgegriff. Stattdessen wählte er nunmehr mit zitternden Fingern Yelenas Handynummer, aber am anderen Ende meldete sich nach zweimaligem Klingeln nur die Mailbox. Ein wenig enttäuscht beendete Lukas die Verbindung. Vermutlich war der Handyverkehr infolge der Bombenschäden inzwischen komplett zum Erliegen gekommen. Und dennoch gab es für den eben noch so verzweifelten Ex-Inspektor nun gleich zwei gute Gründe für das unbedingte Festhalten an seiner Existenz. Zum einen war da Yelena, die offensichtlich die nukleare Katastrophe genauso überlebt hatte wie er selbst, zum anderen aber war auch Crawler als Urheber der von langer Hand geplanten weltweiten Massenvernichtung noch am Leben und mußte gejagt und bestraft werden. Mit diesen Gedanken erhob sich Lukas Svensson wie Phönix aus der Asche der ihn umgebenden Zerstörung und machte sich unverzüglich auf den Weg - den Weg in Richtung St.Pauls Cathedral.

Obwohl dieser Weg mit seinen 2400 Metern an sich gar nicht so weit war und normalerweise zu Fuß in einer guten halben Stunde zurückgelegt werden konnte, gestaltete er sich unter den nun vorherrschenden Bedingungen äußerst schwierig und zeitaufwendig. So mußte Lukas auf den schuttübersäten Straßen und Wegen immer wieder teilweise meterhohe Geröllhügel übersteigen, wobei er mehr als nur einmal abrutschte und sich an den scharfkantigen Gesteinsbrocken mehrfach recht schmerzhafte Blessuren zuzog. Allein die Hoffnung, Yelena bald wieder in seinen Armen halten zu können, trieb ihn unaufhaltsam vorwärts, so daß er nach etwa 8 Stunden mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt hatte. Nun aber, direkt vor den Trümmern der eingestürzten Säule des Monument stehend, welches bislang als Mahnmal an den großen Stadtbrand von 1666 erinnerte, sah sich Svensson komplett erschöpft zu einer etwas längeren Verschnaufpause genötigt. Und so setzte er sich auf einen der überall verstreut liegenden Säulenbrocken und blickte im getrübten Dämmerlicht des staubwolkenverhangenen Vormittags kopfschüttelnd auf jene überdimensionale vergoldete Urne, die zuvor die Spitze jener Säule gebildet hatte und vor der nun mitten auf der Fish Street ein riesiger Berg aus menschlicher Asche vermengt mit den staubigen Übrigbleibseln der umstehenden Gebäude lag. Trotz seiner unheimlichen Übergröße hatte das goldstaubige Gefäß dabei nicht einmal ansatzweise das Fassungsvermögen, um die Überreste der hier in dieser Nacht eingeäscherten Londoner und ihrer Gäste in sich aufnehmen zu können. Tief erfüllt von unendlicher Bestürzung, Wut und Trauer seufzte und schluchzte Lukas laut. Allein, niemand war da, um diesen Gefühlsausbruch des Ex-Inspektors wahrzunehmen. Es gab keine einzige lebende Menschenseele hier, nicht einmal auch nur einen toten Körper hatte die höllische Feuersbrunst übriggelassen. Nur ein paar gespenstisch weiße Schatten auf dem schwarzen Asphalt zeugten hier und da von der ehemaligen Anwesenheit menschlichen Lebens an diesem arg verwüsteten Ort. Lukas erinnerte sich dabei an eine Reportage über den amerikanischen Atombombenangriff auf Hiroshima am 6.August 1945, wo die Bombe ebenfalls nur derartige weiße Flecken auf völlig verbrannter Erde zurückgelassen hatte. Mit dem wundenübersäten Unterarm rieb er sich vorsichtig den staubig-klebrigen Schweiß von der Stirn. Er war todmüde, und auch die Kehle war ihm trocken und rauh von den Strapazen seiner innerstädtischen Klettertour. Aber zu trinken gab es hier für ihn nichts. Sicher, der anhaltende schwarze Regen hatte zwischen all dem Schutt auch kleine und große Pfützen mit Wasser hinterlassen, doch die waren verseucht durch die im konterminierten Regenwasser auftretende radioaktive Belastung. Aus ihnen zu trinken bedeutete über kurz oder lang für jedes Lebewesen den sicheren Tod. Svensson war noch ganz in diesen düsteren Gedanken versunken, da wurde ihm mit einem Male erst etwas schwindelig und dann gänzlich schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, hatte sich der Himmel erneut sichtlich verdunkelt. Wobei es ihm unmöglich war festzustellen, ob dies nun allein an der Tageszeit oder auch an den Massen von dem - infolge der Detonation der Bomben bis hoch in den Himmel - aufgewirbelten Staub lag. Er zog deshalb erneut sein Handy zu Rate, dessen Display ihm als aktuelle Ortszeit 17.06 Uhr angab. Entsetzt sprang Lukas von seinem Säulenbrocken auf. Mein Gott, dann war er ja fast 8 Stunden ohnmächtig gewesen! Und Yelena wartete doch sicher schon ganz verzweifelt auf ihn. Er wählte mit dem Handy abermals ihre Mobilnummer, doch es meldete sich wieder nur die Mailbox. Lukas Schultern zuckten kurz, dann aber setzte er seine Bergtour quer durch Londons City unermüdlich fort - weiterhin angetrieben von der festen Überzeugung, seine Yelena recht bald wiederzusehen.

Es war bereits kurz vor Mitternacht, als Lukas dabei vor sich inmitten all der Trümmer das relativ unzerstörte Gebäude der St.Pauls Cathedral erblickte. Über einen letzten Geröllberg stieg er herab in das Tal des Kirchenvorplatzes, wo sich vom alles überziehenden Schwarz des Ascheregens auf dem Steinplattenboden unendlich viele kleine weiße Schatten in Form eines Pfeils zur Treppe der Kathedrale hin abhoben. Scheinbar hatten unzählige Gläubige noch in letzter Sekunde versucht, vor ihrem grausigen Schicksal Zuflucht im Hause Gottes zu finden. Die Haupteingangstür stand dabei momentan nicht nur weit offen, wie sonst üblich - nein, die Druckwelle der atomaren Explosion war hier förmlich mit der Tür ins Haus gefallen, so daß das große eichenhölzerne Tor nun mitten im Eingangsbereich im Gang der Kathedrale lag. Im Kircheninnern selbst war alles dunkel und geradezu totenstill. Lukas Svensson, der inzwischen auf der obersten Treppenstufe angelangt war, kniete vor der aus den Angeln gehobenen Eingangstür nieder und nahm sie dabei etwas genauer in Augenschein. Wie er rasch bemerkte, war das Holz zwar an der Außenseite stark angekohlt, aber die Pforte ansonsten noch völlig intakt. Vielleicht war ja wirklich etwas Wahres an dem Gerücht, von dem ihm Pastor Shepherd vor ein paar Jahren einmal berichtet hatte. Demzufolge sei das Tor seinerzeit aus kurz zuvor wiederentdeckten Bretterüberresten der Arche Noah gezimmert worden und daher praktisch unverwüstlich. Lukas wollte sich bei diesem Gedanken gerade wieder erheben, da drang wie aus dem Nichts plötzlich in seinem Rücken ein leises jammervolles Winseln an sein Ohr ...

[Wird fortgesetzt]

+++ CRIMINAL MINDS +++ DALLAS +++ CASTLE +++ DOCTOR WHO +++ 24 +++

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Angel (15. September 2012, 13:53)

sven1421

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Samstag, 15. September 2012, 14:38

INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 02: Ein Freund, ein guter Freund

Das von Lukas vernommene Winseln entstammte der Kehle eines kleinen Hundes, der in diesem Moment aus dem dunklen Kircheninnern an ihm vorbei und dann die Treppe hinunter lief, um sich, am unteren Ende der Stufen angekommen, plötzlich schlagartig hinzuhocken. Doch es war keineswegs einfach nur irgendein Hund, dem Lukas nun von oben herab in seine großen traurigen Knopfaugen schaute. Nein, das war ohne jeden Zweifel Vierbein - der Hund Charles Wannabes - der da unweit von ihm entfernt wie angewurzelt saß und mit seiner Pfote wieder und wieder über einen der vielen weißen Schatten auf dem schwarzen Erdboden rieb. Langsam lief nun auch Lukas die Treppe hinab und auf das Tier zu, wobei ihn mit jedem einzelnen Schritt zunehmend ein ungutes Gefühl beschlich. Er erinnerte sich nämlich in diesem Augenblick an sein letztes Telefonat mit seinem Partner Charles am Silvestermorgen, bei dem dieser ihm mitteilte, nach Mitternacht mit seiner Freundin Claudia und dem adoptierten Cedrick kurz nach Mitternacht die Neujahrsmesse in St.Pauls besuchen zu wollen. Nur zögerlich wagte es Lukas bei seinem Eintreffen auf der untersten Stufe, einen genaueren Blick auf jenen weißen Schatten zu werfen, an dem Vierbein da unmittelbar vor ihm so unablässig scharrte. Und tatsächlich: Wenn man sich die grauenhaften Schattierungen eingehender betrachtete, erkannte man, daß sich rechts und links von dem bewußten Schatten zwei weitere abzeichneten - ein kleiner und ein großer - die den mittleren an je einer Hand festzuhalten schienen. Beinahe stellte jenes grausige Schattenspiel eine exakte Negativkopie der Schnee-Engel-Gruppe dar, die Lukas und seine Eltern einst auf dem Berliner Flughafengelände hinterlassen hatten. Zweifelsfrei handelte es sich somit in Svenssons Augen bei den vorliegenden Schatten um die von Charles Wannabe, Claudia Palmer und Mike L.Jag's Sohn Cedrick. Die Drei hatten vermutlich mit all den anderen hier Versammelten noch vor dem Gottedienstbesuch das große Feuerwerk zum Jahreswechsel bestaunt und waren dann von der Detonation der Atombombe überrascht worden, während Vierbein aus Angst vor dem auf ihn bedrohlich wirkenden Feuerwerk bereits zuvor in die Kathedrale geflüchtet war und damit als Einzigster sein Leben noch rechtzeitig in Sicherheit gebracht hatte. Bestürzt fiel Lukas auf die Knie, wobei sich seine wunden Hände auf das struppige Fell Vierbeins legten und wieder und wieder verzweifelt darüber hinwegstrichen, so als hoffe er, gleichsam mit einem Handstreich das ganze Grauen dieser schrecklichen Nacht einfach ungeschehen machen zu können. Jenes bemitleidenswerte Trauerspiel zwischen Lukas und seinem tierischen Leidensgenossen mochte wohl eine ganze Stunde gedauert haben, und es hätte auch sicher noch länger gewährt, wenn nicht Vierbein mit einem Male mit seiner rauhen Zunge über Svenssons linke Wange geschleckt und ihn damit aus einem apathieähnlichen Zustand zurück in die schmerzliche Realität geholt hätte. Erst jetzt bemerkte der Ex-Inspektor das wiederkehrende Vibrieren in seiner rechten Hand, das - wie er nun wußte - von einer weiteren Nachricht auf seinem Handy kündete. In der stillen Hoffnung, am anderen Ende die Stimme Yelenas zu vernehmen, drückte er die grüne Hörertaste und führte das Telefon ans Ohr. Doch zu seinem Leidwesen meldete sich erneut eine ganz andere, krächzende Stimme räuspernd zu Wort: "Tag 2: Nach der Ausradierung der Menschheit wird nun auch das Schicksal des Tierreichs besiegelt. Durch die Aufnahme radioaktiv verseuchten Futters und Wassers verenden auch diese Kreaturen innerhalb kürzester Zeit jämmerlich und qualvoll und sorgen so dafür, daß alles Leben auf der Erde nun endgültig für alle Zeit zum Schweigen verurteilt ist". Mit einem kurzen Piepton endete die düstere Ansage Derrik Crawlers. Lukas aber ballte seine Faust um das Handy, während er mit der anderen Hand Vierbeins zitternden Hundeleib umklammerte und ihn mit sich aufhob. Und seine trockenen Lippen preßten mit zorniger Entschlossenheit hervor: "Nein, da irrst Du Dich, Crawler! So wie Du Dich geirrt hast, als Du glaubtest, die Menschheit komplett auslöschen zu können, so werde ich alles daransetzen, Dir auch diesen Teil Deines teuflischen Plans gründlich zu durchkreuzen! Vierbein wird leben, so wie auch meine Yelena Deinen skrupellosen Massenmord überlebt hat! So wahr ich hier stehe!". Ein heftiges Stampfen von Lukas' nacktem rechten Fußes ließ wie zur Bekräftigung seines sich selbst gegebenen Versprechens die Erde unter ihm erbeben. Dann aber stapfte er festen Schrittes, den Hund Wannabes mit seinem Arm fest umklammernd, über die Geröllmassen vor dem Kirchenvorplatz - Ausschau haltend nach dem einst ganz in der Nähe befindlichen Eingang zum U-Bahnhof.

