Episode 6: Weibliche Diplomatie
Im Rückspiegel von Tims Wagen verschwand in zügigem Tempo das Bahnhofshofgebäude der Londoner Victoria Station und mit ihm auch der winkende Derrik Crawler, den das Svensson Team wie zuvor besprochen dort zum Fahrticketkauf abgesetzt hatte. Timmy versuchte am Steuer krampfhaft, sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren, doch durch seine Gedanken spukte immer wieder die merkwürdige Wandlung Derrik Crawlers. Nicht nur, daß er dem sonst stets verachteten Svensson plötzlich völlig selbstlos half. Nein, eben gerade hatte er sich sogar Tims Handy ausgeliehen, um seine Freundin zu benachrichtigen, damit sie sich keine Sorgen machte. Und dabei wußte Tim bis dato noch nicht einmal, daß dieser Wurm überhaupt eine Freundin hatte. Er hatte immer angenommen, Crawlers einzige Freundin sei so ein aufgeblasenes Püppchen, außen Gummihülle und innen wie er - nur heiße Luft. Vielleicht stimmte das mit der Gummihülle ja sogar, so ein Geheimnis, wie dieser arrogante Knochen bis dato um seine bessere Hälfte gemacht hatte - und sie war eine von diesen Ruf-Mich-An-Ladies, die nachts mit strenger Miene durchs Werbefernsehen der Privatsender geisterten. Nun, wie dem auch sei, wenn es jedenfalls eine richtige Frau gab, die es mit diesem Schnösel aushielt, dann hatte sein Freund Lukas Svensson ja vielleicht Recht mit seiner These, daß in fast jedem noch so unliebsamen Zeitgenossen irgendwo ein liebenswerter Kern steckt.
Timmy trat das Gaspedal noch einmal ordentlich durch und steuerte auf der regennassen Straße das nächste Ziel ihrer nächtlichen Reiseroute an. Und das, obwohl er mit der Adresse, welche ihm der Ex-Inspektor soeben genannt hatte, so gar nichts anfangen konnte. Kensington Palace Gardens, Nummer 16?! Was bitteschön hatte denn diese Anschrift mit ihrem Vorhaben zu tun? Er wollte schon bei Svensson nachfragen, doch der schien momentan irgendwie beschäftigt. Es sah so aus, als dächte er nach, und Timmy als sein Freund wußte, daß man ihn dabei möglichst nicht stören sollte. Lukas schaute gedankenversunken aus dem Fenster auf die - in rasantem Tempo vorbeiziehende - langsam erwachende Londoner City. Obwohl: Konnte man da eigentlich überhaupt von einem Erwachen sprechen. War London nicht inzwischen längst eine dieser Metropolen wie New York, über die Sinatra ja sang, daß sie niemals schläft. Nein, wenn man sich genau umsah, entdeckte man rasch, daß sie nicht schlief, sondern überall mit ihren vielen bunten Schaufensteraugen blinzelte. Die ersten Weihnachtsdekos funkelten in den Auslagen diverser Geschäfte - kein Wunder, war es ja auch schon fast September. Ende Dezember hatten sich die Leute dann längst an der Weihnachtsbesinnlichkeit mehr als sattgesehen, so daß an den Feiertagen selbst gar keine rechte Feststimmung mehr aufkommen wollte. Ja, so war das, hier in London und der restlichen zivilisierten Welt - seit langem schon und alle Jahre wieder. Schon merkwürdig: Jetzt wo er so über das Fest der Liebe nachdachte, kam es ihm vor, als sei es erst wenige Stunden her, daß er das letzte Mal ausgelassen Weihnachten gefeiert hatte, obwohl die letzte Weihnacht dem Kalender nach doch schon zehn ganze Monate zurücklag.
Auch der Heiligabend 2008 kehrte noch einmal in Lukas' Gedächtnis zurück. Er hatte ihn im Scheine eines bunt geschmückten Lichterbaumes mit seiner Yelena bei selbstgemachtem Kakao mit einer Prise Zimt und dem traditionellen Weihnachtsstollen von Onkel Fritz aus dem fernen Deutschland verbracht. Punkt 18 Uhr hatten sie sich beim letzten Glockenschlag Big Bens zu den Klängen von "Stille Nacht" gegenseitig beschert. Lukas hatte einen langen selbstgestrickten Wollschal in blau, weiß und rot bekommen. Und Yelena fand in ihrem Päckchen zu ihrer Überraschung nur eine alte, gebrauchte Videokassette, auf derem abgenutztem Cover neben dem Filmtitel "Ist das Leben nicht schön?" noch mit blauem Filzstift der Vermerk "Liebste Yeli! Bitte sofort und bis zuende ansehen!!!" angebracht war. Man konnte ihr ihre Enttäuschung gut ansehen, auch wenn sie sichtlich bemüht war, diese zu verbergen, während sie jener handgeschriebenen Anweisung folgte. Die kommenden zwei Stunden hatten die beiden Liebenden stumm auf die Mattscheibe gestarrt, wo James Stewart als George Bailey der Frage nachging, was gewesen wäre, wenn er nie das Licht der Welt erblickt hätte. Nur hin und wieder hatten sich die Lukas und Yelena dabei gegenseitig Taschentücher aus einer auf dem Tisch vor ihnen bereitstehenden Pappbox gereicht, um die Spuren zu beseitigen von dem einen oder anderen vergossenen Tränchen der Rührung. Als schließlich auf dem Bildschirm der Schriftzug "The End" aufflimmerte, wollte Yelena schon aufstehen und den Rekorder ausschalten, aber Lukas hielt sie kopfschüttelnd am Arm zurück. Yelena setzte sich wieder zu ihrem Lukas, dessen Gesicht schon wenige Sekunden später auch auf dem Bildschirm erschien. Der Lukas im Fernseher trug einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Schlips und sprach mit glänzenden Augen und feierlicher Stimme: "Das Ende? Nein, liebste Yelena, das ist nicht das Ende! Das ist erst der Anfang für uns Zwei. Es ist jetzt genau drei Jahre, vier Monate und vier Tage her, daß wir zum ersten Mal eine gemeinsame Nacht verbrachten. Und seit mehr als zwei Jahren leben wir nun schon fest zusammen in unserer Wohnung, die Du mir längst zu einem Zuhause hast werden lassen. Ein Heim, in dessen Schoß ich Abend für Abend gern zurückkehre. In meinem Universum dreht sich alles um Dich. Du bist meine Sonne, mein Stern und mein Leben. Ich liebe Dich, Yelena! Und alles, was da sonst noch zu sagen wäre, überlasse ich dem jungen Mann zu Deinen Füßen! Bitteschön, Lukas!". Das Videobild wackelte ein wenig, dann hörte man im Hintergrund zwei leise Männerstimmen, von denen die eine, welche zweifellos Lukas gehörte, flüsterte: "Na klar hab ich die Videoaufnahme am Rekorder ausgestellt, Timmy! Ich bin zwar ganz sicher nicht die hellste Leuchte am Mediamarkt, aber ich bin doch nicht blöd!". Im Bildausschnitt der aufnehmenden Videokamera erschien für einen Augenblick das Gesicht von Lukas' Schützling Tim Hackerman, der schmunzelnd den Kopf schüttelte, wobei er leise ins Mikrofon hauchte: "Nein, Sir, das wollte ich damit auch gar nicht gesagt haben, Ihre Fähigkeiten liegen halt nur auf ganz anderen Gebieten". Dann bewegte sich sein Zeigefinger seitlich an der Kameralinse vorbei, wo noch ein kurzes Klickgeräusch das Drücken eines Knopfes verriet, bevor auf dem Bildchirm augenblicklich anhaltendes graues Schneegestöber einkehrte. Yelena schmunzelte. Der Lukas auf dem Sofa neben ihr hatte von dem kleinen Fauxpas seines videotechnischen Alter Ego gar nichts mitbekommen, da er mit dem ganzen Oberkörper über die Sofalehne gebeugt verzweifelt irgendetwas zu suchen schien. Mit einem befreienden "Ah" auf den Lippen meldete sich seine obere Körperhälfte schließlich wieder aus der selbstgewählten Versenkung zurück. Der Inspektor kniete vor seiner Yelena nieder und hielt dabei in seinen zitternden Händen eine einzelne rote Rose. Und mit eben so zittriger Stimme fragte er nun seine Angebetete: "Liebste Yelena! Willst Du seine, also Lukas', ich meine meine Frau werden?". Statt einer Antwort warf sich Yelena ihrem Lukas einfach um den Hals und rief überglücklich: "Ja, ja, ja! Ein dreifach Ja, will ich! Und wie ich wollen das! Oh, Lukas, Liebster! Moij Zladik, mein Süßer! Yelena wollen Deine Zladkaja Svenssonskaja werden! Ich Dich lieben sooo sehr!". Und ihre Arme malten dabei ein riesengroßes Herz in die Luft. Ja, so war das damals gewesen, vor knapp zehn Monaten. Und jetzt, jetzt war sie weg - verschwunden, vermutlich entführt und verschleppt, und das von ihrem Ex-Mann, von dem sie Lukas noch nie etwas erzählt hatte. Und er, der zukünftige Mann an ihrer Seite, mußte sie erst suchen, finden und unter Umständen sogar befreien, wenn sie überhaupt jemals seine Braut werden sollte.