Es dauerte wohl mehr als zwei weitere Stunden, bis er die gesuchte Stelle endlich ausgemacht hatte. Die nur ganz leicht aus all dem Schutt herausragende Spitze eines runden U-Bahnschildes war dabei der alles entscheidende Hinweis. Doch rund um das Schild herum türmten sich weit und breit nur verkohlte Autowracks und jede Menge Geröll. Svensson setzte seinen tierischen Begleiter auf einem der Autowrackdächer ab, wobei er den hechelnden Vierbein genaustens instruierte: "Schön hier sitzen bleiben, mein Kleiner, während Onkel Lukas da drüben nach Tante Yelena buddelt. Nicht wegrennen und auf gar keinen Fall das häßliche schwarze Wasser trinken, verstanden?!". Vierbeins Kopf mit der weit heraushängenden staubtrockenen Zunge wackelte dreimal vor und wieder zurück. Zufrieden legte Lukas nun auch sein Handy zu Füßen des zitternden Hundes ab und ergänzte dabei: "Und schön auf das Telefon aufpassen, ja?! Und wenn es zu brummen anfängt, was tust Du dann, na?!". Ein lautes Kläffen war die Antwort des verständigen Vierbeiners. Lukas aber nickte lächelnd und kraulte den ehemaligen Streuner hinterm wuscheligen Ohr. Dann begab er sich ein paar Meter weiter zu dem vermeintlichen Treppeneingang des U-Bahnhofs und begann, mit bloßen Händen Stück um Stück das Gestein und die es umschließenden Staubmassen abzutragen. Er grub Stunde um Stunde, und gönnte sich nur dann eine kurze Pause, wenn es unbedingt nötig erschien, weil ihm der kaum zu ertragende Schmerz seiner aufgeplatzten Hände sonst womöglich eine neuerliche Ohnmacht beschert hätte. Das Handydisplay zeigte schließlich 14.21 Uhr an, als Lukas die Hälfte der Treppe freigelegt hatte. Er gönnte sich eine kurze Auszeit, wobei ihm Vierbein immer wieder mitleidig über die blutigen Finger leckte und mit seiner kalten Hundschnauze dem Ex-Inspektor einen aufmunternden Schmatzer aufdrückte. Auch der erschöpfte Lukas ließ seinem neuen Lebensabschnittsgefährten reichlich Streicheleinheiten zukommen, zumal es ihm wie eine Wohltat erschien, nach all den rauhen, kalten Gesteinsbrocken die Hände auf etwas so weiches und lebendiges wie das Fell dieses Tieres legen zu können. Und während er Vierbein so über den Rücken strich, da sprach er mit einem Male leise: "Weißt Du, kleiner Kumpel, ich hatte als Kind in meiner Zeit im östlichen Berlin auch mal einen Hund, der hieß Mohrchen. Mit dem hab ich manchmal stundenlang auf unserem Hinterhof herumgetollt, so wie es Charles immer mit Dir zu tun pflegte. Und ein kleines Kunststück konnte der auch. Wenn ich ihn drum bat, dann gab er mir nämlich seine Pfote zur Begrüßung. Ich mußte mich nur vor ihn hinknien, ihm tief in die Augen schaun und sagen: 'Mohrchen, gib Pfötchen!'. Dann tat er es, wieder und wieder. Wie unendlich traurig war ich doch, als ich ihn eines Tages mit allen Vieren von sich auf dem Bauch liegend fand, die Augen geschlossen, die Zunge heraushängend. Erst dachte ich ja, er schläft nur. Bis ich an diesem Tag zum ersten Mal in meinem jungen Leben begreifen mußte, was es heißt, wenn jemand tot ist. Was es bedeutet, wenn jemand einschläft, ohne je wieder aufzuwachen. Glaub mir, ich hab tagelang geheult wie ein Schloßhund. Erst nach Wochen hat sich meine Trauer langsam wieder gelegt. Und meine Eltern haben mir dann irgendwann eine Katze geschenkt, die ich Minka nannte. Die war so ganz anders als mein Mohrchen, vor allem, weil sie tatsächlich - wie man so schön behauptet - sieben Leben zu haben schien. Das verrückte Tier konnte einfach anstellen, was es wollte, es passierte ihm nie etwas Schimmes. Sie sprang vom 4.Stock aus dem Küchenfenster und landete auf den Pfoten. Sie soff aus einer Blechschüssel Wasser mit giftigem Farbverdünner, verdrehte kurz die Augen, übergab sich dann einmal im Hof und stand wieder auf den Beinen. Erst das Alter ließ sie irgendwann schwächer und schwächer werden und raffte sie am Ende dahin, wie uns alle eben. Jeden Menschen, jeden Hund, jede Katze und auch jedes andere Lebewesen auf dieser Erde!". Es tat Lukas Svensson sichtlich gut, sich nach all den Stunden der völligen Einsamkeit wieder einmal mit einem lebendigen Wesen unterhalten zu können, auch wenn die Unterhaltung in diesem Falle einem Außenstehenden eher einseitig erscheinen mochte. Tja, der Mensch war nunmal seiner ganzen Art nach ein soziales Wesen - für die Gemeinschaft und nicht zum Alleinsein bestimmt. Und ohne jegliche sozialen Kontakte und die Möglichkeit zur Kommunikation verkümmerte am Ende nicht nur sein Geist oder sein Gefühl - sondern vor allem auch er selbst.

Gedankenversunken hob Svensson seinen Kopf und entdeckte dabei auf einem aus dem Schutt etwas herausragenden Laternenmast eine kleine weiße Taube, die sich scheinbar ebenso auszuruhte wie er selbst und dabei ganz aufgeregt gurrte. Von einem Felsvorsprung in der Nähe gesellte ein kleiner Spatz seine Piepsstimme zu der ihren hinzu. Und irgendwo weiter weg pochte ein Specht seinen hungrigen Schnabel in einen der zahllosen verkohlten Baumstämme, die hier und dort astlos aus dem Schutthaufen von Londons City hervorlugten. Mit geschlossenen Augen stieß Lukas' staubige Kehle röchelnd einen Stoßseufzer hervor. Ach, wie herrlich einem doch dieses kleine, spontane Vogelkonzert erschien, wenn man mal für einen Moment all das Grauen um sich herum vergaß. Längst schon am Ende seiner Kräfte angelangt, genoß Lukas Svensson diesen Augenblick und bemerkte dabei nicht, wie ihm die schwergewordenen Augenlider gänzlich zufielen und der damit eintretende Schlummer seinem verbrauchten Körper jene Erholung gab, die der Ex-Beamte sich selbst nicht zu gönnen erlaubte. Der unruhige Schlaf Svenssons ließ vor seinem geistigen Auge ein recht absurdes Traumbild entstehen ... Er saß auf einer Art fliegendem Teppich und flog damit rückwärts eine lange Straße, eingerahmt von schmuddligen Häuserreihen, entlang. Der Teppich gewann dabei langsam an Höhe, und schließlich schwebte er über einer Art riesigem gläsernen Dach mit einer öden wüsten Landschaft darunter. Am unteren Ende des Traumbildes aber lief die ganze Zeit über ein Zeitzähler rückwärts mit. Als Lukas mit einem Ruck an den ihn umgebenden Fransen die Bewegung des Teppichs stoppte, zeigte jener Counter genau auf 00:06:00. Lukas Svensson war gelandet und erwartete nun, daß sich irgendwo vor ihm in einiger Entfernung gleich ein Atompilz in die Luft erheben würde. Dabei konnte er sich nicht auf die Beobachtung des vermeintlich zu Erwartenden konzentrieren, da ein monströser Blutegel aus einem Schmutzwassertümpel auftauchte und versuchte, sich an einem kleinen klebrigen Papierfetzen in Lukas' linker Hand festzusaugen. Es gelang Lukas auch nicht, den ekligen Wurm durch den Zugriff seiner rechten Hand dingfest zu machen. Das Biest war einfach zu glitschig und entkam ihm immer wieder. Stattdessen tauchte nun neben Svensson ein kleines Mädchen in einem dünnen weißen Nachthemdchen auf. Und in einiger Entfernung entdeckte er einen Mann mittleren Alters in pechschwarzer Uniform, der völlig unbeeindruckt von all dem, was gerade um ihn herum geschah, einfach nur dasaß und ununterbrochen die verstaubten Gläser eines Fernrohrs mit einem grauen Stofftaschentuch putzte ...

Das laut schmatzende, klebrige Schlecken Vierbeins an seiner Nase weckte Lukas aus seinem traumatischen Schlummer, der einmal mehr einige wertvolle Stunden in Anspruch genommen zu haben schien. Svensson schreckte hoch und setzte seine zuvor unterbrochene Ausgrabungsarbeit mit Feuereifer fort. Dabei stieß er inmitten von Asche, Staub und Geröll irgendwann auch auf eine, von Folie umhüllte und dabei wie durch ein Wunder nahezu unversehrte Sonnenblume in einem himmelblauen Keramiktopf. Ganz behutsam legte er sie mit seinen zittrigen Händen frei und platzierte sie dann wie einen Schatz neben Vierbein auf dem Dach des Autowracks. Anschließend grub er wieder weiter. Gegen 23.30 Uhr war er endlich bis auf den Bahnsteig vorgedrungen, wo er aber in der ihn dort umgebenden Finsternis auf Anhieb lediglich schemenhaft einen einzigen ausgebrannten und verlassenen U-Bahn-Zug wahrnahm. Er begann, aus voller Kehle Yelenas Namen zu rufen - wieder und wieder. Doch in den Pausen, die er dazwischen ließ, blieb bis auf das Heulen des den Bahnsteig durchziehenden Windes alles stumm. Immer weiter begab er sich auf dem Bahnsteig vorwärts und trat dabei schließlich mit voller Wucht in eine große Pfütze, so daß ihm das klebrige pechschwarze Naß bis an die Kniescheiben spritze. Unbeirrt lief er weiter, Schritt um Schritt, blieb wieder stehen, rief nach seiner geliebten Frau und wartete dann auf irgendeine Reaktion, um anschließend den Kreislauf seiner fortschreitenden Bemühungen von Neuem zu starten. Erst als seine tastende Hand vor ihm in Form einer steinernen Wand schon das Bahnsteigende spürte, vernahm er plötzlich in seinem Rücken leise zarte Schritte, die näherkamen und dann unvermittelt stoppten. Voller Hoffnung drehte sich Lukas um und rief: "Yelena?! Bist Du das, Yelena?!". Doch während ihm das Echo im U-Bahnhof in Form eines wiederholten, leisen "Yelena" antwortete, blieb die ersehnte Reaktion von anderer Seite gänzlich aus. Stattdessen war nunmehr ein lautes, wiederhallendes Schlabbern zu vernehmen, wie von einer Hundzunge an einem Wassernapf ... Lukas erstarrte vor Schreck und schrie: "Pfui, aus, Vierbein!". Aber es war längst zu spät. Der durstige Vierbeiner hatte in seiner Not bereits die halbe Pfütze aufgeleckt und lief nun reumütig zum Ausgang des Bahnhofs zurück. Mühsam erklamm er die vielen Stufen der freigelegten Treppe, schleppte sich zurück auf seinen Platz auf dem Dach des Autowracks, brach dort zusammen, übergab sich und japste verzweifelt nach Luft. Svensson, der ihm gefolgt war, aber legte behutsam seine Hand auf das schmutzig-feuchte Fell des Hundes und schluchzte: "Ach, Vierbein! Warum hast Du das getan? Du bist doch keine Katze! Du hast doch keine sieben Leben, sondern nur das eine! Jetzt behält dieser Dreckskerl Crawler ja doch recht mit seiner schrecklichen Prognose! Und ich bin wieder allein!". Und während der arme kleine Vierbein mit einem letzten lauten Stöhnen seine großen, rasch verblassenden Kulleraugen für immer schloß, senkte sich Svenssons tränenverhangener Blick weg von dem sterbenden Tier hin zu seinen eigenen zerschundenen Füßen. Seine Ohren lauschten dabei sehnsüchtig auf ein mögliches Vogelzwitschern, doch auch hier draußen war jetzt nur noch das eintönige Pfeifen des Windes zu hören - jenes kühlen Windes, der einige Meter entfernt auch die inzwischen leblosen Gefieder von Taube, Spatz und Specht umwehte ...

[Wird fortgesetzt]

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Samstag, 15. September 2012, 14:41

INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 03: Es geht ein' dunkle Wolk' herein

Mit bloßen Händen hatte sich Lukas Svensson erneut voller Verbissenheit an das Untergraben der ungeheuerlichen Schuttmassen gemacht. Tränen kullerten ihm dabei ohne Unterlaß die blaßrosanen Wangen herab und fielen von dortaus als wohltuende Kühlflüssigkeit auf seine wundgescheuerten, schmerzenden Handrücken. Geradezu wie besessen hob er Stein um Stein und Erdbrocken um Erdbrocken direkt an einem der rückwärtigen Mauern der St.Pauls Cathedral ein kleines Loch von etwa einem Meter Länge, einem halben Meter Breite und ebensolcher Tiefe aus. Dann trug er in seinen Armen vom nahegelegenen Autowrackdach den schlaffen, leblosen und langsam erkaltenden Körper des Hündchens Vierbein zu jenem Erdloch herunter und legte ihn behutsam hinein. Er schlug mit dem zittrigen Zeigefinger der rechten Hand ein Kreuz vor seiner Brust und stammelte weinend: "Ruhe in Frieden, Vierbein! Genau an dieser Stelle, wo mein Freund Charles Wannabe Dich einst in einem seiner zweifellos glücklichsten Momente wiedertraf, obwohl er Dich ja schon damals für auf ewig verloren erachtete, soll nun Deine letzte Ruhestätte sein! Du warst mir ein guter, ein lieber Weggefährte, wenn uns gemeinsam auch nur eine kurze Wegstrecke vergönnt war. Nun aber, da Du Deinen letzten Weg vorerst ohne mich antrittst, werde ich mir eine neue Wegbegleitung suchen müssen. Wer aber auch immer für die kommende Zeit diesen Platz an meiner Seite einnehmen wird, es wird ihm nur schwerlich gelingen, die Lücke auszufüllen, die Dein Tod in mir hinteräßt! Leb wohl, treuer vierbeiniger Kamerad!". Und Hand um Hand Sand und Gesteinsstaub über den toten Leib des Hundes streuend, ergänzte er schweren Herzens leise murmelnd: "Asche zu Asche, Staub zum Staube! Dein Erdendasein ist vergänglich, aber in den Herzen und Gedanken derer, die Dich kannten und liebten, lebst Du auf ewig weiter! Amen!". Sachte plazierte er ein paar kleine Steine auf dem provisorischen Grabmal des Hundes und steckte dann eine, zu einem Kreuz verschweißte Gitterverstrebung - die sich aufgrund der heftigen Druckwelle der Bombenexplosion wohl aus einem der Kirchenfenster gelöst haben mußte - in den soeben aufgetürmten Steinhaufen. Ein letztes stummes Blinzeln und eine dabei aus seinem Auge herabrinnende Träne gönnte er dem toten Tier, dann kehrte er um und begab sich schweren Schrittes zurück zu dem Autowrack mit der gefundenen Sonnenblume.