In diesem Augenblick riß ihn ein aufgeregtes Rütteln an seiner Schulter aus seinen Gedanken. Es war Timmy, der es nun - am Fahrziel angelangt - doch für angebracht hielt, seinen Fahrgast aus dessen Erinnerungen rasch in die Realität zurückzuholen. Lukas blickte aus dem Fenster auf hohes gußeisernes Tor, hinter dessen breiten Gitterstäben sich ein riesiges, schloßähnliches Gebäude erhob. Jenes große weiße Haus, wurde an den beiden dem Tor zugewandten Seiten von - am zwei Boden eingelassenen - farbigen Scheinwerfern beleuchtet, die das majestätische Gebäude zu dieser nächtlichen Stunde in einem merkwürdigen Zwielicht erstrahlen ließen. Svensson bat seinen Schützling, im Wagen auf ihn zu warten, während er selbst mit gezücktem Personalausweis dem Auto entstieg und auf das gußeiserne Tor zuging, hinter welchem ein Soldat mit vorgehaltenem Maschinengewehr patroillierte. Der Posten, welches schon das Eintreffen des Volkswagens mit kritischem Blick beäugt hatte, erblickte den Mann im Trenchcoat und fragte ihn mit leichtem russischen Akzent nach dem Anliegen seines nächtlichen Besuchs. Der Angesprochene aber erwiderte: "Mein Name ist Svensson, Lukas Svensson. Und ich möchte gern die Botschaftsangestellte Nina Svensson sprechen". Das prüfende Auge des bewaffneten Uniformierten kontrollierte das ihm dabei von der Hand des Ex-Inspektors entgegengehaltene Paßdokument eingehend, dann nahm der Mann sein Funkgerät zur Hand und leitete in russischer Sprache die Anfrage weiter. In ebenso lupenreinem Russisch kam auch prompt die Antwort zurück, worauf der Posten den Kopf schüttelte und recht nüchtern erwiderte: "Nina Svensson, haben wir hier nicht". Auch Lukas schüttelte nun den Kopf und raunte: "Was soll denn der Blödsinn? Ok, dann versuchen Sie es doch bitte noch einmal mit dem Namen Nina Simowa". Dem Posten paßte dieses kleine Namensspiel offensichtlich ganz und gar nicht, dennoch prustete er grimmig auch diesen Namen in sein Funkgerät. Diesmal fiel die Beantwortung der Anfrage deutlich positiver aus. Der Uniformierte nickte und sprach: "Bitte warten Sie, die gewünschte Person wird informiert und kommt dann hier zu Ihnen!".
Es dauerte ein paar Minuten, bis jene gewünschte Person schlaftrunken mit einem übergeworfenen Morgenmantel und Pantoffeln an den Füßen von einem kleinen Nebengebäude her auf das Tor zuschlurfte. Sie blinzelte bei ihrem Eintreffen dem Ex-Inspektor entgegen, dann murmelte sie: "Du? Was um alles in der Welt treibt Dich denn um diese nachtschlafende Zeit hierher? Es ist doch nichts mit Lisa, oder?!". Lukas schüttelte den Kopf: "Nein, mit unserer Lisa ist nichts. Aber vielleicht können wir mein Anliegen ja auch in Ihrer Wohnung bei einem schönen warmen Gläschen Schwarztee mit Milch besprechen, so wie früher, Fräulein Simowa". Die leichtbekleidete Frau trat ein wenig näher an die Gitterstäbe heran und flüsterte: "Psst, nicht so laut! Das mit dem Namen hat nichts mit Dir zu tun. Es macht sich eben für eine Botschaftsangestellte der Russischen Föderation einfach besser, wenn sie auch einen russisch klingenden Namen trägt. Und damit ich hier vor dem Posten nicht noch mehr in Erklärungsnotstand gerate, laß uns Deinen Vorschlag aufgreifen und drin weiterreden, alter Erpresser". Damit trat sie wieder ein wenig vom Tor zurück und redete auf den uniformierten Wachmann ein. Dieser nickte mehrfach und öffnete dann das Tor einen Spalt weit, so daß Lukas Svensson eintreten konnte. Nachdem er dem Posten seinen Ausweis als Pfand ausgehändigt hatte, bewegte er sich mit der Pantoffelheldin Nina Simowa an seiner Seite zügig in Richtung ihres Wohnhauses, in welchem die Beiden Sekunden später aus Timmys Blick entschwanden.
Lukas nahm ohen Umschweife auf dem roten Sofa im Wohnzimmer der luxuriösen Behausung seiner etwas unfreiwilligen Gastgeberin Platz: "Schön hast Du es hier, ist schon was anderes als unsere kleine gemeinsame Zweieinhalbzimmerwohnung damals, als wir Zwei noch Misses und Mister Svensson waren. Aber ich will nicht lang drumherum reden. Was mich zu Dir führt, ist eine ernste Angelegenheit ...". Nina, die bis dato mitten im Zimmer stand, machte sich auf den Weg in die Küche, während sie sprach: "Ich hab das Gefühl, Du nutzt es ziemlich schamlos aus, daß unser Umgang miteinander seit unserer - von meiner Seite her etwas unfreiwilligen - Begegnung beim Konzertauftritt unserer Tochter vor zwei Monaten wieder ein wenig normaler geworden ist, oder?!". Lukas verdrehte den Kopf und rief ihr im Gehen nach: "Nun, ja! Lisa hatte eben das Gefühl, daß 16 Jahre des Schweigens genug seien für ihre Eltern. Und ich finde, damit hatte sie absolut recht, oder?!". Svenssons Exfrau, die inzwischen in der Küche verschwunden war, lugte noch einmal um die Ecke: "Bevor Du jetzt weiterredest, hab ich da mal zur Abwechslung noch eine Frage! Möchtest Du Deinen Tee wie früher mit ...". Lukas, der die Bemerkung über das schamlose Ausnutzen wohlwollend überhörte, nickte: "Ja, mit zwei Stückchen Zucker und einem großen Schuß Milch. Das Ganze bitte gerührt und nicht geschüttelt, wenns geht". Nina schmunzelte: "Immer noch derselbe alte Kindskopf. Manche Dinge ändern sich eben nie! Also gut, wie Sie wünschen, Mister Bond!" Svensson lehnte sich im weichen Leder des Sofas zurück und hielt ihr lächelnd den drohenden Zeigefinger entgegen: "Also, das mit dem Kindskopf laß ich mir ja gefallen, aber das alt verbiete ich mir, wenns recht ist. Ich bin ein Mann in den besten Jahren, den Anfangsjahren des Rentenalters nämlich". Nina trat inzwischen aus der Küche mit einem Tablett mit zwei Tassen dampfend heißen Tees zurück, welche sie auf dem kleinen Glastisch vor dem Sofa aufstellte. Dann nahm sie auf einem der danebenstehenden Ledersessel Platz und fragte: "So, Spaß beiseite, Du Senior, Du! Was ist nun der Zweck Deines nächtlichen Überfalls?". Zu ihrer Überraschung schwieg ihr sonst so redseliger Exmann und starrte entgeistert auf die flimmernden Bilder, die dem vorm Glastisch in einer Schrankwand stehenden Fernsehgerät entströmten. Langsam deutete der eben noch drohende Zeigefinger seiner linken Hand auf das Fernsehbild, während Lukas aufgeregt stotterte: "Das ... das ... ist ... ist er ... der Grund! Mach bitte mal den Ton lauter, ja?!". Nina tat entgeistert wie ihr geheißen, und schon Sekunden später drang eine männliche Stimme aus dem Lautsprecher des TV Gerätes: "Wie soeben bekannt wurde, haben Mitglieder der terroristischen Vereinigung 'Nowoij Djehn' ein Flugzeug der Gesellschaft Scotish Travel mit 120 Passagieren in ihre Gewalt gebracht. Wie die mehrköpfige Gruppe trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen überhaupt in den Flieger gelangen konnte, ist noch völlig unklar. Bekannt ist hingegen, daß sie an Bord unter Anwendung von Schußwaffen die Crew überwältigte und die Besatzung wie auch die Passagiere als Geiseln nahm. Der ursprüngliche Kurs in Richtung Paris wurde von den Entführern geändert, so daß sich die Maschine momentan nach Osten bewegt. Wie uns ein Sprecher der britischen Antiterroreinheit CI7 soeben mitteilte, hat der Anführer der Terroristen bereits Kontakt aufgenommen und fordert neben einer Million Pfund Lösegeld auch die sofortige Freilassung sowie das Ausfliegen sämtlicher bereits inhaftierter Mitstreiter nach Rußland. Wir halten Sie über die weitere Entwicklung des Geiseldramas auf dem Laufenden und unterbrechen, sobald sich Neuigkeiten ergeben, unser laufendes Programm. Tom Headline für Newsflash TV".