Dort angekommen, bemerkte er sofort das leicht hüpfende Vibrieren seines Handys auf dem eingedrückten Autodach. Zielsicher drückte sein Zeigefinger auf die grüne Taste, wonach seine restlichen Finger sogleich zum Zugriff auf das herumspringende Mobiltelefon ansetzten, um es dann in sicherem Gewahrsam mit sich in Richtung Ohr abzuführen. An seine aufgesperrten Lauscher aber drang, wie auch gar nicht anders erwartet nach der sanftstimmigen, computergenerierten Information über eine weitere neue Sprachnachricht, das diabolische Räuspern und Krächzen Derrik Crawlers: "Tag 3: Für die Zukunft der Erde sieht es finster aus. Denn hinter den gigantischen Wolken aus Rauch, Staub und Asche, die die heftigen Detonationen all der weltweit eingeschlagenen Atombomben aufgewirbelt haben, verschwinden in Windeseile sämtliche Himmelskörper und mit ihnen auch das Licht der Welt. Die ewige Finsternis übernimmt an seiner Stelle endlich das lang angestrebte Regime auf Erden!". Ein weiterer Piepton ließ die - diesmal gleich in doppelter Hinsicht - dunkle Prophezeihung des finsteren Gesellen Crawler verstummen. Lukas Svensson aber ließ das Funktelefon wieder aufs Autowrackdach zurückgleiten und schaute augenblicklich zum Himmel empor. Hier und da riß die Staubwolkendecke für einen Moment, und es blitzte darunter noch der eine oder andere Stern auf. Sollte Derrik Crawler wenigstens dieses eine Mal mit seiner gefühllosen Schwarzmalerei Unrecht behalten haben?! Ja, es schien zumindest! Es schien auch nach einer halben Stunde noch so, sogar nach einer Stunde und auch noch nach der zweiten und dritten. Und gerade als Lukas Svensson triumphierend den ausgstreckten Mittelfinger seiner zur Faust geballten Hand in Richtung Handy ausstrecken wollte, zogen sich sämtliche Wolkenfetzen wie von gespenstischer Hand bewegt, zusammen und verdunkelten damit das komplette Himmelszelt. Was zurückblieb, war ein düsteres blaues Licht, das augenblicklich alles auf Erden in einen gänzlich unrealen Blauton tauchte. Die Welt war völlig blau, und auch Lukas hätte bei diesem zutiefst ernüchternden Anblick den einen oder anderen ordentlichen Doppelkorn vertragen können, um den ungewöhnlichen Zustand wenigstens auf diese hochprozentige Art mit seinem, bislang so geschätzten Himmelskörper teilen zu können. Aus Ermangelung derartiger Rauschmittel aber ließ er sich stattdessen nunmehr einfach völlig kraftlos und wie in Zeitlupe auf den staubigen Untergrund sinken. Den Kopf verbarg er zwischen seinen - mit beiden Ellenbogen auf die Knie aufgesetzen - Armen. An den, auf seiner hohen Stirn aufgelegten Handflächen vorbei aber schauten seine Augen auf den düsteren, ebenfalls bläulich schimmernden Treppeneingang zur ehemaligen Ubahnstation, der nun in seinen Augen quasi wie ein offenes Grab still vor ihm lag. Und sichtlich entmutigt klagte er, an eine weitaus höhere Stelle gerichtet: "Warum? Warum tust Du mir das an? Was hat das alles denn noch für einen Sinn? Hab ich nicht alles in meiner Macht Stehende unternommen, um meine verschollene Frau wiederzufinden. Und das ja keineswegs zum ersten Mal. Aber hier ist einfach nichts! Kein Lebenszeichen, kein Anhaltspunkt, keine noch so kleine Hoffnung! Wo, um Himmels willen, sollte ich sie denn noch suchen?! Vielleicht ist ja einfach alles umsonst. Womöglich war ihr letzter Anruf so etwas wie ein Abschiedsgruß an mich, und sie ist jetzt wie all die anderen längst ...". Blitzartig sprang er auf, wobei er den Kopf wild hin und her zu werfen begann, Die Hände aber streckte er mit den nach außen geöffneten Handflächen von sich, so als käme jener düstere Gedanke, den er eben in seiner Verzweiflung fast schon zuende gedacht hatte, nicht aus seinem tiefsten Innern, sondern vielmehr aus dem tiefsten dunkelsten Innern jenes finsteren Erdlochs in seinem unmittelbaren Blickfeld. Ein geradezu kindlich-trotziges Aufbäumen lag plötzlich in seiner Stimme, die aus tiefster Seele in das nächtliche Halbdunkel hineinbrüllte: "Nein! Das redest Du mir nicht ein! Nichts und niemand bringt mich dazu, meine einzige Hoffnung aufzugeben und an den rechten Wegen des Herrn zu zweifeln! Weiche von mir, Satan!". Und tatsächlich, es funktionierte. Die geradezu teuflische Versuchung jener selbstzerstörerischen Mutlosigkeit und die damit verbundenen ungläubigen Zweifel am Sinn seines Daseins verließen den einsamen, leidgeprüften Durchwanderer in der Londoner Großstadtwüste wieder für eine Zeitlang.

Stattdessen keimte neue Hoffnung in Lukas auf - eine Hoffnung, die im Moment vor allem von einer kleinen unscheinbaren Pflanze ausging. Dabei handelte es sich um jene, aus ihrem staubigen, steinernen Verließ befreite gelbgoldige Sonnenblume, die neben ihrer großen Blüte mit en vielen Kernen in ihrer Mitte an ihrem Stengel auch noch zwei herrlich große, grasgrüne Blätter und zwei klitzekleine Knospen trug, aus denen sich über kurz oder lang scheinbar zwei weitere Blütenköpfe aufzubrechen anschickten. Lukas erinnerte sich bei jenem atemberaubend lebendigen Anblick daran, wie er in den vergangenen Jahren seine geliebte Yelena - auf die er jetzt kurzerhand hier an Ort und Stelle zu warten gedachte - stets milde belächelt hatte, wenn sie während des Gießens mit ihren unzähligen Blumen und Topfpflanzen redete. Und nun, in dieser außergewöhnlichen Extremsituation, war er fast dazu geneigt ... Ach, warum eigentlich auch nicht?! ... Und so räusperte er sich zweimal und kratzte sich dabei etwas unsicher an seiner Stirn, bevor seine Lippen zaghaft hervorstießen: "Also, äh, Guten Tag oder vielmehr Guten Morgen?! Wenn ich mich Dir einmal vorstellen darf?! Ich darf Sie, äh also Dich doch ... ich meine, Du sagen! Was ich sagen will, ich heiße Svensson, aber Du kannst ruhig Lukas zu mir ... achso, geht ja eh nicht! Aber wenn Du reden könntest, dann könntest Du mich ... äh, also mich Lukas nennen! Entschuldige bitte, wenn ich ein wenig nervös wirke, aber das ist im Grunde genommen mein erstes Stelldichein mit einer von Deiner Sorte! Also, nicht daß Du jetzt denkst, ich hätte vor Dir noch nie eine andere ... Ne, also ich hab schon mehrere, also Dutzende, ach was red ich, hunderte gehabt. Ich hab sie, wannimmer mir eine gefiel, einfach an einer Straßenecke oder im Park aufgegriffen und mit zu mir nach Haus genommen. Da hab ich sie dann erstmal in aller Ruhe untenrum entblättert und mich an ihrem herrlichen Duft gelabt. Und dann hab ich sie mitten auf den Küchentisch gestellt und nach Lust und Laune von allen Seiten betrachtet. Oder ich hab sie im Sommer auf den Balkon gestellt, so daß die Nachbarn auch was von ihrer bloßen Schönheit hatten. Dabei reichte mir manchmal eine einzige gar nicht aus, nein, ich besorgte sie mir gleich im ganzen Dutzend und teilte sie mit den Menschen, die ich liebte. Sich an eurer ganz natürlichen Schönheit gemeinsam zu erfreuen, ist doch eh der Höhepunkt jener blühenden Leidenschaft, oder?!". Den selbstverständlich ausbleibenden Widerspruch seitens der liebreizenden Sonnenblume kurzerhand als stilles Einverständnis wertend, wurde Lukas sichtlich kühner, wobei seine anfängliche Verlegenheit rasch wich. Und so meinte er, die kernige Schöne mit seinem - bisher nur am weiblichen Teil seiner eigenen Species erprobten - verführerischen Augenaufschlag gleichsam spielerisch anflirtend: "Oh je, wo hab ich nur meinen Kopf?! Wir plaudern hier so angeregt, und ich hab Dich noch nicht einmal nach Deinem Namen ... Nun, fragen bringt da vermutlich nicht allzuviel. Vielleicht darf ich mir einen Namen überlegen, der zu Dir paßt?! Also gut, wie wäre es denn, wenn ich Dich Sunny nenne, wegen Deiner rundum sonnigen Ausstrahlung. Ja, Sunny paßt zu Dir, die Du so einsam und allein in mein Leben tratst - als Solo Sunny sozusagen! Und was den Familiennamen angeht, nun, da brauch ich ja nicht lang überlegen, Du fesches Blümlein Du! Der ist selbstverständlich Flower, nicht wahr?!". Und sich im Angesicht des Blumentopfes tief verbeugend, sprach er - verbunden mit mehreren ausladenden Bewegungen seines ausgetreckten Arms: "Sunny - Lukas! Lukas - Sunny! ... Sehr angenehm, Fräulein! Du mußt nämlich wissen, ich hab schon als kleiner Junge im Nachkriegsberlin mit Deinen Geschwistern gespielt. Die standen bei uns im Hinterhof. Unser Nachbar, Herr Gärtner, hat sie im Frühjahr und Sommer 1948 in einem selbst zusammengebastelten glasüberdachten Frühbeet gezüchtet. Und wir haben als Kinder dann heimlich die Kerne aus den goldgelben Blüten herausgebrochen und gekaut wie die Westberliner Jungens die amerikanischen Besatzungskaugummis. Meine Güte, kamen wir uns damals lässig und erwachsen vor! Aber jetzt nur keine Sorge, auch wenn ich ziemlich ausgehungert bin, ich geh Dir schon nicht gleich ans Eingemachte. Schließlich bin ich ja inzwischen kein Lausejunge mehr, sondern ein ganzer Gentleman, und außerdem möchte Dich so lange wie möglich noch in Deiner ganzen Herrlichkeit an meiner Seite wissen. Und laß mit jetzt bloß nicht das zauberhafte Köpfchen hängen, was Deinen Flüssigkeitshaushalt angeht. Sobald wir hier in der trostlosen Einöde eine brauchbare Tränke gefunden haben, spendier ich Dir und mir sofort eine kühle Erfrischung. Also, junges Fräulein, nicht schlappmachen. An meiner Seite ist bsi jetzt noch keine Dame und kein guter Freund verdurstet".

Das Wort Freund aber ließ Lukas für eine Sekunde aus seiner ungewohnten Rolle als botanischer Alleinunterhalter ausbrechen. Er verfiel für einen Augenblick lang einer merkwürdig bedrückenden Stimmung und seufzte dabei leise auf. Dann aber redete er auch gleich wieder ganz unverdrossen weiter, wobei er sich noch einmal dem eigentlich schon abgeschlossenen Thema pflanzlicher Namensgebung widmete: "Tja, weißt Du, Kleines, statt Sunny hätte ich Dich natürlich auch Audrey nennen können, wo mich dieser Name doch so in seinen Bann gezogen hat, seit mein Freund Jack aus L.A. mir seit längerer Zeit immer mal wieder recht unverblümt in den höchsten Tönen von einer Dame jenes Namens vorgeschwärmt hat, vor allem von ihrem strahlenden Lächeln und ihrem sonnigen Gemüt. Du wärst dann also quasi Audrey die Zweite. Und das würde ja auch ziemlich gut passen zu unserer Situation. Schließlich hat sich mein geliebtes London über Nacht in einen kleinen Horrorladen verwandelt, und es wäre Dir keineswegs zu verdenken, wenn Du aufgrund des vorherrschenden Mangels an unbelastetem, trinkbarem Wasser zur Blutsaugerin mutieren würdest. Ach ja, Du kleines, zartes Pflänzchen! Wo der gute Jack jetzt wohl steckt und was er wohl macht?! Denn daß er die Nuklearschläge überstanden hat, steht für mich ganz außer Zweifel! Wenn es außer Dir, Yelena und mir einer geschafft hat, dann ganz gewiß er! Der Junge hat nämlich nicht nur 7 Leben, nein, der hat ganze 8 oder noch mehr! Wahrscheinlich ist er wie im Märchen auf einer Bohnenstange, so einer mutierten Artgenossin von Dir, in die Wolken geklettert, wo er sich nun an einem seiner unheimlich langen Arbeitstage auf seine ganz eigene heldenhafte Art mit jener - von dortaus mit Abstand sicher erst in ihrem ganzen entsetzlichen Ausmaß zu erkennenden - riesigen Bedrohungslage herumschlägt!". Und ins dunkle Blau des sternenlosen Himmels hineinschauend, ergänzte der Ex-Inspektor mit erhobenen Daumen zuversichtlich: "Keine Sorge, Du schaffst das, Jack, mein Freund! Denn solange nur noch einer wie Du noch am Leben ist, ist die Welt noch zu retten!". Dann wandte er sich wieder seiner, aufgrund der spärlichen Beleuchtung längst ebenfalls ganz im Blau ihrer Topfummantelung schimmernden Sonnenblume und säuselte ihr in Abwandlung eines alten deutschen Schlagers in eines ihrer zarten Blütenblätterohren: "Die ganze Welt ist himmelblau, wenn ich auf Deine Knospen schau!". Und augenzwinkernd ergänzte er: "Eure Majestät, Audrey II. Darf ich Euch um Eure blättrige Hand und um einen Tanz bitten?! Die stolze Erhabenheit Eures wohlgeformten Stengels schreit ja förmlich danach, sich von mir um den Finger wickeln zu lassen!". Dabei packte er sie, ohne lang auf eine wie auch immer geartete Sonnenblumenkernreaktion ihrerseits zu warten, mit beiden Händen beim Topfe, erhob sich mit ihr und wirbelte sie dann mit sich im Kreise herum. Er, der stets ein so lausiger Tänzer gewesen war, hatte plötzlich Lust zu tanzen. Ein Tänzchen zu wagen auf diesem, sich oberflächlich immer mehr abkühlenden und doch innerlich sicher nur umso heißer brodelnden Trümmerfeld menschlicher Existenz - einen Tanz auf dem Vulkan sozusagen. Und bei dem, was ihn vermutlich angesichts der radioaktiven Strahlung, der er permanent ausgesetzt war, noch erwartete, war dies dann wohl auch zweifellos sein letzter Tanz. Seine Augen schlossen sich dabei langsam, und wieder entwich seinen Lippen leise und mit leicht angepaßtem, neuen Text die Melodie eines Schlagers aus der alten Heimat: "Ich tanze mit Dir in den Himmel hinein, in den siebenten Himmel, mein Blümchen!". Wenn Lukas Svensson jetzt jemand hätte sehen können, wie er nackt und hemmungslos mit einer Sonnenblume im Arm über den Gipfel einer Schutthalde hopste, man hätte ihn sicher für verrückt gehalten. Aber zum einen sah ihn ja leider Gottes niemand, und zum anderen war er ja keineswegs geistig sondern vielmehr beleuchtungstechnisch umnachtet und versuchte auf diese Art, der ihn umgebenden grauenvollen Situation wenigstens für einen Moment lang zu entfliehen, indem er alles um sich herum einfach schlichtweg vergaß. Oh ja, wie süß diese Form des Vergessens doch war - wie leicht sie einem das schwere Leben doch zu machen vermochte. Wie im Rausch drehte sich Lukas Svensson mit seiner vollblütigen Partnerin immer schneller, sprang und hüpfte hin und her und pfiff dabei, so gut er eben pfeifen konnte, die Melodie des Gassenhauers: "Denkste denn, denkste denn, Du Berliner Pflanze - denkste denn, ick liebe Dir, bloß weil ick mit Dir tanze?!". Stunde um Stunde durchsummte und durchsang der Ex-Inspektor so weltvergessen den nunmehr dritten Tag nach dem Atomanschlag. Und er war so abgelenkt, daß er dabei weder Hunger noch Durst verspürte und erst recht keinen Schmerz. Er hörte auch nicht das leise Pfeifen, welches der pausenlos über den Treppengang in den Ubahnhof hineinwehende Wind hervorbrachte und dabei - wenn man sich ganz im Gegensatz zu Lukas ein wenig mit neumodischer, elektronischer Tanzmusik aus deutschen Landen auskannte - zeitweise die Melodie von Blümchens "Ubahn ins Paradies" zu erzeugen schien. Der Ex-Inspektor aber verschwendete daran keinen einzigen seiner unendlich weit abgeschweiften Gedanken - ja, er merkte in seinem Zustand noch nicht einmal, daß die digitale Uhr auf seinem Handydisplay im eintönigen Himmelsblau einmal mehr schnurstracks auf Mitternacht zusteuerte ...