Nina schaltete den Fernsehton auf stumm. Lukas aber senkte den Blick und ließ dabei auch seinen bleischwer werdenden Körper immer tiefer ins Leder des Sofas sinken, während er schluchzte: "Mein Gott, Nina! Sie ist an Bord dieser Maschine. Yelena! Wahrscheinlich gekidnappt von diesem Terrorpack. Und niemand kann mir helfen, sie da sicher wieder herauszubringen. Hast Du die Forderungen gehört. Das Königreich und die gesamte frei Welt würden für immer das Gesicht verlieren, wenn sie sich darauf einließen. Nein, die werden Wannabe und Co nach Moskau entsenden und die machen dann über kurz oder lang kurzen Prozeß mit den Entführern. Und selbst wenn nicht, dann werden die Terroristen nach und nach alle Geiseln töten. So oder so ist meine zukünftige Frau dann schon so gut wie tot. Aber das kann und werde ich nicht zulassen, verstehst Du?!". Lukas Fäuste ballten sich, während seine wutentbrannten Augen starr geradeaus schauten. Sein Körper aber bäumte sich dabei kämpferisch aus der Versunkung des weichen Sofaleders auf. Nina erschrak bei dem Anblick ihres Ex-Manns, den sie noch nie im Leben so zornig und entschlossen gesehen hatte. Tief luftholend erwiderte sie schließlich: "Ja, das verstehe ich schon, Lukas. Was ich nicht verstehe, ist: Wie soll ich Dir in dieser Situation helfen?". Lukas Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig wieder, und flehend ergriff er Ninas Hand: "Ich weiß, es ist viel verlangt, aber es ist meine einzige Hoffnung. Nina, Du als Leiterin der Abteilung Paßwesen und Visaerteilung hier in der Londoner Botschaft des Heimatlandes mußt mir die nötigen Papiere besorgen, damit ich und meine zwei Begleiter nach Rußland einreisen können. Hier auf dem Zettel stehen alle erforderlichen Daten von uns Dreien und das sind unsere Reisepässe". Damit griff er in seine Manteltasche und überreichte mit zittriger Hand seiner Ex-Frau die genannten Papiere.
Nina blickte stumm auf die Pässe und den Zettel in ihrer Hand, dann schüttelte sie den Kopf: "Lukas, was Du da von mir verlangst, das ist illegal. Eine schwere Straftat ist das. Das kann ich nicht, so leid es mit tut!". Lukas aber blickte ihr, während er weiter fest an ihr zartes Händchen umklammerte, tief in die Augen: "Nina, Du mußt es tun! Erinnerst Du Dich noch, wie ich Dir beigestanden hab, als es damals um Deine Ausweisung nach Rußland ging. Damals stand alles für Dich auf Messers Schneide. Ohne mich wärst Du heute längst wieder zurück in den unendlichen Weiten Deines Heimatreichs. Und nur der Himmel weiß, wie grausam das Leben dort dann vielleicht mit Dir umspringen würde. Ich hab Dir damals ohne Wenn und Aber geholfen und nie eine Gegenleistung von Dir eingefordert. Aber heute, hier und jetzt tue ich es! Ich fordere Dich auf, mir zu helfen. Bei allem, was mir lieb und teuer ist: Hilf mir! Ich bitte Dich!". Wieder sank Lukas vor einer Frau auf die Knie, doch diesmal hielt er keine rote Rose in der Hand. Es war auch kein Heiratsantrag, wegen dem er die vor ihm Sitzende hier bekniete. Und dennoch hoffte und bangte er hier eben so zitternd auf ein einziges Ja-Wort der Angeflehten. Doch das befreiende Ja blieb aus. Was von Ninas Seite kam, war vielmehr ein stummes Nicken. Es war ihre diplomatische Art, Ja zu sagen, ohne später dafür belangt werden zu können. Dann erhob sie sich von ihrem Sessel und zog auch ihren Ex-Mann aus seiner unterwürfigen Haltung heraus zu sich nach oben. Dabei flüsterte sie: "Komm, ich zeig Dir jetzt noch rasch mein Arbeitszimmer, bevor Du wieder gehst!".