[Wird fortgesetzt]

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Samstag, 15. September 2012, 14:45

INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 04: Wenn die Blumen weinen könnten

Punkt Mitternacht nahmen schlagartig sowohl das Wehen des Windes als auch das Herabfallen des schwarze Regen so deutlich an Intensität zu, daß Lukas Svensson sein Tanzvergnügen mit der blühenden Erscheinung Sunnys abrupt abbrechen mußte. Und da ihm der aufkommende Sturm dabei auch noch die letzte momentan verbliebene Lebensabschnittsgefährtin zu entreißen drohte, sah er sich genötigt, sich mit der ganzen Gewalt seines wuchtigen Körpers zwischen den windigen Angreifer und die zarte Freundin zu werfen. Er umfaßte mit seiner linken Hand den Blumentopf ganz fest und drückte das in ihm befindliche zarte Pflänzchen dicht an seine bloße Brust. Dann schnappte er sich mit der Rechten noch rasch sein Handy vom Dach des nahestehenden Autowracks und enteilte mit beidem, so schnell es entgegen dem Wind eben ging, in Richtung St.Pauls. Denn im Innern des Gotteshauses erhoffte er sich - wie biblisch zugesichert - Schutz, auch vor den klimatischen Auswüchsen jener von Menschenhand ausgelösten, atomar bedingten Naturkatastrophe. Gemeinsam mit Sunny und dem Mobiltelefon ließ er sich gleich am Eingang der Kathedrale auf der am Boden liegenden Holztür nieder, wobei er seine nackten, wunden Füße über den hölzernen Türrand hinweg auf dem wohltuend kühlenden gefliesten Kirchenboden aufsetzte. Minutenlang hatte er daraufhin sichtlich bedrückt dem zunehmenden Wüten von Wind und Regen zugesehen, als er rechts neben sich einmal mehr das Vibrieren seines Handys bemerkte. Er drückte die inzwischen wohlvertraute grüne Taste, führte das Telefon etwas widerwillig ans Ohr und lauschte der krächzenden Verlautbarung Crawlers, die dabei ertönte: "Tag 4: Ohne Sonne und ohne Wasser kann auf die Dauer kein Lebewesen auf Erden existieren. Die Tage der letzten noch verbliebenen organischen Erdenbewohner sind damit gezählt. Nach Mensch und Tier segnet nun auch die Pflanzenwelt nach und nach das Zeitliche. Und die Erde verkommt damit vom ehemals blauen endgültig zum toten Planeten. Ein unansehnlicher, trostloser Gesteinsbrocken, der - wie all die anderen seiner Art - nur noch nutzlos durchs Weltall kreist! Der Tod aber wird damit zugleich in der alles entscheidenden letzten Schlacht endgültig zum Sieger über das Leben gekürt!". Lukas riß sich das Handy vom Ohr und legte es sichtlich angewidert neben sich. Er hatte es satt, auf das elende Geschwätz dieses seelenlosen Lumpen zu hören. Und wenn dieser Irre in seinem Wahn sich nun auch anschicken würde, alle Pflanzen auf dieser Erde zu vernichten, so hätte er doch bei Sunny diesmal ganz gewiß keine Chance. Sie stand nämlich unter Lukas Svenssons ganz persönlichen Schutz. Und da sie sich aus eigenem Antrieb nicht bewegen konnte, mochte auch nichts und niemand auf der ganzen Welt sie dazu verleiten, sich - wie der arme Vierbein - an dem totbringenden Wasser zu laben. Und es müßte schon mit dem Teufel zugehen, wenn er sein Blümlein somit nicht vor dem angekündigten Tode bewahren könnte. Nur allzugut vermochte er sich ausmalen, was bei der Prognose vom Ende des Pflanzenreichs in Crawlers krankem Hirn vorgegangen sein mochte. Dieser Satansbraten hatte sich wohl vorgestellt, daß Sunny und ihre Artgenossen draußen schutzlos Wind und Wetter ausgeliefert seien und daß sie über kurz oder lang entweder der Sturm abknicken oder der todbringende Regen vernichten würde. Aber da hatte der finstere Geselle Crawler die Rechnung fatalerweise ohne Meister Svensson gemacht. Nein, Lukas war sich gewiß, daß es diesmal absolut keinen Grund zur Beunruhigung für ihn gab. Auf diese Art in den folgenden Minuten immer mehr jener selbstverordneten Ruhe verfallend, nahm er allerdings nun zu seinem Leidwesen - zu ersten Mal seit langem - seinen Körper und dessen Signale auch wieder ganz bewußt wahr. Da waren zu allererst einmal ein recht lautes und unverhohlenes Grummeln in seinem Magen, das von einem mittlerweile unbändigen Hunger zeugte, und eine Trockenheit auf der Zunge, deren unheimlicher Durst ja nunmehr seit gut drei Tagen nicht mehr gestillt worden war. Lukas sah sich um. Doch anstelle eines möglichen Durstlöschers grinste ihm aus einer Ecke der Kirche lediglich ein verkohlter Feuerlöscher entgegen. Auch sonst waren weit und breit nur Schutt und die - inzwischen rasch anwachsenden - Pfützen konterminierten Regenwassers zu sehen, aber nichts auch nur ansatzweise Trinkbares oder Eßbares. Es sei denn ... Zögerlich warf er von der Seite her einen verstohlenen Blick auf seine pflanzliche Freundin, deren kerniges Blüteninneres ihn dabei geradezu anzuflehen schien, zur Stillung des ersten Heißhungers doch endlich auf es zurückzugreifen. Svensson aber war sich trotz des verführerischen Angebots noch immer unsicher, ob ein solcher einschneidender Übergriff auf seine - ohne ihn hilflose - Schutzbefohlene nicht das zarte Band, das gerade erst zwischen ihnen entstanden war, mit einem Male wieder jäh zerstören würde. Allein das leichte, in seinen Augen klar zustimmende Wiegen des sonnigen Blütenkelchs im Winde vertrieb all seine Bedenken. Behutsam löste er mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand oben links vier kleine Kerne aus ihrem Blütenverbund und stopfte sie sich in den ausgehungerten Mund. Er schloß dabei die Augen und kaute vorsichtig auf ihnen herum, um sie dann nach einer gefühlten Ewigkeit endlich herunterzuschlingen. Sein leerer Magen bedankte sich mit einem unterdrückten Rülpsen für die milde Gabe und verlangte damit zugleich nach mehr. Wieder zögerte Lukas, und wieder glaubte er das Nicken Sunnys zu erkennen. Erneut entnahm er der Blüte - diesmal oben rechts - vier Kerne, die er dann über seinen Mund seinem Magen zuführte. Desgleichen tat er daraufhin noch mit vier Kernen aus der Blütenmitte und einer ganzen Doppelreihe von Kernen aus der unteren Blütenhälfte. Sichtlich zufrieden kauend, schmatzend und schluckend, betrachte er sein kernspalterisches Werk und murmelte dabei ein wenig beschämt: "Danke, Sunny! Für Deinen selbstlosen Körpereinsatz zur Befriedigung meiner so lang schon unterdrückten, hungrigen Gelüste. Und sieh doch mal einer an! Bei meiner kleinen Freßorgie hab ich Dir ganz ungewollt sogar sowas wie ein kleines Gesicht verpaßt". Dabei tippte er geradezu liebevoll der Reihe nach in all die kahlen Stellen des kurz zuvor noch so makellosen Sonnenblumenblütenleibs und wisperte: "Punkt, Punkt, Komma, Strich ... fertig ist Sunnys Mondgesicht". Und andächtig seufzend fügte er hinzu: "Ach, weißt Du, Du bist in dieser schrecklichen Finsternis hier einfach der einzige Lichtblick für mich! Du bist echt mein heimlicher Star, Kleines!". Zur Bekräftigung dieser Aussage aber drückte er seine trockenen Lippen sogleich sanft auf ihr neu angelegtes, kernumbettetes Nasenloch.

Der erste Hunger bei Lukas war gestillt, und hatte damit auch das Durstgefühl bis auf weiteres scheinbar erfolgreich verdrängt. Dennoch wurde dieses kurzzeitige Glücksgefühl gleich wieder gedämpft und überdeckt von einem noch viel schlimmeren und überwältigenderen Gefühl - dem des Schmerzes. Jenes fühlbaren Schmerzes, den jede einzelne Pore seines arg geschundenen Körpers stechend und brennend ausstrahlte, aber auch jenes ebenso begreiflichen Schmerzes, der tief aus dem Innern seiner Seele entsprang und auf dem plötzlichen bitteren Verlust all seiner Bezugspersonen und seines so vertrauten und wertgeschätzten Lebensumfelds beruhte. Nichts um ihn herum war mehr so wie früher, und das begann ihn in diesem Moment mehr denn je zu ängstigen. Eines war ihm dabei klar: Wollte er dem aufkommenden, niederschmetternden Gefühl jetzt und hier nicht auf der Stelle erliegen, mußte er für sich einen Ausweg finden. Einen, der ihn einmal mehr vergessen ließ, was eh nicht zu ändern war. Und dieser Ausweg hieß für ihn ein weiteres Mal, Hilfe und Trost zu suchen in der Vergangenheit. Er erinnerte sich an seine Eltern und seine Kinderzeit, vor allem an die weit zurückliegenden Nachkriegsjahre im damals stark zerstörten Ostteil der deutschen Hauptstadt Berlin. Er dachte daran, wie er so manchen Abend nach dem Genuß einer spärlichen Wassersuppe mit noch immer knurrendem Magen und aufgestoßenen Knien auf seinem Strohsackbettlager wartete, bis seine von den Sowjets als Trümmerfrau eingesetzte erschöpfte Mutter vom Steineklopfen zurückkehrte. Sie pflegte sich dann nämlich stets noch ein halbes Stündchen zu ihm zu setzen und ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, bevor ihr selbst die müden Augen zufielen. Meist benutzte sie dabei einen der alten Krimischmöker, die sie einmal bei der Arbeit irgendwo in den Trümmern abgestaubt hatte. Oder aber sie las mit funkelnden Augen aus dem einzigen Buch, das sie auf ihrer überstürzten Flucht aus dem ostpreußischen Königsberg hatte retten können. Jenes kostbare Kleinod, das sie auf der ganzen beschwerlichen Reise stets sorgsam im aufgetrennten Fell ihres Wintermantels in Brusthöhe nahe ihrem Herzen verwahrt hatte - die Bibel. Sie war und blieb zeitlebens ihr Ein und Alles und der einzige Bestseller für sie. Den zweiten vermeintlichen Bestseller der gerade erst zuendegegangenen Zeit, den ein - sich zu Höherem berufen fühlender - Gefreiter mit Seitenscheitel und gestutztem Bärtchen während seiner Haft verfaßt hatte und bei dem nicht nur der Titel vom Kampf sprach, besaßen sie und ihr Mann Josef selbst nie. Und wenn Maria bei ihren arbeitsbedingten Trümmerbegehungen hier und da einmal ein solches Exemplar in die Hände fiel, dann nutzte sie es sinnvoll, indem sie mit den, ausnahmslos mit menschenverachtendem, haßerfülltem Geschwätz bedruckten Papierseiten das Feuer im gußeisernen Ofen ingange hielt. Lukas selbst hatte den ominösen Schreiber des Hetzwerks nie bewußt kennengelernt, und dennoch hing der Schatten jenes Weltenbrandstifters zeitlebens auch über seinem Dasein. Eh Svensson es sich versah, war er bei all seiner Grübelei wieder einmal mittendrin in jener längst vergangenen Zeit. All die Bilder von damals liefen nun wie ein Film vor seinem geistigen Auge ab, so als geschehe all das Erlebte gerade eben erst. All die damit verbundenen, nun in ihm aufkommenden Gedanken aber drohten Svenssons begrenztes Hirn gleichsam zum Überlaufen zu bringen. Und so benutzte er seinen ausgetrockneten Mund quasi als Ablaßventil und teilte seinen kindlichen Erfahrungsschatz einmal mehr wortreich mit dem stumm lauschenden Blümchen an seiner Seite: "Weißt Du Sunny, das ist nämlich so. Als kleiner Steppke spielte ich mit den Jungs aus meiner Klasse am liebsten in den Trümmern. Wir wurden dabei über die Zeit zu einem recht verschworenen und gefürchteten Haufen, den man in unserem Kiez nur noch als die Bande des Schreckens bezeichnete. Keiner von uns Lausbuben war damals an sich ein besonders großes Licht. Aber gemeinsam als Team waren wir einfach unschlagbar. Ja, ich erinnere mich ganz genau! Da gab es Kinskis schmächtiger Klausi, der war beim letzten Luftangriff auf Berlin Anfang Mai 1945 noch mit seiner Mutter verschüttet worden und seitdem wohl ein wenig übergeschnappt. Auf alle Fälle neigte er zu extemen Stimmungsschwankungen und recht theatralischen Auftritten, wobei er uns - stets in eine, von seiner älteren Schwester zurechtgeschneiderte Lumpensackkutte gehüllt - mit einer Weidengerte zu verprügeln drohte. All das zusammen führte dazu, daß wir ihm den Spitznamen 'Mönch mit der Peitsche' verpaßten. Und da war Arendts Ed, immer zu Scherzen aufgelegt, und dennoch mit seinen jungen Jahren schon ein echt gerissener Gauner, wenn es darum ging Spielkarten und Würfel unauffällig so zu präparieren, daß er jedes Spiel haushoch gewann. Man, welch einen Reichtum an gewonnenen Murmeln und Knöpfen hat uns sein Können damals eingebracht - und ihm brachte es zudem den Spitznamen Zinker. Dann gab es da noch den recht kleinen, unscheinbaren Sohn des Seemanns Clarin, Hansi gerufen. Der spielte immer ganz gedankenversunken mit den indischen Tüchern, die sein Vater einst von einer seiner Reisen mitgebracht hatte, und bekam dabei hin und wieder ganz glasige Augen und einen merkwürdig starren Blick. Frag mich jetzt nicht warum, aberder hieß bei uns nur der Würger oder aber Hänschenklein. Ansonsten waren da noch Draches Heinzi und der Jo vom alten Fuchs Berger. Unser Bandenältester aber war sogar ein richtiger Zauberschüler. Der Sohn des Großen Lowitz, mit Vornamen Siggi. Wir hingegen nannten ihn wegen seiner gespielten Chefrolle und seiner Tricks nur der Alte oder der Hexer. Ich hatte übrigens auch einen Spitznamen, aber den sag ich Dir nur ganz leise ins Ohr ...". Vorsichtig beugte sich Lukas Svensson zur goldgelben Blüte Sunnys herunter, hielt sich die Hand vor den Mund und flüsterte ihr zu: "Ich war für alle anderen immer nur der Wichser". Dabei schaute er der blühenden Schönheit an seiner Seite tief ins frisch erschaffene Sonnenblumenkerngesicht und glaubte dort, ein leichtes Entsetzen - ja sogar ein kerniges Erblassen - zu erkennen. So sah er sich nun doch zu einer weiterführenden Erklärung seines kindlichen Beinamens genötigt und ergänzte kopfschüttelnd: "Oh Sunny, nicht, was Du jetzt vielleicht meinst! Mensch, ich war doch grad erst sechs, da denkt man an sowas noch gar nicht. Nein, die Jungs nannten mich vielmehr so, weil ich mir auf den Straßen Berlins damals ein paar Groschen verdiente, indem ich vorbeigehenden Passanten mit einem alten Taschentuch und etwas Spucke die staubigen Schuhe blankpolierte".

Gespannt auf ihre Reaktion schaute Lukas erneurt zu Sunny herüber, und es war ihm dabei, als ob der von ihm gestaltete Mund sich an beiden Seiten zu einem Lächeln hochzog, während sich zeitgleich die Blätter am Stengel entspannten. Auch Lukas schmunzelte. Also nein, sowas! Was für eine verdorbene Phantasie so unschuldig ausschauende Blumen doch manchmal hatten?! Dachte sie etwa wirklich, daß er ...?! Nun ja, und wenn schon! Lukas Svensson war jedenfalls beim Geschichtenerzählen inzwischen längst ganz in seinem Element. Und so kam er in den darauffolgenden Stunden quasi vom Hundertsten ins Tausendste. Er berichtete ausschweifend und blumig von der Flucht mit seinen Eltern nach Westdeutschland und ihrer anschließenden Übersiedlung nach England im Juli 1953. Und dann sprach er leise und sichtlich bewegt über den tödlichen Unfall seiner Eltern am Heiligen Abend des Jahres 1955. Die Tränen, die bei all der wieder hochkommenden schmerzlichen Trauer angesichts des Berichts von jenem tragischen Verlust über Lukas Wangen gekullert kamen, hatten gar keine rechte Zeit zum Trocknen, so rasch folgte in seinem chronologischen Rückblick der nächste Schicksalsschlag, den Svensson mit bebender Stimme, und dennoch wie gewohnt in allen Einzelheiten beschrieb: "Es war einmal mehr ein 9.November. Jener Tag, an dem das Schicksal immer wieder - auf die eine oder andere Weise - Geschichte zu schreiben pflegt. In diesem Fall schrieben wir das Jahr 1956. Mein Onkel und ich hatten uns gemeinsam ein Fußballspiel von Arsenal angeschaut und waren auf dem Weg nach Hause. Dabei fiel Onkel Helmut ein, daß er ja noch ein paar Blumen für das Grab seiner verstorbenen Frau Elisabeth besorgen wollte und gar kein Geld mehr in seiner Börse hatte, womit das grausige Schicksal seinen Lauf nahm. Mein Onkel machte nämlich eine Querstraße weiter Stop an der Western Union Bank, um von seinem dortigen Konto 50 Pfund abzuheben. Mich wollte er dabei in seinem Pickup zurücklassen, aber ich quengelte solange, bis er mich an der Hand mit sich nahm. Und so stand ich wenige Minuten später neben ihm am Schalter, wo ihm die nette Schalterbeamtin gerade das Geld vorzuzählen begann, und schaute mich um. Dabei bemerkte ich plötzlich am Haupteingang einen Mann mit einer gruseligen Teufelsmaske vorm Gesicht, der hinkend und dennoch eiligen Schrittes in die Bank stürmte, unter seinem schwarzen Ledermantel eine abgesägte Schrotflinte hervorzog und 'Überfall! Alles auf den Boden!' schrie. Instinktiv gingen all die um mich stehenden Menschen in die Knie und warfen sich dann, wie befohlen, mit dem Gesicht zur Erde - auch mein Onkel. Nur ich blieb stehen, sah den Maskierten ungläubig an und sprach mit fester, ruhiger Stimme: 'Bei allem Respekt, aber das, was Sie hier vorhaben, ist ein schwerer Bankraub und wird vom Gesetz hart bestraft, Sir. Und außerdem verstößt Ihr Tun ganz klar gegen Gebote Gottes, wo es heißt: Du sollst nicht stehlen!'. Der bewaffnete Gängster aber täuschte kurz ein müdes Grinsen an, dann schrie er: 'Zu wem gehört dieser elende, vorlaute Rotzlöffel?'. Die Hand meines Onkels - und mit ihm schließlich auch er - schnellten in die Höhe, wobei er stammelte: 'Tun Sie ihm bitte nichts, Sir! Er ist doch noch ein unschuldiges Kind!'. Wieder grinste der Mann unter seiner Maske kurz, dann hinkte er bis auf drei Schritte an meinen Onkel heran und raunte: 'Mag sein, aber dann werde ich ihm diese Unschuld jetzt ein für allemal rauben!'. Mit diesen Worten hielt er Onkel Helmut blitzartig den abgesägten Flintenlauf direkt vors Gesicht und drückte eiskalt ab. Es gab einen mörderischen Knall. Schrotsplitter flogen in alle Richtungen, und das entsetzte Gesicht meines Onkels verschwand für immer in einem, aus ihm hervortretenden, gräßlich dunkelroten Blutmeer. Der Körper meines Anverwandten aber sackte wie ein Stein zu Boden, woraufhin sich das aus seinem - nur noch teilweise vorhandenen - Kopf weiterhin unvermindert hervorschießende Blut über seinen Körper und rings um ihn herum ausbreitete. Diesen grauenvollen Anblick, der sich mir als Zwölfjährigem dabei bot, werde ich meinen Lebtag nicht vergessen können. Der Mörder meines Onkels aber warf sein noch rauchendes Mordwerkzeug achtlos zur Seite. Dann zog er aus dem Mantel einen Revolver hervor, spannte den Hahn und stieg völlig unbeeindruckt über sein sterbendes Opfer und die ihn umschließende Blutlache hinweg. Und mit vorgehaltener Kanone ließ er sich in aller Ruhe von der noch völlig schockierten Frau am Schalter die gesamten Tageseinnahmen der Bank aushändigen - alles in allem gerade mal 5000 Pfund! Danach verschwand er spurlos. Bis heute hat man den widerlichen Kerl nicht gefaßt". Weinend schloß Lukas Svensson seine dramatische Geschichte und gönnte sich und dem Andenken an seinen getöteten Onkel daraufhin eine kurze Minute des Schweigens.

Was dann folgte, war für Svensson gänzlich untypisch. Recht wortkarg und abgehackt kam ihm die Schilderung von den darauffolgenden Jahren, welche er - nun auch seines letzten greifbaren, lebenden Verwandten beraubt - im Kinderheim "Sunshine" nahe London zwischen 1957 und 1962 verbrachte, über die Lippen. Nur am Rande merkte er dabei fast schon beiläufig an, daß der Alltag dort keineswegs immer eitel Sonnenschein war, wie es der Name einem so vollmundig versprach, sondern daß er vonseiten der anderen Kinder als ein in Nazideutschland Geborener immer wieder Beschimpfungen und Schikanen ausgesetzt gewesen sei. Lukas Svenssons gedrückte Stimmung verbesserte sich hingegen sofort wieder zusehends, als er über seine spätere Ausbildung zum Polizeibeamten in den Jahren von 1965 bis 1967 berichtete. Er gab dabei geradezu vergnügt einige Anekdoten von seiner 18jährigen Zeit als Streifenpolizist zwischen Januar 1968 und März 1986 zum besten - vor allem die Geschichte seiner Bekanntschaft mit dem Falschspieler Jack Holmes und der davon herrührenden Verwundung, die auch endgültig sein Aus als Streifenpolizist besiegelte und ihn von April 1986 bis August 1995, auch auf das Drängen seiner damaligen Verlobten hin, zu einem Beamten im Innendienst der Londoner Metropolice verdonnerte. Und bei dieser Begründung für sein vorübergehendes Ausscheiden aus dem aktiven Dienst auf der Straße war er in seiner spannenden Lebensgeschichte auch schon direkt beim nächsten Abschnitt angelangt - der das Kennenlernen seiner zukünftigen Frau Nina Simowa im Oktober 1983, die Hochzeit mit ihr im April 1985 sowie die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Lisa im Oktober 1989 und letztendlich auch die Scheidung der sich mehr und mehr auseianderlebenden Eheleute im Mai 1993 umfaßte. Es schlossen sich noch diverse Geschichten über seine Dienstzeit beim Yard in den Jahren 1995 bis 2009 an. Vor allem aber begannen seine Augen zu strahlen, als er von den Begegnungen mit Yelena berichtete, von ihrer gemeinsamen Feier seines zehnjährigen Dienstjubiläums im Hyde Park, die sich dann abends bei einem Gläschen Wein in Yelenas Wohnung noch bis in spät die Nacht rasch inniger werdend fortsetzte. Den krönenden Abschluß von Lukas Ausführungen aber bildeten der Kriminalfall zweier Frauen am Zug, die dramatische Vorgeschichte seiner Traumochzeit mit Yelena, die anschließende mehrmonatige Flitterwochenweltreise der Frischvermählten und Lukas' gleich danach beginnender Ausflug ins Detektivgewerbe an der Seite seines Freundes Charles Wannabe. Mit einem kurzen Blick auf das Display seines Handys, dessen Digitaluhr 23 Uhr 56 zeigte, gipfelte der Ex-Inspektor schließlich in dem Satz: "Tja, Sunny, das war in groben Zügen mein aufregendes Leben. Natürlich hätte ich noch weiter ausholen und viel mehr erzählen können, aber dann hätte ich Dich am Ende noch zu Tode ...". Svenssons Redefluß stockte abrupt, als sein Blick auf den blauen Topf zu seiner Linken fiel, über dessen kreisrundem Rand sich Sunny Flowers - scheinbar schon längst in sich zusammengefallener - Körper nun in seinem ganzen traurigen Umfang ausbreitete. Am ganzen Leib erschaudernd hob er mit zittrigen Händen behutsam ihren Blütenkelch hoch und blickte ihr dabei tief in das welkende Gesicht mit den eingefallenen Augen- und Nasenhöhlen, während der sich ebenfalls langsam schließende Mundkrater noch immer sanft zu lächeln schien. Verzweifelt ließ er die Blüte wieder ins Topfinnere absinken und reckte stattdessen beide Hände einmal mehr klagend zum Himmel empor: "Jetzt also auch noch sie?! Weshalb auch noch Sunny? Ich begreife das alles nicht! Warum muß alles, was ich liebgewinne, sterben? Und warum leb ich immer noch weiter? Gib doch dieser wundervollen Pflanze oder meinem treuen Hundfreund Vierbein und seinem Herrchen das Leben wieder und nimm Dir meinetwegen meines dafür! Was soll ich denn noch hier? Wo um alles in der Welt soll mich meine schmerzvolle - und weit über alle Grenzen des von einem Menschen Ertragbaren hinausgehende - Reise denn noch hinführen? Was bitteschön kommt da denn noch alles auf mich zu?". Und als ob irgendwo im angerufenen Himmelzelt jemand zumindest die letzte seiner so leidenschaftlich aufgeworfenen Fragen sofort beantworten wollte, verspürte Lukas mit einem Male eine rasch aufsteigende, klebrige Feuchtigkeit an seinen Füßen ...