Sie zog das immer noch schluchzende Häufchen Elend mit sich durch den langen Korridor in einen der Nebenräume. Dort knipste sie auf dem Schreibtisch das Licht an, ließ ihren PC hochfahren und hämmerte dann nach und nach all die Daten von dem ihr zuvor überreichten Notizzettel in die Tastatur. Dreimal drückte sie während dieses Prozesses auch die Druckertaste, worauf sich das dadurch angewählte Gerät jeweils leise surrend in Bewegung setzte und eine Art bunte Visadokumentenfolie mit den entsprechenden Angaben bedruckte und somit vervollständigte. Nina entnahm dem Drucker die fertigen Folien, zog sie vorsichtig vom papiernen Untergrund ab und klebte sie in die Reisepässe von Lukas & Co ein, wobei sie - ohne den Blick zu erheben - murmelte: "Das hier wären nun die nach Deinen Angaben angefertigten Visadokumente, die ich erstmal in Eure Reisepässe einkleben müßte, gesetzt dem Fall, es würde bei dem Ganzen hier alles mit rechten Dingen zugehen". Dann öffnete eine der Schubladen, aus der sie umgehend einen Stempel hervorholte. Und abermals sprach sie leise: "So, un das hier ist unser Visastempel, weißt Du?! Angenommen, ich würde Dir helfen, was ich - wie gesagt - nicht tun kann, dann würde ich die drei Pässe mit den frisch eingeklebten Visa nehmen und sie so abstempeln!". Mit diesen Worten öffnete sie nacheinander nochmals jedes der drei überreichten Reisedokumente und drückte ihnen auf der soeben beklebten Seite ihren Stempel auf. Mit einem Kugelschreiber kritzelte sie zusätzlich ihre Unterschrift und das aktuelle Datum in die entstehenden stempelfarbenen Kästchen. Dann öffnete sie ein anderes Schubfach und zog zwei Formulare in jeweils dreifacher Ausführung heraus. Über dem einen stand in russischer und englischer Sprache Touristenbescheinigung, über dem anderen Einreisebescheinigung. Wieder flüsterte Nina: "Diese beiden notwendigen Einladungsdokumente würde ich Dir ausfüllen, wenn ich Dir denn helfen könnte. Und Du müßtest Sie dann zusammen mit den Visa bei Aufforderung vorzeigen". Dabei nahm sie den ihr von Lukas zuvor übergebenen Notizzettel zur Hand und übertrug gewissenhaft alle Daten auf die von einem russischen Fünfsternehotel für den internen Botschaftsgebrauch blanko ausgestellten Dokumente. Nach getaner Arbeit schloß sie die beiden Schubladen wieder, löschte das Licht und übergab ihrem staunenden Ex-Mann die gesamten Papiere seufzend mit den Worten: "Zu schade, daß mir die Hände gebunden sind und ich Dir deshalb nicht helfen kann".
Lukas benötigte ein paar Sekunden, um das eben Erlebte zu verdauen. Dann aber schüttelte er Nina gerührt die Hand und sprach: "Trotzdem danke! Und grüßen Sie unseren kleinen Engel von mir, Fräulein Simowa". Dann machte er auf dem Hacken kehrt und lief aus der Haustür heraus in Richtung des Eingangstores. Nina, die ihm dabei folgte, aber raunte leise: "Ja, Du verrückter Kerl, das mach ich! Dir und Deinen Begleitern viel Glück auf Eurer Reise! Paß auf Dich auf, ja?! Und was den Namen angeht, so heißt es ab heute auch wieder offiziell: Misses Nina Svensson, geborene Simowa". Auf ihre Bitte hin gab der Wachposten dem Ex-Inspektor seinen Paß zurück und ließ ihn passieren. Svensson aber nahm umgehend wieder den Platz des Beifahrers im Auto von Tim Hackerman ein. Und zu seinem Schützling gewandt, sprach er erleichtert: "In der Botschaft konnte mir erwartungsgemäß niemand helfen. Und nun aber ab zur Victoria-Station, wo Mister Crawler mit drei gelösten Fahrkarten sicher schon sehnsüchtigst auf uns wartet". Timmy verstand bei diesen Worten Svenssons nur Bahnhof. Und zu eben diesem lenkte er nun seinen Volkswagen ...
[Wird fortgesetzt]
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