[Wird fortgesetzt]

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Samstag, 15. September 2012, 14:51

INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 05: Die Flut

Bei der geradezu widerlich klebrigen Flüssigkeit, die erst nur Lukas Svenssons Fußsohlen, schon eine Minute später auch seine Knöchel und weitere drei Minuten danach sogar seine Knien umspülte, handelte es sich um nichts anderes als um jene konterminierte Brühe, die sich aufgrund des seit nunmehr 24 Stunden anhaltenden schwarzen Regengusses allerorts hektoliterweise ansammelte. Die anfallenden Wassermassen hatten das - durch die klimatischen Veränderungen, die die gewaltigen Nuklearexplosionen nach sich zogen - rasch ansteigende Grundwasser der Flüsse, Seen und des Meeres über die Ufer getrieben und fluteten nun in schier unvorstellbarem Tempo immer größere Teile des Festlands. Die Treppe der Saint Pauls Cathedral war der ansteigenden Flut bereits komplett zum Opfer gefallen, und nun drang das teufliche Naß auch in das Innere des Gotteshauses ein. Lukas erinnerte sich bei diesem furchteinflößenden Anblick an das Versprechen, welches Gott Noah vor Jahrtausenden am Ende einer ähnlich schrecklichen, vom himmlischen Vater selbst über die Menschheit gebrachten Heimsuchung gegeben hatte: "Ich will hinfort nicht mehr die Erde verfluchen um der Menschen willen, denn das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf. Und ich will hinfort nicht mehr schlagen alles, was da lebt, wie ich getan habe. Solange die Erde steht, soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht". Für Lukas aber, der an der Wahrheit von Gottes Wort nie gezweifelt hatte und auch jetzt am Ende nicht bereit war, damit anzufangen, stand es nun unumstößlich fest: Die Welt würde untergehen, ihre Tage waren gezählt. Und wenn er genauer darüber nachdachte, dann schien es ihm sogar so, als ob hier vor seinen Augen die Genesis - die biblische Geschichte von der Erschaffung der Welt in sieben Tage - seit dem Tag des atomaren Infernos nunmehr umgekehrt ablief. Die Menschen, welche Gott seinerzeit ganz zuletzt erschaffen hatte, waren nun die Ersten, die der Vernichtung zum Opfer gefallen waren. Und wieder erfüllte sich darin auf grausamste Weise ein biblisches Wort: "Die Letzten werden die Ersten sein!". Dann kamen die Tiere, danach die Himmelsgestirne, anschließend die Pflanzen. Traurig senkte er seinen Blick, wobei in Höher seiner Oberschenkel der welke Leib Sunny Flowers mitsamt der - mit dem Wasserspiegel immer weiter mit aufsteigenden - Kirchentür, auf der Lukas sie abgestellt hatte, von den Wellen erfaßt zu werden und hinfort gespült zu werden drohte. Auch sein Handy lag noch immer auf jener Tür, die als so ziemlich einziger Gegenstand weit und breit noch dem Untergang in den eiskalten, dunklen Fluten zu trotzen schien. Der Ex-Inspektor aber erkannte gerade in jenem hölzernen Wellenreiter seine Chance, dem sicheren Ertrinken vorerst noch einmal zu entgehen und endlich wieder halbwegs trockenen Fußes dazustehen. Und so hopste er mit ein paar Schritten Anlauf in einem einzigen, kühnen Satz auf sie. Auf jenem schwankenden Holz angekommen, ließ er sich dabei sofort im Schneidersitz nieder, und schaukelte gemeinsam mit der verblichenen Sunny und seinem Handy heraus aus dem Kircheninnern über den Vorplatz der Kathedrale hinweg geradewegs zu auf den den - sich in diesen Minuten neu bildenden - Londoner Innenstadtsee. Und kopfschüttelnd bemerkte er dabei: "Tja, wer hätte wohl gedacht, daß ich auf meine alten Tage noch zum Seemann mutiere. Kapitän Svensson setzt auf der Arche Lukas die nicht vorhandenen Segel und schippert los. Das wird zweifelsohne meine letzte Reise. Und wohin sie mich am Ende führt, das kann ich mir bei den äußeren Umständen schon lebhaft ausmalen. Man muß mich doch nur einmal ganz nüchtern von oben bis unten betrachten. Meine biologische Uhr tickt so laut dem finalen Coeuntdown entgegen, daß man schon stocktaub sein muß, um es noch überhören zu können. Mit jeder Stunde, die ich lebe, verstärken sich meine Schmerzen. Die unzähligen Wunden an meinem Körper, haben sich mit Staub und Schmutz infiziert und beginnen nun zu brennen, weiter aufzubrechen und langsam zu eitern. Mir ist permanent speiübel, obwohl ich kaum etwas im Magen hab. Mein Blick ist zusehends getrübt, denn vor meinen entzündeten Augen beginnen die Dinge hin und wieder bereits zu verschwimmen oder aber sie tauchen für einen kurzen Moment ganz und gar in völlige Finsternis ein. Ja, so bitter es auch ist, meine Zeit hier auf Erden ist fast abgelaufen. Der Moment naht, an dem auch ich gehen werde. Nun, und ich denke, ich bin jetzt dazu bereit. Denn mit jedem Zentimeter, mit dem das Wasser um mich herum steigt, sinkt doch gleichsam auch die letzte, eh schon verschwindend klein gewordene Hoffnung, meine geliebte Yelena doch noch lebend wiederzusehen. So sei es denn! Sehen wir uns halt in einer anderen, besseren Welt wieder! Nur eins würde ich jetzt gern noch tun, bevor ich von dieser Erde abtrete: Diesem Lump Crawler eigenhändig den Garaus machen.

Er hatte diesen düsteren Gedanken gerade erst zuende gedacht, da summte neben ihm auch schon das Mobiltelefon. Und auch, wenn Lukas allein bei diesem verdammten Summen schon gleich wieder rot sah, drückte er auf Grün und mutete seinen Ohren die gewohnt krächzend vorgetragene Ansage Crawlers zu: "Tag 5: Die Rückkehr der Sintflut. Das schmelzende Eis an den Polen und der strömende Dauerregen vom Himmel finden endlich ihre nicht gottgewollte Wiedervereinigung. Und in Kürze heißt es weltweit nur noch: Land unter! Keine Insel mit drei Bergen mehr, wo ein Möchtegern-Lokomotivführer namens Lukas stranden könnte. Ganze 24 Stunden verbleiben, dann ist es aus mit dem Paradies auf Erden. Denn dann ist pünktlich mit dem sechsten Tag die Hölle auf Erden und damit die finale Wiederauferstehung des Bösen vollkommen. Und es müßte doch wohl mit dem Teufel zugehen, wenn jemand dieses feuchtfröhlich-mitreißende Ende aller Tage überleben würde, oder?!". Ein gespenstisches Lachen und der altbekannte Piepton kündeten vom Ende jener ohnehin nur einseitig geführten Unterhaltung. Tja, dieser Wurm Crawler hatte sich schon früher am liebsten selbst reden gehört. Er genoß es, wie all die anderen geisteskranken Herrschsüchtigen vor ihm, stets und ständig im Rampenlicht zu stehen und aller Welt seine Überlegenheit zu demonstrieren. Doch was nützte ihm das am Ende. Auch sein letztes Stündlein würde schlagen, und danach wartete für alle Ewigkeit die selbsterwählte Hölle auf ihn. Und keiner hatte die in Lukas' Augen so sehr verdient wie jener abscheuliche Bursche. Svensson versuchte, sich an dieser Stelle selbst rasch wieder auf andere Gedanken zu bringen. Und so schaute er sich um und entdeckte, daß sein hölzernes Türschiff - welches aufgrund seiner nach vorn spitz zulaufenden Bauweise hier inmitten der Wellenhügel wie ein etwas großgeratenes Surfbrett Marke Eigenbau anmutete - sich gerade anschickte, die nur noch knapp aus dem Wasser herausragende Tower Bridge zu umfahren. Und so wie es sich der Torpfostenkahn trotz starkem Seegang, steifer Brise und der nicht gerade geringen Last, die er auf dem Buckel mit sich trug, dabei über Wasser zu halten vermochte, schien wohl etwas dran zu sein an der Legende, daß die Türbretter aus dem Holz der Arche Noahs bestanden. Damals hatte die Flut vierzig Tage und Nächte gedauert. Solange würde es Lukas hier ohne jede Art von Essen und Trinken ganz sicher nicht aushalten. Und sich jetzt noch an den Sonnenblumenkernen seiner verblichenen Freundin zu vergreifen, kam für ihn gar nicht infrage. Zum einen wäre das strenggenommen fast schon so etwas wie Leichenschändung und zum anderen eh nur ein kurzer Aufschub des unausweichlichen Endes. Nein, alles, was er mit seiner teuren Sunny jetzt noch vorhatte, war, ihr einen anständigen und würdigen letzten Ruheort zu verschaffen, wie es einer zu Lebzeiten stets so stattlichen Erscheinung mit einem derart goldigen Gemüt und einem so kernigen Auftreten gebührte. Lange hielt der selbsternannte Seefahrer Svensson vergeblich Ausschau nach einem dafür geeigneten Plätzchen, dann aber führten Wind und Wellengang seine Archentür schnurstracks über die Ruinen des Princess of Wales Conservatory, eines von Lady Di persönlich im Jahre 1987 eröffneten Gewächshauses auf dem Gelände des Londoner Botanischen Gartens Kew Gardens, welches unter seinem Dach bislang Pflanzen aus zehn verschiedenen Klimazonen beherbergte, unter anderem auch alle Arten prächtiger Orchideen. Hier, unter der ewigen Schirmherrschaft von Englands Rose, im Kreise all ihrer in- und ausländischen Verwandtschaft sollte nun auch Sunny Flower endlich ihre wohlverdiente Ruhe finden. Himmel und Erde unterstützten dabei das Vorhaben des Ex-Inspektors so gut es ging, indem der böige Wind mit einem Male deutlich nachließ und auch die bislang so rauhe See unter dem Türholz spürbar ruhiger wurde. Lukas aber erhob sich aus dem Schneidersitz, ergriff den himmelblauen Blumentopf mit der ihm innewohnenden welken Jammergestalt und wankte in gebückter Haltung vorsichtig mit diesem bis an den äußersten Türrand. Mit der linken Hand hielt er dabei krampfhaft den Topf fest, während er sich mit der rechten eilends bekreuzigte, um sich dann mit selbiger fest ans Türholz zu klammern. Dem ihm entgegenwehenden Winde und der anhaltenden Trockenheit in seinem Mund gleichermaßen trotzend, ergriff er das Wort und sprach mit leiser Stimme sichtlich bewegt: "Meine hochverehrte Sunny, Du warst bis vor wenigen Stunden die letzte Verbliebene Deiner Art auf dieser Welt. Und Du warst zugleich auch das letzte Lebewesen, das mir in dieser schweren, unheilvollen Zeit zur Seite stand. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, daß Du mich bis ganz zum Schluß begleiten würdest! Doch das Schicksal hatte andere Pläne mit Dir. Seiner oft so grausamen Ironie allein ist es schließlich zu verdanken, daß Du quasi mit einem Meer von Wasser vor Augen dennoch so elendig verdursten mußtest. Und nun, da Du dahingeschieden bist, kann ich Dich endlich guten Gewissens jenem tödlichen Naß übergeben, vor dem ich Dich solange verzweifelt zu bewahren suchte". Bei diesen Worten löste er für einen kurzen Augenblick seine rechte Hand aus der sicheren Umklammerung des Türrands. Und er strich stattdessen ein allerletztes Mal behutsam und liebevoll über ihre Blütenblätter und die rauhen Kernoberfläche in deren weicher Schale. Nur einmal noch umgriff er ihren schlaffgewordenen Stengel mit den Blättern und den zwei nie erblühten Nebenknospen, schloß seine Augen und führte ihren Blütenkelch an seine Nase, womit er ihren einst so betörend lebendigen Duft in sich einzusaugen suchte. Und tatsächlich roch sie hier und da nach einem letzten Hauch von Leben. Jener letzte Hauch, der auch in Lukas' arg geschundenem und von aller Welt längst verlassenen Körper wohnte. Mit ausgestrecktem Arm hielt er das bedauernswerte Pflänzchen schließlich über die Türkante hinweg, wozu er tränenerstickt wisperte: "Auch wenn ich Dir nicht viel mit auf Deinen letzten Weg ins kühle, feuchte Grab geben kann, so doch aus tiefster Seele und ganzem Herzen das Eine: Ich werde Dich nie im Leben jemals vergessen, das verspreche ich Dir, bei allem, was mir heilig ist! So denn - Leb wohl, Sunny Flower!". Damit entließ er ihren blassen Körper aus der zitternden Umklammerung seiner linken Hand, worauf die liebreizende Sonnenblume samt ihrer töpfernen Behausung mit einem laut Platschen die aufgewühlte Wasseroberfläche durchstieß und dann vor Lukas Svenssons zunehmend glasiger werdenden Augen Zentimeter um Zentimeter zwischen den Überresten des ehemaligen Gewächshauskomplexes im eisigen Wasser entschwand. Fast war es so, als wolle sie ihm dabei bei ihrem endgültigen Abgang von der Bühne des Lebens noch einmal einen allerletzten Tanz schenken, so wie sie sich immer tiefer hinab vorstoßend gleichzeitig ein ganzes Mal um die eigene Achse ihres Stengels drehte. Das Wellenmeer rauschte währenddessen unentwegt, als würde es ihrer Darbietung Applaus spenden. Und der Wind säuselte leise fast so wtwas wie eine kleine Melodie, die in Lukas Ohren ganz nach dem herzzereißend vorgetragenen Song aus einem der unendlich vielen Filme über den Untergang der Titanic klang. Und wenn es dabei wohl auch nur knapp 30 Sekunden gedauert haben mochte, bis sich der untergehende himmelblaue Blumentopf im Dunkel des Wassers den Blicken Lukas' endgültig und unwiderruflich entzog, so kam es ihm doch wie eine gefühlte Ewigkeit vor. Wohl vor allem auch deshalb, weil er für einen Moment inmitten jener unheimlichen Unterwassertrümmerlandschaft das Gesicht seiner Yelena zu erkennen glaubte, das ihm zulächelte und ihm dabei auf ihre, so sehr geliebte, ganz eigene Art zuzuflüstern schien: "Wir uns sehen jenseits von dieses Nacht!". Lukas aber nickte nur stumm, dann wischte er sich die Tränen aus dem Gesucht fort und kletterte vorsichtig wieder in die Mitte seines Türschiffs zurück.

In der Folge vergingen viele Stunden, ohne daß etwas Erwähnenswertes geschah. Sicher, irgendwo unter der Wasseroberfläche lagen all die weltberühmten Sehenswürdigkeiten Londons und seiner Umgebung. Nur konnte Lukas diese im trüben Wasser eh nicht mehr erkennen, selbst wenn er es auch noch so gern gewollt hätte. Stattdessen schaute Lukas dorthin, wo einst der stahlend blaue Himmel mit all seinen bunten Lichtern gewesen war, und wo ihn jetzt nur noch eintöniges düsteres Marineblau empfing. Aus reiner Langeweile und natürlich auch, um den kraftzehrenden Einflüssen von Einsamkeit, Hunger und Durst zu entfliehen, hatte er irgendwann spaßenshalber ein paar Tastenkombinationen an seinem Handy ausprobiert und war dabei unter anderem auch wieder bei der Nachricht Yelenas vom Neujahrstag gelandet. Und so hatte er sich - traurig seufzend - die letzten, elektronisch quasi für alle Ewigkeit konservierten Worte seiner Ehefrau noch einmal angehört: "Luki, Liebes! Ich nicht wissen, was sein schief gegangen bei Anruf eben. Und da ich nicht wissen, ob Du mich haben gehört, ich Dir noch einmal sagen, daß mit mir alles in Ordnung. Ich unterwegs gewesen mit Ubahn nach Tower Hill. Aber es wohl geben noch ein Problem mit Technik. Wir jetzt stehen auf Bahnsteig in Station St.Pauls. Ich glauben, wir hier noch etwas müssen warten auf anschließendes Zug. Mein Akku von Handy auch gleich sein leer. Ich müssen Schluß machen! Gutes Neues Jahr, liebes Schatz! Ich Dich 1000 Mal küssen! Bis gleich!". Wie hätte sie damals auch ahnen können, daß es für sie beide kein Gleich mehr gab, zumindest wohl nicht mehr hier auf Erden?! Bald darauf hörte er jenen kurzen Anruf mit der lieben Stimme ein zweites und drittes Mal ab und im Verlauf des Tages dann noch viele, viele weitere Male. Bald war dabei die letzte Stunde herangerückt. Und nachdem Lukas nun zum 23.Mal der Handynachricht gelauscht hatte, unterhielt er sich am Ende dabei sogar schon mit jener aufgezeichneten Mitteilung, indem er ihr verzückt erwiderte: "Ja, mein Schatz, bis bald! Ich liebe Dich auch. Und ich schenke Dir ebenfalls 1000 Kösse. Großes E-Punkt". Das E-Punkt am Ende aber stand dabei für Ehrenwort und besiegelte - einem ehepartnerschaftlichen Svenssonschen Geheimcode gleichend - seit den Tagen von Yelenas Rückkehr nach ihrer Entführung durch ihren Exmann das Versprechen, welches Lukas ihr gegeben hatte, daß er sie nie mehr im Leben allein lassen und daß er ihr bis ans Ende ihrer Tage und darüber hinaus überall hin folgen würde. Selten aber war es ihm mit jenem Versprechen ernster gewesen als gerade jetzt in diesem Augenblick. Und um es ihr gleich noch einmal zur Untermauerung seiner ernsten Absicht geben zu können, setzte er bereits wieder alle Hebel in Form jener frisch erlernten Handytastenkombination in Bewegung und ließ die Aufzeichung von vor vier Tagen auch noch zum 24.Mal laufen. Diesmal jedoch hörte er neben dem zarten Stimmchen seiner Yelena noch ein leises Zischen. Zuerst nahm er dabei an, daß es ebenfalls dem Handylautsprecher entsprang und - unter diesen Umständen nur allzugut nachvollziehbar - auf einer Störung des Mobilfunkverkehrs oder gar einer Ermüdungserscheinung des längst über alle Maßen strapazierten Handyakkus selbst beruhen würde. Allerdings setzte es sich auch dann noch unvermindert fort, als er einmal für eine Sekunde zur Probe den Apparat von seinem Ohr weghielt. Nein, der Urheber des mysteriösen Geräuschs mußte sich vielmehr irgendwo hier mit ihm mit auf der Tür befinden. Aber wie konnte das denn sein?! Was um alles in der Welt konnte denn auf diesem von allen guten Geistern verlassenen, und mittlerweile wohl auch schon komplett überfluteten Planeten noch zischen. Nichts Gutes ahnend, äugte Lukas zunächst vorsichtig nach rechts, doch dort war zu seiner großen Erleichterung nichts zu sehen. Sein Blick wanderte nun ganz langsam - fast schon wie in Zeitlupe - nach links. Dort aber erblickte er zu seinem tiefsten Entsetzen eine recht dürre, fast einen halben Meter lange Schlange, die inmitten der hölzernen Planken seiner Archentür aus einem Spalt am unteren Türende just in dieser Sekunde hervorgekrochen kam. Unerschrocken bewegte sich das schuppige Tier - bei dem es sich keineswegs um ein harmloses Exemplar, sondern um eine doch recht giftige Kreuzotter handelte - Stück um Stück auf Lukas zu, der im Gegenzug Schritt um Schritt zurücktrat. Es erschien Lukas dabei schon fast wie der blanke Hohn, daß ausgerechnet eine von jener Sorte, mit der einst im Paradies beim Sündenfall alles menschliche Leid seinen Anfang genommen hatte, sich nun auch am Ende der Welt anschickte, dem letzten Menschen auf Erden wie schon seinem allerersten Vorgänger zum unheilvollen Verhängnis zu werden. Während Svensson jener Gedanken noch durch den Kopf schoß, aber kroch die Schlange schon wieder ein Stück vor, und abermals wich der sich angegriffen fühlende Lukas einen weiteren Schritt zurück. Nur diesmal trat sein Fuß nicht - wie erwartet - auf hölzernen Grund, sondern ins Leere. Denn ohne es zu bemerken, hatte er soeben den Rand der Tür überschritten, so daß sein nacktes Bein mit einem Male fast knietief im Wasser eintauchte. Dabei aber geriet nun der - völlig aus dem Gleichgewicht geratende - Rest Svenssons dermaßen ins Wanken, daß seine Hand das Handy fallen ließ, welches hinter dem Rücken des Ex-Inspektors auch sogleich geräuschvoll im Wasser aufschlug, um dort recht schnell und auf nimmer Wiedersehen zu verschwinden. Sein ehemaliger Besitzer hingegen ruderte am Rande des Türholzes weiter wild mit Armen und Beinen durch die Luft, verzweifelnd versuchend, so dem scheinbar unvermeidlichen Schicksal der allzu raschen Nachfolge seines Mobiltelefons zu entgehen. Die Schlange sah dem gewgten Balanceakt des Svenssons noch einen Augenblick lang abwartend zu. Dann aber setzte sie kurzerhand zum Angriff und damit gleichzeitig auch schon zum Biß an, den Lukas Svensson als wehrloses Opfer nur Sekundenbruchteile später im nackten, linken Unterschenkel schmerzhaft zu spüren bekam. Der brennende Schmerz war jedoch zu seiner Verwunderung nur von recht kurzer Dauer, dann ebbte er ab und mit ihm zugleich auch jede nur erdenkliche Form des Schmerzes in seinem Körper. Doch nicht nur das, auch jedes Gefühl verschwand binnen Sekunden aus all seinen Gliedern. Erst aus seinem linken Unterschenkel, dann aus dem zugehörigen Oberschenkel und anschließend in umgekehrter Reihenfolge auf der rechten Seite seiner unteren Extremitäten. Das einsetzende Taubheitsgefühl aber gab seinen wackligen Füßen vollends den letzten Rest, zumal er nun auch noch die Lähmung seiner Arme zu verspüren begann. Selbst seine Brust wurde mit einem Male schwer wie Blei, und das Atmen machte ihm sichtlich Mühe. Das letzte, was seine - vom Schrecken des herannahenden Todes erfüllten - Augen noch sahen, bevor es vor ihnen gänzlich schwarz wurde, aber war, wie sein ganzer schwankender Körper ungebremst rücklings ins Wasser stürzte, wo er schlußendlich wie ein Stein völlig reglos in den unendlichen Tiefe des längst allumspannenden Weltmeeres versank ...

[Wird fortgesetzt]

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INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Der letzte Vorhang fällt. Eine bislang unfaßbare Bedrohung nimmt langsam Gestalt an. Mein Leben und das derer, die mir am Herzen liegen, steht auf dem Spiel. Bekannte wie unbekannte Gesichter betreten die Bühne und spielen ihre Rolle in dem Stück "Der Untergang der Erde". Ich bin Ex-Inspektor Lukas Svensson, und das hier sind die letzten Tage meines Lebens"

EPISODE 06: Blau in Blau

Lukas Svenssons Augen hatten sich nach dem Untergang nicht wieder geöffnet. Die Lippen hatte er im Fallen instinktiv zusammengepreßt, um so das ungehinderte Eindringen des kontaminierten Meerwassers in seine Lungen solang als nur möglich zu verhindern. Sein Leib aber war völlig regungslos mehr und mehr in die Tiefe des Meeres herabgesunken - Sekunde um Sekunde, Meter um Meter. Sein Geist nahm seinen Körper nicht mehr wahr, war längst schon zur endgültigen Trennung von ihm bereit. Und auch die Seele sann bereits intensiv darüber nach, auszuziehen aus der herabtauchenden Hülle des bewußtlosen Ex-Inspektors, die im steten Sinken davon völlig unbeeindruckt ihre Kreise zog. Es mochten wohl etliche Minuten vergangen sein, als endlich ein leichtes Blinzeln die Augenlider Svenssons erstmalig wieder, wenn auch nur millimeterweit auseinandertrieb. Stärker wurde jenes Blinzeln, immer stärker, bis schließlich seine Augen ganz weit offenstanden. Was sie starr geradeaus gerichtet erblickten, war einmal mehr Blau in Blau. Aber diesmal war es nicht das düstere Blau jener anhaltenden nuklearen Erdennacht, sondern eher ein helles, fast himmlisches Blau. Die sanften Wellen, die ihn umspülten, sprachen - wie nicht anders zu erwarten - für Unterwasser. Doch mitten zwischen jenen Wellen zogen große wattige Gebilde hindurch, die wie Wolken aussahen. Auch hatte, was sein Körper da in diesem Moment gerade mit ihm anstellte, irgendwie weniger etwas mit Tauchen gemein, als vielmehr mit Schweben oder gar Fliegen. Unter seinen Füßen jedenfalls zeichnete sich noch meilenweit kein fester Grund ab - nur wolkige Wellen, soweit das Auge reichte. War er eben noch bewußtlos, so schien er jetzt mit einem Male schwerelos zu sein - auf seltsame Art und Weise völlig losgelöst von allem. Bei all dem fühlte sich Lukas Svensson auch innerlich ganz leicht. Die Übelkeit war verflogen, ebenso jede Art von Schmerzempfinden. Seine Augen aber erspähten in der Ferne eine Art wäßrige Spiegelung, die ihm zunächst nur wie ein einzelnes Bild anmutete, das mit ihm gemeinsam langsam niedersank. Wenige Sekunden später aber kam Bewegung in das Bild, während es ihm gleichzeitig klarer und klarer erschien. Keine Frage, was er da erkannte, das waren seine Eltern, die gemeinsam neben einem großen hölzernen Pferdefuhrwerk liefen, auf dem neben unzähligen Habseligkeiten in einem Häuflein Stroh auch ein kleines weinendes Baby sorgsam in eine Wolldecke eingewickelt lag. Immer wieder stoppten Schneestürme und Hindernisse sie auf ihrem beschwerlichen Weg. Und derweil sich seine Mutter während dieser Zwangspausen um das Kind kümmerte, schaute der Vater traurig zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren und von wo nun in der Ferne immer häufiger dicke Rauchwolken aufstiegen. Lukas kam diese Szene dabei durchaus vertraut vor. Kein Wunder, denn nzählige Male hatte ihm sein Vater als Kind ja davon erzählt. Es handelte sich bei dem, was er hier sah, zweifellos um die Flucht seiner Eltern aus seiner Geburtsstadt Königsberg in den ersten Tagen des letzten Kriegsjahres 1945. Und das eingemummelte Kind auf dem Handwagen war zweifelsohne niemand anders als er selbst. Lukas war angesichts dieser bewegten Bilder zunächst ein wenig verblüfft, doch dann schoß ihm plötzlich ein Gedanke durch den Kopf. Aber natürlich, genau so beschrieben es doch immer wieder Menschen, die schon einmal beinahe ertrunken waren. Sie sprachen doch stets übereinstimmend davon, daß in den vermeintlich letzten Minuten ihres Lebens selbiges vor ihrem geistigen Auge noch einmal wie ein Film abgelaufen sei.

Die bewegten Bilder vor seinem Augen verschwammen unterdess und wurden von einem neuen Standbild abgelöst, das sich ebenfalls sogleich mit Leben zu erfüllen schien. Lukas erblickte sich darin als kleiner Knabe in einer kurzen, reich mit Flicken übersäten Hose, einem viel zu engen baumwollenen Oberhemd, schwarzen Knistrümpfen und zerschlissenen Sandalen in einer Holzbank sitzend, den Arm voller Feuereifer schnipsend in die Luft reckend. Um ihn herum aber saßen seine früheren Freunde. Ja, die ganze Bande des Schreckens war hier versammelt und dazu auch direkt vor ihm die erste heimliche Liebe seines noch jungen Lebens - die süße, im stubsnäsigen Gesicht über und über mit Sommersproßen übersäte Hanka, die mit ihren Eltern, den Schulzes, wie er als Kriegsflüchtling nach Berlin geraten war. Aus Böhmen war sie gekommen und war nun in einem ehemaligen Luftschutzkeller gemeinsam mit ihm und seinen Eltern übergangsweise notdürftig einquartiert worden. Für eine Handvoll bunter Knöpfe und ein paar Sonnenblumenkerne hatte er sich von ihr damals in einem ehemaligen Hausflur in einer Ruine mit sieben Jahren den ersten Kuß seines Lebens erkauft. Das ganze flüchtige Zusammentreffen ihrer beider Lippen hatte seinerzeit kaum mehr als flüchtige fünf Sekunden gedauert, und dennoch hinterließ es einen derart bleibenden Eindruck bei ihm, daß er auch jetzt noch mit zusammengekniffenen Augen - in der bloßen Erinnerung daran - den zarten Erdbeerhauch ihres Mundes wieder in seiner feucht umspülten Nase zu riechen glaubte. Doch seine Gedanken schweiften schon wieder ab. Die Szene, die sich so bildreich vor ihm entwickelte, erforderte schließlich seine ungeteilte Aufmerksamkeit, heute ebenso sehr wie schon damals. Und das keineswegs nur, weil sich vor seinem jungen Abbild auf einer brüchigen dunkelgrauen Schieferwandtafel inmitten eines behelsmäßigen Schulzimmers die mit Kreide aufgetragenen Zahlen und Buchstaben in langen Reihen zu türmen begannen, sondern vor allem auch deshalb, weil dort im karierten Kleiderrock die zweite schwärmerische Jugendliebe in Form von Fräulein Gerlinde Neumann, seiner Lehrerin, stand. Im Gleichklang mit seinem kindlichen Alter Ego seufzend stellte sich der herabsinkende alte Lukas dem Anblick ihrer strahlenden blauen Augen, die streng und gütig zugleich über den Rand einer großen Hornbrille hinwegschauten, und den vollmundigen Lippen, die seine Ohren Tag für Tag und Stunde um Stunde mit Deutsch und Rechnen zu füttern versuchten. Auch von ihr hätte er sich nur allzugern einen Kuß erkauft oder erstohlen, doch heute wie damals war die Erfüllung dieses Wunsches aufgrund der jeweiligen Umstände einfach undenkbar.

Stattdessen sank der reale Lukas nun wieder ein Stück tiefer, wobei sich sein Mund - einem inneren Instinkt folgend - nun doch einen Spalt weit öffnete, wodurch ein erster Schwall Wasser ins seine Luftröhre gelangte. Angestrengt hustend erwährten sich seine Lungenflügel des gefährlichen, flüssigen Eindringlings. Allein, der mächtige, wäßrige Angreifer war den wenigen zarten Lungenbläschen allein mengenmäßige haushoch überlegen, daß die Gegenwehr auf Dauer wohl von Vornherein sinnlos erscheinen mußte. Noch während angesichts dieser Tatsache das Husten wieder nachließ, entwickelte sich vor seinen nun wieder weit aufgerissenen Augen das nächste Trugbild gleichsam zu einer kurzen filmischen Sequenz. Inmitten eines großen weißgekachelten Saales lag auf einer breiten gelben Liege, die in ihrer gebogenen Form an eine Banana erinnerte, eine Frau mittleren Alters mit hochrot angelaufenem, schmerzverzerrten Gesicht und komplett enblößtem Unterleib. Ihre nackten Beine hatte sie dabei links wie rechts weit abgespreizt über einer an der Liege angebrachten Aufhängung abgelegt, während sich dazwischen eine junge Dame mit weißem Kittel und Handschuhen recht wild gebärdete und immer wieder prüfend einige ihrer gummierten Finger in die obere der beiden Öffnungen des Unterleib der vor ihr Liegenden fahren ließ. In dem sich zwischenzeitlich für ein paar Sekunden entspannenden Gesicht der Frau auf der Liege aber erkannte Lukas in diesem Moment die wohlvertrauten Züge seiner Exfrau Nina, deren zitterndes Händchen hinter der Liegefläche von einem, auf einem Hocker sitzenden Mann gehalten wurde, der ihr zugleich sanft zuredete und mit der freien Hand mittels eines Tuches die schweißbedeckte Stirn trocknete. Jener Beisitzer, der natürlich auch diesmal kein anderer war, als Lukas selbst, wurde nun - wie auch sein, in die Jahre gekommenes, real existierendes Pendant - Zeuge, wie sich die obere Öffnung in Ninas Unterleib unter ihrem angestrengten pressenden Gegendruck weiter und weiter dehnte, bis sich durch sie schließlich das blutigumhüllte Köpfchen eines neugeborenen Kindes unter den unterstützenden Händen der jungen Kittelträgerin Zentimeter um Zentimeter seinen Weg ins Freie und damit ins Leben eroberte. Ja, der alte Lukas erinnerte sich noch sehr gut an jenen Moment - als seine Tochter Lisa zur Welt gekommen war. Er war dabei als stolzer werdender Vater keine Sekunde von der Seite seiner Frau gewichen, auch wenn sie ihn in ihren Schmerzen immer wieder angebrüllt hatte, er solle verschwinden, weil sie nicht wolle, daß er sie so sieht. Um nichts in der Welt aber hätte er sich diesen einmalige Ereignis entgehen lassen. So eine Geburt war nunmal etwas Wunderbares, wenn auch in jenem unmittelbaren Verlauf des Geschehens selbst wohl eher nur für den Partner als für die Gebärende und das zur Welt kommende Kind selbst. Nein, auch für das Kind war es zweifellos ein gewaltiger, strapazenreicher Kraftakt, den sicheren Schoß der Mutter zu verlassen. Eine so große, alles von grundauf verändernde Erfahrung hatte gewiß für den Betroffenen selbst am allermeisten etwas zutiefst Furchteinflößendes. Das war bei einer Geburt kaum anders als später im Angesicht des genau entgegengesetzten Prozesses. Kreisten Lukas Gedanken soeben noch um jenes ihm filmreif vorgespiegelte Geschehen im Kreißsaal, so versanken sie nun gleichsam mit seinem Leib in die tiefste Tiefe eigener Todesangst.

Wieder schnappte der elendig zu ertrinken Drohende verzweifelt nach Luft, und wieder atmete er doch nur eine Unmenge Wasser ein. Die Lunge aber war diesmal vom Eintreffen jener Flut körperlich dermaßen überfordert, das Lukas die Sinne gleichsam endgültig vollends zu schwinden drohten. Der wäßrige Film vor seinen, sich schließenden Augen lief mit einem Male schneller und schneller ab, so als würde ihn jemand rasch vorspulen. Er sah sich dabei in der Uniform eines Streifenbeamten, wie er sich im Hinterzimmer einer Gaststätte für Jack Holmes eine Kugel einfing und wie dieser an seinem Krankenbett saß. Er erblickte sein Büro im Yard, sah die Gesichter von Wallace, Freakadelly und Wannabe und an sich vorüberziehen. Er sah sich mit Cathrin und Jane auf der Couch im Napolitanischen Wohnzimmer, wobei beide Frauen nacheinander unter seiner strengen Ansprache in sich zusammensanken, dann im Schlafanzug der kleine Luke erschien und gleich wieder verschwand und er selbst kurz vo seinem Abgang aus jener Szene noch rasch ein Stück zusammengeknülltes Papier in den nicht in Betrieb befindlichen Kamin warf. Ja, immer wieder erblickte er fortan sich, wobei nur noch die ihn umgebenden Schauplätze, sein Alter und seine Kleidung zu wechseln schienen. Einmal verstaute er zwei blutige Schälmesser sorgsam abgewischt im Kofferraum eines Rolce Royce, dann saß er verzweifelt allein mit einer Kopfwunde auf seinem Ehebett. Dann wieder sah er sich mit hochgekrmpelten Ärmeln und dem kleinen Baby Francesca im Arm als stolzer Geburtshelfer, worauf er sich wiederum sogleich im weit aufgehaltenem Regenmantel zu Boden stürzte und dabei noch Charles Wannabe mit sich hinabriß. Einen Moment später kam ihm im Anzug mit Ansteckstrauß ein deutlich zu erkennendes Ja-Wort über die Lippen, dann schunkelte er angeheitert und in Lederhose leicht schwankend mit einem halbleeren Maßkrug Bier in der Hand. Wieder eine Sekunde später explodierte vor seinen Augen ein verlassenes Hochhaus und dann stand er einsam, verlassen und nackt in einem bläulich scheinenden Trümmerfeld. Seine glasigen Augen waren nur noch einen kleinen Spalt weit geöffnet, als ein letztes, abschließendes Bild vor ihnen auftauchte. Es war niemand anders als seine Yelena, die sich da strahlend lächelnd in ihrer ganzen prachtvollen Erscheinung inmitten der ihn umgebenden Wassermassen wolkig umrandet vor ihm aufbaute. Ihre Augen funkelten und ihre Arme waren weit geöffnet. Ja, sie schien ihm sogar entgegenzulaufen, wobei ihre Lippen ein sehnsüchtiges "Ich an anderes Stelle schon warten auf Dich!" zu formen schienen. Lukas aber schloß seine Augen bei diesem überwältigenden Anblick nun ganz. Seine Lippen aber öffneten sich im Gegenzug weit und raunten ein unhörbares "Ja, mein Liebling! Ich komme!" als Antwort. Und während im unentwegt anhaltenden Hinabsinken sein weit offen stehenbliebender Mund vom ihn umschließenden Wasser geflutet wurde, schwanden ihm nun endgültig die Sinne. Finsternis umgab seinen dahinscheidenden Geist, der sich an Bord seines sich zusehends versteifenden Leibes noch ein wenig treiben ließ, bis hin auf jenen tiefen Grund, der seinem Untergang wohl irgendwann in ziemlich naher Zukunft ein jähes Ende setzen würde ...

[Wird fortgesetzt]

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sven1421

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Samstag, 15. September 2012, 14:57

INSPEKTOR SVENSSON: ABSCHIEDSVORSTELLUNG

"Tot oder nicht tot? Das ist hier die Frage!" (Frei nach Hamlet im gleichnamigen Drama aus der Feder von William Shakespeare)

EPISODE 07: Ein Ende kann ein Anfang sein

Tiefste Dunkelheit umgab Lukas auch noch, als er nach ungewisser Zeit seine Augen unerwarteterweise plötzlich wieder aufschlug. Langsam kam er wieder zu sich, und spürte dabei ganz deutlich, daß sein ermatteter Körper nun auf festem Untergrund lag. Auch atmeten seine Nase und seine Lungen statt des von ihm erwarteten Wassers jetzt mit einem Male wieder pure, trockene Luft. Rings um ihn herum aber herrschte tiefste Stille. Lediglich sein Schädel gab ein heftiges Brummen von sich. Svensson aber konnte sich beim besten Willen nicht ausmalen, wo er sich jetzt befand und erst recht nicht, wie er wohl dorthin gekommen sein mochte. An seiner Stirn ertasteten seine Finger im selben Moment eine dicke Beule, wie man sie sich eigentlich nur bei einem Sturz übelster Art zuzuziehen pflegte. Und auch an seinem Oberarm war eine kleine Beule fühlbar, über der wohl eine Art Pflaster klebte und von der permanent ein leichtes Jucken ausging. Während seine seltsam umnebelten Sinne noch krampfhaft versuchten, sich auf all das irgendeinen Reim zu machen, nahmen seine Ohren nun irgendwo in der Nähe mit einem Male nun doch wieder ein leises Rauschen wahr - so wie früher, wenn im Fernsehen nach Sendeschluß nur noch schwarzweißer Schnee über die Mattscheibe flimmerte. Der Ex-Inspektor richtete sich vorsichtig auf und ging in der Finsternis leicht torkelnden Schrittes jenem einsamen Geräusch nach. Dabei stieß er nach nur wenigen Schritten mit seinen nackten Füßen an eine Art sehr solider Grenze, die sich direkt vor ihm auftürmte und ihn damit massiv am Weitergehen hinderte. Er tastete sich langsam an jener mysteriösen Barriere entlang, die zwischen ihm und dem Herkunftsort des wahrgenommenen Rauschens zu stand, und fand dabei eine Art Klinke, welche er sogleich kräftig herunterdrückte. Die zugehörige Tür sprang augenblicklich auf, und hinter ihr empfing ihn nunmehr ein grelles weißes Licht, das ihn blendete. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an die plötzlich so komplett veränderten Lichtverhältnisse. Um ihn herum war es dabei die ganze Zeit lang wohlig warm, feucht und ziemlich neblig. Das zuvor vernommene leise Rauschen aber war hier mit einem Male deutlich lauter und klang jetzt in seinen Ohren beinahe wie ein Art paradiesischer Wasserfall. Mitten im dichten Nebel glaubte er hin und wieder zu seiner Rechten etwas undeutlich eine strahlende Gestalt zu erspähen, die der seinen dem ersten Anschein nach stark ähnelte, nur daß sie ihm aufgrund des ungeheuer faltenreichen Gesichts noch wesentlich älter zu sein schien als er selbst. War er in der Zwischenzeit seit seinem Abtauchen etwa schon im Himmel und damit bereits an seinem endgültigen Ziel angekommen?! Und war der alte Mann zu seiner Rechten dann etwa ER? Nun, wenn ja, dann fehlte Lukas zu seinem vollkommenen Glück jetzt eigentlich nur noch eins ...

Erwartungsvoll gespannt schaute sich Svensson um. Zu seinem Erstaunen entdeckte er dabei links von sich, wo auch das Rauschen herkam, eine Art halbdurchsichtigen Schleier oder Vorhang, hinter dem sich als beweglicher grauer Schatten etwas verschwommen die Silhouette eines Frauenkörpers abzuzeichnen schien. Neugierig zog er den Vorhang mit einem einzigen Ruck beiseite. Dabei aber kam sogleich - für seinen benebelten Blick zugegebenerweise ein wenig unscharf - eine zweifellos ältere Frau zum Vorschein, die ihren nackten Körper von einem, sich von oben her auf sie ergießenden Wasserschwall sanft berieseln ließ und die sich nun für den Bruchteil einer Sekunde erschrak, als sie den ebenfalls unbekleideten Lukas bemerkte. Dann aber fing sie sich rasch wieder, winkte ihm zu und hauchte dabei zart: "Gutes Morgen!" ...

[Wird - glücklicherweise immer noch - fortgesetzt]

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